Cornelia Behnke-Vonier, Herbert Vonier: Mehr Mut zum Altern
Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 10.09.2021

Cornelia Behnke-Vonier, Herbert Vonier: Mehr Mut zum Altern. Über Glauben und Altern. Betrachtungen, Erzählungen und Gespräche.
transcript
(Bielefeld) 2021.
94 Seiten.
ISBN 978-3-8376-5901-6.
D: 28,00 EUR,
A: 28,00 EUR,
CH: 34,80 sFr.
Reihe: Alter - Kultur - Gesellschaft - 6.
Entstehungshintergrund und Thema
Wie die Einleitung verrät, entstand das Buch anlässlich einer kritischen Rückmeldung aus dem Publikum zu einem Vortrag der Verfasserin, bei dem sie Ergebnisse ihrer Studie aus dem 2018 präsentierte. Der Titel des ersten Buches lautet „Mut zum Alter. Wie das Alter seine eigene Würde entfalten kann“: Weil der Untertitel, wie die Autorin und der Autor zugestehen, nur bedingt eingelöst wird, begaben sie sich auf die Suche nach einer religiösen Antwort auf den Aspekt der Würde des Alters.
Verfasserin und Verfasser
Dr. Cornelia Behnke-Vonier ist Professorin für Soziologie in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule München. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Soziologie der Geschlechterverhältnisse und des Alter(n)s. Herbert Vonier ist kaufmännischer Angestellter in einer gemeinnützigen Stiftung. Er widmet sich intensiv den jüdisch-chassidischen Überlieferungen und hat mehrere Bücher zu Lebensfragen veröffentlicht.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in neun Kapitel eingeteilt. Im Anhang befinden sich der Leitfaden für das Interview und die schriftliche Befragung sowie Angaben zu Friedrich Weinreb (1910-1988), der alte jüdische und auf mündliche Überlieferungen basierende Erzählungen in eine für die Zeit verständliche Sprache übersetzte. Ferner werden Wortbedeutungen im Hebräischen aufgeführt und erklärt.
1. Einleitung (S. 9–12)
Die Co-Autorenschaft von Behnke-Vonier und Vonier gewährleistet eine gesellschaftstheoretische und eine sozialphilosophische Betrachtung des Themas Alter(n), die gesellschaftliche Realität und das Verborgene, das „hier und dort“ (S. 12) gleichermaßen geliefert zu bekommen bzw. ermuntert zu werden, sich auf beides einzulassen. Bei der Suche nach dem Verborgenen wird auf Friedrich Weinreb und seine Auslegung biblischer Geschichten rekurriert.
2. Gesellschaft heute – für immer jung (S. 13–24)
Kindheit und Alter würden nach Angaben der Autorin und des Autors „auf das Engste“ (S. 15) zusammengedrückt. Gemeint ist, das, was beide Lebensalter charakterisiert, möglichst nicht sichtbar werden zu lassen, entweder soweit es geht zu normalisieren (Abweichungen zu überschminken) bzw. möglichst früh in spezifische Einrichtungen einzugliedern (zu vergesellschaften). In der Mitte des Lebens fordert die „Hochgeschwindigkeitsgesellschaft“ (S. 16) eine perfekte Taktung, selbst der „Quality-Time“ (S. 16) emotionaler Beziehungen. Diese Effizienz ist am Anfang und am Ende des Lebens nicht vorhanden. Für das Ende des Lebens findet die Gesellschaft keine andere Antwort als „sich rastlos zu beschäftigen“ (S. 19). Demgegenüber sind in den von Weinreb gedeuteten biblischen Geschichten verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen angedeutet: Innere und nach außen gerichtete Entwicklung sind gleichermaßen nötig, die äußere Seite ohne die innere gefährlich und unvollkommen. Verliert der Mensch den Zugang zum Inneren, entfremdet er sich, kann nicht zur Ruhe kommen, der Übergang in die andere Sphäre des Lebens kann nicht gelingen.
3. Was ist Alter? (S. 25–28)
Der mit der Zeit einhergehende unumkehrbare Prozess des Alterns bedeutet eine Veränderung über die gesamte Lebensspanne hinweg, sie kann anfangs als Wachstum, dann als Blüte und gegen Ende hin als „Verfall“ gesehen werden. Diese Sichtweise kann ergänzt werden um „Geist und Vertrauen“ (S. 27). Ist der Körper in voller Blüte, scheint das „Geistige am Menschen“ (S. 28) zurückgedrängt zu sein. Dagegen scheint es an den Übergängen und am Anfang und Ende am ausgeprägtesten zu sein. Am Ende verleiht das Geistige den Sinn, sofern es gepflegt wurde.
4. Alter(n) – eine Aufgabe? (S. 29–36)
In der Akzeptanz des Alterns, des zur Ruhe Kommens, des Rückzugs und der Kontemplation vollzieht sich „das Leben vom Ende her zu denken“ und es als Geschenk zu betrachten. Darin liegt eine Aufgabe, die mit Weisheit bewältigt werden kann. Auch hier geben die chassidisch-jüdischen Geschichten tiefe Gedanken zum Verbunden-Sein von Äußerem und Inneren im Augenblick der Vollkommenheit der Zeit. In der Ganzheit von Materiellem und Immateriellem liegt der Sinn begründet – so wie jeder Mensch ihn für sich empfinden kann.
5. Alter und Leid (S. 37–40)
Alter(n) anzunehmen ist eine Aufgabe, die handeln einerseits und loslassen andererseits bedeutet. An Lebensaltersübergängen entstehen oft kritische Aufgaben, die zu bewältigen sind. Und am Lebensende heißt es, sich mit der Metamorphose der Auflösung zu beschäftigen, die auch Leid beinhalten kann, vor allem wenn es sinnlos erscheint. In der Weinrebschen Ausdeutung entspringt der zeitlichen und körperlichen Begrenztheit des Menschen das Leiden und der Wunsch nach Überwindung desselben. Letzteres kann nur gelingen, indem der Mensch akzeptiert, „von dieser Welt lassen zu müssen“ (S. 40) und deshalb frei wird von räumlicher und zeitlicher Begrenzung.
6. Alter und Glaube (S. 41–47)
Die Autorin und der Autor rekurrieren auf Romano Guardini, auf Mascha Kaleko, auf Hannah Arendt, auf Alfred Delp, auf Simone de Beauvoir und auf Karlfried Graf Dürckheim, die allesamt hinter der „Eindimensionalität der raumzeitlichen materialen Welt“ (S. 42) eine dem Menschen innewohnende Transzendenz annehmen. Mit dem Altern kann ein Reifen dieser „vita contemplativa“ (Hannah Arendt) einhergehen und dem Leben Sinn verleihen, nicht zu verhärten, und sich nicht gehen zu lassen. In den biblischen Geschichten ist Glaube das Erkennen der verborgenen Seite des Menschen, das, was nicht gemessen und gezählt werden kann. Glauben heißt keine Gegenleistung zu erwarten, sondern sich hinzugeben und darauf einzulassen, was über diese Welt hinausweist und mit diesem eine Einheit zu bilden.
7. Gelebter Glaube (S. 49–75)
Zwei gelebte Glaubenswege von 81-jährigen geben Einblick in Erfahrungen einer Frau (Interview) und eines Mannes (schriftliche Selbstreflexion), die sich beide als Suchende ausgeben: Johanna, von Kindheit an im katholischen Glauben sozialisiert, erlebte ihn als Struktur gebenden Kompass, bei dem die Gebete und das Singen einen besonderen Stellenwert einnehmen. Sie hat ihn auch in ihre eigene Familie mit vier Kindern eingebracht, sich selbst im Glauben durch die Bekanntschaft mit Meditation und Yoga weiterentwickelt. Er hat geholfen, Schicksalsschläge anzunehmen, loszulassen und weiter zu leben. Hans, katholischer Priester und in einem Pfarrhaus aufgewachsen, gehört einer kleinen Ordensgemeinschaft an, in der er auch lebt. Dem Pflichtprogramm des Betens im Orden steht er kritisch gegenüber, erachtet es als an Quantität orientiert, was nicht seiner Auffassung von Sprechen mit Gott in allen Lebenslagen entspricht. Er hat sich mit christlicher Mystik und Yoga beschäftigt und eine Affinität zu beidem entwickelt. Sein erwachsener Glaube helfe ihm, sich getragen zu fühlen, das Älterwerden als Abschiednehmen zu betrachten und sich nach Innen zu wenden.
8. Durchbruch und Ausgleich (S. 77–80)
Für den am Ende des Lebens anstehenden Durchgang oder Ausbruch aus der Materie in die andere Seinsform, des Erwachens im Geist in einer verborgenen Welt, gibt es keine soziologische Erklärung mehr, hier verlassen sich die Autorin und der Autor auf die Erklärungen der biblischen Erzählungen von Weinreb. Wer aber in Würde altert, für den ist es kein Niedergang oder eine große Not, sondern eine Erfüllung des Verborgenen im Menschen, der seinem Ursprung wieder nahekommt.
9. Schlussgedanken (S. 81–82)
Mit der Metapher des „Durchschlupfs“ (S. 81) erklärt die hochbetagte Mutter des Künstlers André Heller das, was am Ende bevorsteht. Für diesen „Durchschlupf“ wird in der Vorbereitung Ballast abgeworfen, die Sinne richten sich auf das, was jenseits zu erwarten ist, sie werden durchlässiger für die Signale von der anderen Seite.
Diskussion
Legt man die Absicht des Büchleins als Kriterium an, über Aspekte nachzudenken, dem Alter mehr oder seine eigene Würde zu geben, so ist das mit den „Betrachtungen, Erzählungen und Gesprächen“ (Untertitel des Buches) gelungen. Die Autorin und der Autor tasten sich Kapitel für Kapitel voran bis hin zum Unausweichlichen, dem Ableben. In der Erwartung dieses Abschieds von dieser Welt wird man mit der Frage konfrontiert, ob der Tod „ein Schritt ins Leere oder ins Eigentliche“ (S. 45) ist. Jeder Mensch ist vor die Aufgabe gestellt, sich selbst damit zu beschäftigen und seine Antwort zu finden. Dass Religionen Antworten beinhalten, die in individuelle Glaubensgrundlagen aufgenommen werden und damit einen Sinn stiften, der über das raumzeitlich Materielle hinausgeht, verdeutlicht das Buch in sehr dezenter Weise. Das Heranziehen von Interpretationen biblischer Geschichten von Friedrich Weinreb liefert sehr inspirierende Gedanken, die mit Bezug auf die christliche Religion neue Perspektiven eröffnen. Obwohl sich das Buch auf die christliche Religion fokussiert, ist an keiner Stelle ein katechetisierender oder evangelisierender Impetus damit verbunden. Im Gegenteil: Das Alter(n) wird eben nicht künstlich geschönt, Leid(en) wird als Begleiterscheinung thematisiert. Dem Einzelnen ist es überlassen, sich damit zu befassen oder nicht.
Fazit
Die Co-Autorenschaft ist der Reichtum dieses Buches. Es erfüllt, was es verspricht, die religiös-spirituelle Dimension für die Würde des Alter(n)s sichtbar in Worte zu fassen, damit sie zu begreifen sind. Ob sie Sinn verleihen, wird jeder Leserin oder jedem Leser selbst überlassen. Das „alte Wissen“ der für die Jetztzeit verständlich erklärten biblischen Geschichten sind jedenfalls sehr hilfreich, willkommen und Sinn stiftend.
Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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