Ḥāmid ʿAbd-aṣ-Ṣamad: Schlacht der Identitäten
Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 22.09.2021

Ḥāmid ʿAbd-aṣ-Ṣamad: Schlacht der Identitäten. 20 Thesen zum Rassismus - und wie wir ihm die Macht nehmen. Deutscher Taschenbuch Verlag (München) 2021. 141 Seiten. ISBN 978-3-423-28275-8. D: 10,00 EUR, A: 10,30 EUR, CH: 13,90 sFr.
Autor
Hamed Abdel-Samad ist 1972 in Ägypten geboren und arbeite nach dem Studium Englisch, Französisch, Japanisch und Politik für die UNESCO als Islamwissenschaftler an der Universität Erfurt und am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur der Universität München. Er war Mitglied der Islamkonferenz. Wegen seiner Tabubrüche wurde 2013 eine Fatwa gegen ihn verhängt.
Entstehungshintergrund
Entstehungshintergrund ist der Rassismus in Deutschland, dessen Ursachen er darin sieht, dass die unsichere eigene Identität bestätigt werden soll, indem der Andere als die Verkörperung des Absolut Bösen und Fremden projektiv verzerrt wahrgenommen wird.
Inhalt
Einführung
Rassismus ist eine Krankheit nicht nur des Einzelnen sondern auch der Gesellschaft, denn die Opfer verlieren das Vertrauen und die Rassisten die Erfahrung mit Andersartigkeit. Die in Deutschland längst fällige Debatte ist emotional und ideologisch aufgeladen und wird entweder instrumentalisiert oder relativiert. Hilfreich sind weder Schuldgefühle noch Mitleid. Stattdessen sind die Erfahrungen der Betroffenen wichtig, weil sie das Nachdenken anstoßen. Die Probleme des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen können nur gemeinsam gelöst werden. Eine im Zeitalter der Globalisierung und raschen Veränderungen allgemein zunehmende Entfremdung und Entwurzelung haben zu Ängsten und zu einer Flucht in identitäre und rassistische Utopien geführt.
Diese Krankheit ist nicht neu und – sie betrifft uns alle.
Teil I: Rassismus im Spiegel der Gegenwart
Hierzu stellt der Autor 14 Thesen auf. These 1: Rassismus ist eine anthropologische Konstante. Ursachen sind Ängste vor der Unterdrückung durch den Fremden, die Wut, Hass und Aggressionen hervorrufen. These 2: Rassismus ist auch kein Privileg der Weißen, oder einer bestimmten Gruppe von Menschen. Dagegen hilft nicht, Diskriminierung mit Diskriminierung und Vorurteile mit Vorurteilen zu bekämpfen. In einem Exkurs geht Abdel-Hamad die Zusammenhänge zwischen Macht, Kolonialismus und Wissenstransfer ein. These 3: Den heutigen Rassismus versteht Abdel-Samad als ein Aufbäumen einer primitiven, d.h. ungefestigten Identität, die sich über den verzerrt wahrgenommenen Anderen zu festigen versucht. Nicht selten gibt es auch einen unerkannten, d.h. blinden Rassismus, der ideologisch unterfüttert ist. These 4: Häufig sind auch Angst und erlittene Demütigungen Triebfedern des Rassismus (Beispiele aus der eigenen Kindheit). Es ist nicht immer leicht, aber dennoch notwendig, sich in die Gedankenwelt des Anderen zu versetzen. These 5: Rassisten sind angeblich ‚immer nur die Anderen‘, was u.a. möglicherweise zurückgeht auf ein Misstrauen von Eltern gegenüber ihren Kindern.
These 6: Die Fremdzuschreibung ist auch in Gefahr ein falsches Selbstbild zu generieren – eigene Erfahrung des Autors. Das kann durch Kommunikation und Abkehr von oberflächlichen Stereotypisierungen verhindert werden. These 7: Wenn Stereotype nicht hinterfragt werden, machen wir keine neuen und bereichernde Erfahrungen mit Menschen, die nicht in unsere Vorstellungen passen. Nationalismus schlägt aus stereotypen Vorurteilen Kapital. These 8: Auch Antirassisten können sich wie Rassisten verhalten, wenn sie aus ideologischen Gründen Kommunikation verweigern. These 9: Rassismus kann auch der Abwehr von Schuldgefühlen dienen (Beispiele aus Deutschland und Japan nach dem 2. Weltkrieg). These 10: Der Rassismusvorwurf kann nicht nur als Machtinstrument der Stärkeren benutzt werden, sondern auch der (vermeintlich) Schwächeren (Beispiele von innermuslimischem und türkischem Rassismus).
These 11: Gibt es inzwischen mehr Rassismus oder »nur« mehr Beschwerden? Rassismuserfahrungen können auch generationell weitergegeben werden und eigenen Rassismus ausblenden. These 12: Man kann Vielfalt, Respekt und Empathie nicht diktieren, aber durch die Erfahrung von Respekt und Toleranz vermitteln. Multikulturalismus ist keine Doktrin und kann nicht verordnet sondern muss gelebt werden, indem das Gemeinsame und Verbindende gesucht wird. These 13: Es geht nicht um eine Veränderung der Sprache, sondern der Haltung dem Fremden und Anderen gegenüber. These 14: Es gibt auch eine Rassismusindustrie, die vom Rassismus profitiert; das können auch Verbände und Organisationen sein, die daran arbeiten, Fronten zu verhärten (Beispiele aus der Literatur und Presse).
Teil II: Wege aus der Rassismusfalle
These 15: ‚Jede Stufe des Rassismus braucht andere Gegenmaßnahmen‘: Falsche Vorstellung und Vorurteile (Stufe 1). Emotional aufgeladene Vorurteile (Stufe 2). Die gefährlichste Stufe ist, wenn um die eigene Identität und das Überleben zu retten, die Fremden ausgerottet werden müssen (Stufe 3). Die Vielfalt im Eigenen muss aufgezeigt werden und Sensibilisierung – Respekt und Sympathie – bei sich selbst und dem Anderen unterstützt werden.
These 16: Eine offene Debatte über Rassismus, und nicht ein Tribunal, wird gebraucht. Die Definition von Rassismus muss ideologiefrei sein und Rassismus als eine anthropologische Konstante verstanden und in Zusammenhang mit Problemen des Zusammenlebens gesehen werden. Ideologische Argumente sind nicht hilfreich. Auch im Namen von Toleranz kann Intoleranz entstehen.
These 17: Was uns spaltet und eint zeigt die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Das Fehlen einer gemeinsamen Sprache spaltet, gemeinsame Interessen vereinen. Identitätspolitik spaltet, desgleichen Schuld und eine verkrampfte Streitkultur. Es geht um eigene und gemeinsame Werte.
These 18: Die Öffnung für Minderheiten setzt eine klare Definition der eigenen Identität voraus. Wir können positive Narrative anbieten. Unsicherheit versteckt sich oft unter der Maske moralischer Überlegenheit und Unsicherheiten gibt es oft auf beiden Seiten, ein Teufelskreis von beiderseitigen Identitätsneurosen. These 19: Individualismus als Ausweg. Auch eine Überidentifikation kann Ausdruck von Angst sein. Gegen die schützt ein gesunder Individualismus bzw. ein gesundes Selbstbewusstsein i.S. einer elastischen und empathischen Identität. These 20: Wir suchen die Wärme der Gruppe und aber keine Bevormundung. Rassismus ist oft das Feld von identitäts- und Loyalitätskonflikten, wenn diese starr und unbeweglich (unlebendig) sind.
Diskussion
Ein kritische und vor allem selbstkritisches Buch, denn der Autor spricht aus Erfahrung mit sich selbst und dem Anderen/​Fremden. Er zeigt Wege auf, aus dem Teufelskreis von Ängsten, Spaltungen, Projektionen und identitären Unsicherheiten herauszukommen. Dass das nicht immer leicht ist, wird konkret an den vielen alltäglichen Beispielen gezeigt. Die – gerade weil sie so ‚normal‘ sind und Situationen schildern, in die jeder alltäglich geraten kann – geeignet sind, eine gesunde Portion Selbstzweifel und Selbstkritik zu unterstützen.
Das Buch ist sehr lesbar und flüssig geschrieben und auch im zweiten Teil ‚Wege aus der Rassismusfalle‘ sehr alltagstauglich. Es regt an, über eigene Identitätsprobleme, Unsicherheiten und Vorurteile nachzudenken, die die emotionale Aufnahmebereitschaft gegenüber Fremden behindern. Es geht um Humanität und die Fähigkeit, zu einer konstruktiven und bereichernden Verständigung beizutragen anstelle eines destruktiven religiösen, kulturellen und ideologischen Kriegs der Identitäten. Das beginnt mit der Annahme und Vergewisserung der eigenen Identität und der Offenheit für die des Anderen. Aufgrund der vielen praktischen Beispiele bietet das Buch insbesondere im pädagogischen Bereich reichlich Stoff zum Nachdenken und Anregung zum Dialog mit dem Fremden und Andersartigen, – in uns selbst und im Anderen.
Fazit
Für alle, die in der pädagogischen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen tätig sind, ein lesenswertes, sehr Praxis orientiertes und zum Nachdenken anregendes Buch.
Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Mailformular
Es gibt 105 Rezensionen von Gertrud Hardtmann.
Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 22.09.2021 zu:
Ḥāmid ʿAbd-aṣ-Ṣamad: Schlacht der Identitäten. 20 Thesen zum Rassismus - und wie wir ihm die Macht nehmen. Deutscher Taschenbuch Verlag
(München) 2021.
ISBN 978-3-423-28275-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28734.php, Datum des Zugriffs 20.03.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.