Andrea Smorti: Telling to Understand
Rezensiert von Elisabeth Vanderheiden, 05.05.2022

Andrea Smorti: Telling to Understand. The Impact of Narrative on Autobiographical Memory. Springer International Publishing AG (Cham/Heidelberg/New York/Dordrecht/London) 2020. ISBN 978-3-030-43161-7.
Thema
Smorti untersucht das Problem der „Stimme“ (Narrative) in den Beziehungen zwischen Erinnerung und Erzählung. Dabei situiert er Fragen rund um das Erzählen in einem breiteren wissenschaftlich-kulturellen Kontext und bietet in seiner Publikation ein Verständnis der Erzähltheorie und des autobiografischen Selbst für das digitale Zeitalter an. In seinem Buch geht Smorti davon aus, dass Menschen sich selbst und andere erst dann verstehen können, wenn sie nicht nur von sich selbst und anderen erzählen können, sondern auch über sich selbst und andere erzählen können: „Menschen müssen ständig Geschichten erfinden und erzählen, um sowohl ihre eigenen als auch die Ereignisse anderer zu verstehen“ (13).
Autor
Andrea Smorti ist Psychologe und Universitätsprofessor für Entwicklungspsychologie an der Fakultät für Psychologie der Universität Florenz. Als Kulturpsychologe hat er in den letzten drei Jahrzehnten das Problem des autobiografischen Erzählens in verschiedenen persönlichen und sozialen Kontexten untersucht, insbesondere im Hinblick auf Schmerz- und Krankheitserfahrungen (Verlagsangaben).
Aufbau
Smorti strukturiert seine Publikation in zwei Teile, die sich an die Einführung anschließen und mit Schlussfolgerungen enden.
Teil 1 analysiert das narrative Verständnis des Selbst und setzt dabei sechs Akzente:
- Autobiographische Erinnerung
- Von autobiographischer Erinnerung zum autobiographischen Narrativ
- Autobiographische Narrative
- Der narrative Dialog
- Vom Spiel zum Narrativ
- Das spielerische Narrativ
Teil 2 rückt das narrative Verstehen Anderer in den Fokus:
- Zählen und Nachzählen
- Mensch mit großem Einfallsreichtum
- Narration und Fuzzy-Logik
Inhalt
Smorti versteht Narrationen als „eine außergewöhnliche menschliche Eigenschaft, gerade weil ihre Variabilität und Flexibilität außergewöhnlich sind“ (2). Sie kann jeder Art von Absurdität einen Sinn geben, denn durch Narrationen sind Menschen in der Lage, einen Rahmen zu konstruieren, der all diese „Absurditäten“ innerhalb einer bestimmten Welt plausibel macht. Mit ihrer Hilfe wird es Menschen möglich, sich selbst zu verstehen: Das kann so weit gehen, „dass das Leben nicht das ist, was man gelebt hat, sondern das, woran man sich erinnert und wie man sich erinnert, um es zu erzählen“ (3). Smorti geht aus von einer Allgegenwärtigkeit von Narrationen im Sinne einer Vielzahl von narrativen Vorbildern. Sie können dazu beitragen, Kontinuität aufzubauen, um menschliche und vielleicht sogar physikalische Ereignisse zu verstehen. Narrationen helfen, Gedanken zu organisieren und zu verknüpfen.
Gerade in biographischen Kontexten – so der Autor – scheinen sie notwendig zu sein, um zumindest vorübergehend einen Sinn für das zu finden, was als nicht stimmig empfunden wird. Dies führt der Autor darauf zurück, dass Mensch wenig Toleranz gegenüber unbefriedigenden Erklärungen zu haben scheinen: „Wenn die Rekonstruktion von Ereignissen widersprüchlich und unvollständig ist, hat er das Bedürfnis, die Fehler zu reparieren und eine plausiblere Antwort zu geben“ (6). Smorti erkennt hier ein Bedürfnis nach Kontinuität, Verkettung und Kohärenz (7). Auch können mit ihrer Hilfe Metaphern für die Konstruktion wissenschaftlicher Modelle und Theorien generiert werden (7).
Smorti setzt sich auch mit kritischen Perspektiven zu Narrativen auseinander. So nimmt er beispielsweise auf Stawsons Ansatz Bezug, der betont, dass die Vorstellung eines narrativen Zusammenhangs mit der Schwierigkeit kollidiert, in vielen Fällen einen roten Faden zu finden, und mit der Tatsache, dass es im Leben eines Menschen echte Brüche gibt, die sich nur schwer über Narrationen verbinden lassen. Oder auch Nassim Nicholas Talebs These, dass unvorhersehbare Ereignisse oder „schwarze Schwäne“, nach der Menschen auf der Basis der Kenntnisse und Erfahrungen aus der Vergangenheit zu Vorhersagen über die Zukunft kommen. Dabei gelingt es ihnen in der Regel aber nicht, andere Klasse von Ereignissen zu berücksichtigen, die aus einer anderen Welt als der ersten stammt und die Taleb als extremistisch bezeichnet. Narrationen können also eine Gefahr darstellen, weil sie einfache, beruhigende und letztlich illusorische Antworten geben.
Smorti hingegen erachtet Erzählungen als „unentbehrliche Werkzeuge, nicht nur um zu informieren oder zu kommunizieren, sondern auch, um uns selbst und andere zu verstehen. Ich behaupte, dass menschliche Ereignisse ohne das Erzählen von Geschichten nicht verstanden werden können und dass narratives Verstehen, um das es in diesem Band geht, sowohl in der zwischenmenschlichen Kommunikation als auch in anderen Situationen vorkommt, z.B. beim Erinnern, beim Formulieren von Hypothesen über die Realität, beim Erfinden von Geschichten und beim Lesen oder Schreiben von Texten. Ich behaupte auch, dass narratives Verstehen besonders effektiv ist, wenn es um das Problem des Unerwarteten geht, um das, was von einer Norm abweicht, und dass es letztlich die Instrumente besitzt, um die Variabilität der sozialen Realität zu organisieren“ (9).
Was das Verstehen dieser Narrationen betrifft, weist der Autor hat zwei Seiten hin. Einerseits geht es um die Person als erzählender Person. Wenn ein Mensch die eigene Geschichten erzählt, führt das unter bestimmten Bedingungen dazu, dass sie erst dadurch verstanden wird, erst dadurch ein Reflektionsprozess über das eigene Leben initiiert werden und neue Bedeutungen erschlossen werden können. Das Erzählen wird so zu einer Gelegenheit, über sich selbst nachzudenken. Die zweite Seite betrifft die Person als Empfänger*in der Narrationen einer anderen Person. Durch das Zuhören oder Lesen der Narrationen anderer, eröffnet sich ein Weg, der hilft, sich ihr Denken zu erschließen.
Im ersten Teil seines Buches widmet sich Smorti hauptsächlich der Untersuchung der ersten Seite der Erzählung. Er identifiziert zwei verschiedene Ursprünge für diese Art des Verstehens identifiziert: das Gedächtnis und das Spiel. Die Erzählungen, die Menschen aus dem autobiografischen Gedächtnis heraus produzieren, sollen den Ereignissen, die in der Vergangenheit stattgefunden haben, Ordnung und Bedeutung verleihen. Sie sind daher eher daran interessiert, sich an die Realität zu halten, selbst bei allen Rekonstruktionen, die sich daraus ergeben, dass diese Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart erinnert wird. Die Erzählungen, die wir aus einer spielerischen Dimension heraus produzieren, werden dagegen hauptsächlich nach ästhetischen Methoden aufgebaut und unterscheiden sich von der ersten Kategorie in ihrer geringeren Notwendigkeit, sich an die Realität zu halten. Durch sie wird jedoch eine zweite Realität geschaffen, d.h. eine mögliche Welt, die nützlich ist, um zu verstehen, was passiert ist, gerade passiert oder passieren wird.
In beiden Fällen besteht einer der Vorzüge von Erzählungen darin, dass sie Anomalien beheben und Brüche schließen können. So betont der Autor, dass es Menschen mithilfe von Geschichten gelingen kann, diese Ungereimtheiten zu beheben, indem sie eine plausible Erklärung konstruieren. Erzählendes Verstehen bringt also eine gewisse Ordnung in das, was in der eigenen Lebensgeschichte chaotisch oder anomal erscheinen mag. Dabei ist zu beachten, dass eine Geschichte über eine Erinnerung zu erzählen mehr bedeutet als sich einfach nur an sie zu erinnern. Eine Geschichte zu erzählen impliziert, sie in eine Sprache zu verwandeln, die an jemanden gerichtet ist. Wenn der/die Erzähler*in erzählt, ist er/sie gezwungen, Hindernisse zu überwinden, die mit dem Übergang vom Gedanken zur Sprache verbunden sind, z.B. die richtigen Worte oder Metaphern zu finden. Dies beeinflusst das Bewusstsein, denn die Sprache ist eine echte Metamorphose des Gedankens und verändert auch die Erinnerung: „Nachdem sie erinnert wurde, ist die Erinnerung nicht mehr dieselbe: Das Grübeln über eine Erinnerung macht sie zu etwas anderem“ (238).
Im zweiten Teil der Publikation rückt Smorti die Untersuchung des Erzählverständnisses als Verständnis des Anderen in den Fokus seiner Erörterungen. Hier untersucht er verschiedene Aspekte der Interpretation, die der Erzähler oder die Erzählerin aus dem von ihm oder ihr produzierten Text macht. Effektives Verstehen einer Narration ergibt sich daraus, dass verschiedene Interpretationsansätze und kognitive Prozesse koordiniert werden, und zwar indem sowohl automatische als auch reflektierende, langsame und schnelle, die die Aktivitäten beider Gehirnhälften integrieren und spezifische Ressourcen aus bestehenden Geschichten genutzt werden. Auf diese Weise wird das Verstehen von Erzählungen zu einem grundlegend integrativen Prozess, d.h. zu einem Prozess, bei dem die verschiedenen Ressourcen des Gehirns miteinander kooperieren.
Smorti betont, dass das Einbeziehen des Spiels in die Narrationen, den Geschichten und Erinnerungen mehr Tiefe verleihen wird und neue Möglichkeiten entstehen, vergangenen Erlebnissen Bedeutungen zuzuweisen.
Abschließend erörtert Smorti beide Dimensionen gemeinsam und zeigt Querverbindungen und Interdependenzen auf. So fordert er u.a. die Achtung der Narrationen als unabdingbare Voraussetzung für eine wirksame Auslegung ein. Aber dieser Respekt ist nicht nur eine Grundvoraussetzung (der/die andere hat das Recht zu sprechen, der/die andere muss gehört werden, das, was er/sie sagt, darf nicht zensiert oder in irgendeiner Weise verstümmelt werden usw.).
Diskussion
Smorti hat ein informatives und kenntnisreiches Buch vorgelegt, dass seine Theorie der Bedeutung von Narrationen ausführlich beschreibt. Es bereichert diese immer wieder mit illustrativen historischen, literarischen Beispielen oder Episoden aus dem täglichen Leben. Er bezieht auch kritische Perspektiven mit ein und legt ein Modell vor, wie die Auseinandersetzung mit eignen Narrationen und denen anderer gelingen kann.
Fazit
Einer der Leitfäden, die sich durch dieses Buch ziehen, ist Smortis Annahme, dass Menschen die Tendenz eigen ist, Brüche und Anomalien, die erlebt oder beobachtet werden, zu erklären. Das narrative Verstehen wird aktiviert, wenn Menschen Erfahrungen interpretieren müssen oder wollen, deren Sinn sich nicht selbstverständlich und die Elemente der Inkongruenz aufweisen. Narratives Verstehen verbindet so Konstanz und Variabilität miteinander. Beides ist erkennbar bei kognitiven Prozessen, beim Lernen, beim Verstehen sozialer Erfahrungen, beim Spielen, bei der ästhetischen Wertschätzung und bei der Entdeckung. Smorti ist ein inspirierendes und informatives Buch gelungen.
Rezension von
Elisabeth Vanderheiden
Pädagogin, Germanistin, Mediatorin; Geschäftsführerin der Katholischen Erwachsenenbildung Rheinland-Pfalz, Leitung zahlreicher Projekte im Kontext von beruflicher Qualifizierung, allgemeiner und politischer Bildung; Herausgeberin zahlreicher Publikationen zu Gender-Fragen und Qualifizierung pädagogischen Personals, Medienpädagogik und aktuellen Themen der allgemeinen berufliche und politischen Bildung
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