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Marianne Kreudner: »Erkrankte Profis«

Rezensiert von Prof. Stefan Müller-Teusler, 05.11.2021

Marianne Kreudner: »Erkrankte Profis«. Wie krank dürfen Fachkräfte im Gesundheits- und Sozialwesen (gewesen) sein? ZKS-Verlag für psychosoziale Medien (Höchberg) 2021. 69 Seiten.
Eine Exploration zur Akzeptanz von psychisch erkrankten Fachkräften.

Die Autorin

Marianne Kreuder studierte „Clinical Casework“ (Master of Arts) an der Fachhochschule Münster. Sie hat langjährige Berufserfahrung in der Klientenberatung im Bereich Berufliche Rehabilitation und war immer wieder als Gastdozentin für Themen wie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder Schwerbehindertenrecht tätig. Neben ihrer aktuellen Tätigkeit als Dozentin für Rehabilitations- und Teilhabethemen promoviert sie zur Stigmatisierung von psychisch Erkrankten in der Beruflichen Rehabilitation im Fachgebiet Rehabilitationswissenschaften (Verlagsangaben). Das vorliegende Buch ist die Veröffentlichung ihrer Masterarbeit.

Aufbau des Buches

Zur Verdeutlichung des Titels wäre noch hinzuzufügen, dass es um psychische Erkrankungen von Expert*innen aus dem Sozial- und Gesundheitswesen geht. Kapitel 1 beschreibt das Vorgehen in diesem Buch, beginnend mit einer Literaturrecherche, an die sich einige theoretische Gedanken anschließen. Das Kernstück der Arbeit ist eine empirische Untersuchung zu dem Thema. Die Arbeit isst angelegt, um weitere Forschungen in diesem Bereich anzuregen.

Stigma ist im Bereich der psychischen Erkrankungen eine der häufigsten Zuschreibungen, die Betroffene neben ihrer eigentlichen Erkrankung erfahren – von Vorurteilen über Bewertungen hin zu anhaltenden Ausgrenzungen. Das ist der wesentliche Inhalt von Kapitel 2, nachdem die Autorin konstatiert hat, dass es zur Fragestellung ihrer Arbeit bisher keine Forschungsergebnisse gibt. Im Kontext von Stigma befasst sie sich mit öffentlicher Stigmatisierung, Selbststigmatisierung und struktureller Diskriminierung, insbesondere auch mit Klischees, die gerne kolportiert werden. Die Stigmata haben Folgen für den betroffenen Menschen, was in der Regel beruflich wie privat zu vielen weiteren Problemen führt. Hinzu kommt, dass die Institutionen der Behandlung und Beratung selber meistens mit Stigmata und Vorurteilen besetzt sind, was eher zu einer Meidung von Hilfsangeboten führt.

Mit einer Onlineumfrage (n=326) wurde eine relativ große Zahl von Befragten für eine Erstuntersuchung (im Rahmen einer Masterarbeit) zu diesem Thema erreicht. Wie die Autorin in Kapitel 3 darstellt, haben sogar 442 Personen an der Umfrage teilgenommen, allerdings haben eine Reihe davon nicht alle Pflichtfragen beantwortet, was die Auswertung verzerren würde, daher die Eingrenzung auf 326 Fragebögen in der Auswertung. Entsprechend der eher üblichen Geschlechterverteilung in sozialen Berufen waren die meisten Befragten weiblich. Die Altersgruppen von 20 Jahren bis 39 Jahren bildeten die meisten Teilnehmenden. Die Auswahl der Befragten erfolgte eher zufällig über Netzwerke, brachte aber Ergebnisse aus einem breiteren Spektrum der Berufsfelder Sozialer Arbeit (Jugendhilfe, Behindertenhilfe und berufliche Bildung). Überwiegend war der Bachelor der am meisten vertretene Bildungsabschluss. Im weiteren Verlauf des Kapitels werden diverse Einzelauswertungen vorgenommen, wobei – das darf an dieser Stelle gesagt sein- es kein prinzipielles mehrheitliches Votum dagegen gibt, dass mal psychisch erkrankte und wieder genesene Fachleute wieder ihre Berufstätigkeit aufnehmen bzw. fortführen. Wie in der Allgemeinbevölkerung auch ist die Depression mit Abstand hier die häufigste Erkrankung. Allerdings könnten andere Krankheitsbilder hier eine andere Bewertung erfahren.

Kapitel 4 ist eine kritische Selbstreflexion des Forschungsdesigns, aber auch eine Bewertung der Ergebnisse. Hier führt die Autorin die Idee des Peer Supports an, wonach eine ehemals erkrankte Fachperson einen Klienten möglicherweise noch besser verstehen könnte als ein(e) nicht erkrankte Kolleg*in. Was die Autorin dabei außer Acht lässt, ist die Frage der Abgrenzung von der eigenen Situation zur beruflichen Tätigkeit, denn gerade ehemals erkrankte Menschen bedürfen einer guten psychischen Selbsthygiene, um belastenden oder triggernden Situationen auszuweichen.

Kapitel 5 beschließt das Buch und greift noch mal einige wesentliche Aspekte auf: von den fehlenden Hilfsangeboten über eine (falsche) Scham bei diesem Thema hin zu Stigmata und weiteren notwendigen Forschungen.

Diskussion

Die Autorin hat mit diesem kleinen Buch ohne Frage ein wichtiges Thema aufgegriffen, das bisher entweder verschwiegen wurde oder einfach nicht beachtet wurde. Dabei ist mindestens anzunehmen, dass es auch im Bereich des Sozial- und Gesundheitswesens zu häufigen psychischen Erkrankungen kommen kann, möglicherweise sogar noch mehr als in der Allgemeinbevölkerung. Zumindest während der Corona-Pandemie waren die psychischen Erkrankungen bei Mitarbeitenden im Bereich von Sozial- und Gesundheitswesen immer mal wieder Thema der Schlagzeilen, sicherlich in erster Linie auf die Belastungssituationen zurückzuführen. Das wäre etwas, was aus dieser Arbeit nicht ersichtlich ist (sofern das abbildbar ist): welche Ursachen die psychische Erkrankung haben. Dabei spielen Arbeitsumfeld wie Arbeitsinhalte eigene Rollen, die nicht gleichzusetzen sind.

Sie hat ihre Studie im Titel auf Fachkräfte im Gesundheits- und Sozialwesen bezogen, was sich im Text allerdings auf einige Felder der Sozialen Arbeit begrenzt. Das wäre auch noch zu prüfen, ob die Bedingungen im Gesundheitswesen mit denen der Sozialen Arbeit überhaupt vergleichbar wären, zumal Faktoren wie Schichtdienste, psychosoziale Arbeitsbelastung (Klientel) und Arbeitsbedingungen zu berücksichtigen wären. Das Konzept des Peer Supports wird schon beispielsweise in der Psychiatrie genutzt (EX-IN) oder in der Suchthilfe, aber die Frage ist, ob diese auch eine spezifische berufliche Qualifikation haben oder ihre persönlichen Erfahrungen hier gezielt auf einer Laienebene einsetzen.

Gerade auf dem Hintergrund des bestehenden und sich weiter abzeichnenden Fachkräftemangels wären weitere Erkenntnisse zu diesem Thema interessant, um zu sehen, was getan werden kann und muss, um Fachkräfte in der Sozialen Arbeit zu halten (können). Vermutlich wäre eine erste Erkenntnis, dass vielerorts die Arbeitsbedingungen ein erster echter präventiver Schritt wären.

Fazit

Die Autorin hat eine gute Idee für ihre Masterarbeit gehabt und für eine erste Untersuchung zu diesem Thema keine wesentlich überraschenden Ergebnisse präsentiert, aber auch das ist eine gute Erkenntnis. Zu Recht hat sie darauf hingewiesen, dass es weiterer Forschungen bedarf, wofür das Buch von ihr eine gute Grundlage bildet.

Rezension von
Prof. Stefan Müller-Teusler
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Es gibt 99 Rezensionen von Stefan Müller-Teusler.

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ISSN 2190-9245