Yvonne Christoph-Wyler: Schulsozialarbeit in der Praxis
Rezensiert von Prof. Dr. Christa Paulini, 07.09.2022
Yvonne Christoph-Wyler: Schulsozialarbeit in der Praxis. Beispiel Zürich - eine multikulturelle Schule.
Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2021.
152 Seiten.
ISBN 978-3-7841-3376-8.
D: 25,00 EUR,
A: 25,70 EUR.
Reihe: Soziale Arbeit.
Thema
Schulsozialarbeit – so die Autorin – ist bereits seit einem Vierteljahrhundert ein Arbeitsgebiet der Sozialarbeit in Zürich und in der Schweiz. Schulsozialarbeit begann 1995 als Pilotprojekt in drei Stadtkreisen der Stadt Zürich und wurde als Konzept gemeinsam von den Sozialen Diensten Zürich und dem Schul- und Sportdepartement der Stadt Zürich entwickelt.
Nach einer ersten Verlängerung von drei Jahren wurde durch eine gesamtstädtischen Volksabstimmung Schulsozialarbeit in der Züricher Volksschule regulär eingeführt und jedes dritte Schulhaus in der Stadt verfügte damals über eine Schulsozialarbeiterin oder Schulsozialarbeiter. Im Jahre 2019 wurde eine Erhöhung der Vollzeitstellen beschlossen und seitdem ergibt sich ein Verhältnis von 690 Kinder pro 100 % Vollzeitstelle. Schulsozialarbeit ist damit ein vielversprechendes, effizientes Erfolgsmodell in Zürich geworden.
Im vorliegenden Band schildert Yonne Christoph-Wyler als Schulsozialarbeiterin ihren vielfältigen Alltag und die speziellen Herausforderungen in einer Primarschule in Zürich anhand zahlreicher Fallbeispielen. Sie arbeitet in einem Primarschulhaus in Zürich in einem stark wachsenden Quartier mit einem Ausländeranteil von weit über den städtischen 30 % in Zürich. Im Quartier leben viele Flüchtlingsfamilien aus Kriegsgebieten und Familien, die aus anderen Gründen in die Schweiz emigriert sind. Weitere Familien ohne Migrationshintergrund kommen ebenso dazu. „Mit den Kindern all dieser Familien habe ich in meinem Schulhaus zu tun.“ (S. 10).
Autorin und Entstehungshintergrund
Yvonne Christoph-Wyler, MSW, arbeitet seit 20 Jahren als Schulsozialarbeiterin im Sozialdepartement der Stadt Zürich, Schweiz. Nach dem Abitur (Matura) ging sie von 1982–1988 nach Israel. Sie studierte Sozialarbeit an der Hebrew University in Jerusalem und erlebte u.a. die erste Indifada. Sie selbst stammt aus einem jüdisch religiösen Zuhause in der Schweiz. In dieser Intifada war eine sehr wichtige Erfahrung für sie, dass jeder Mensch gleich wert ist – „wo auch immer er lebt, was auch immer seine Hautfarbe, seine Religion, seine Herkunft, seine sexuelle Ausrichtung oder seine physische und psychische Verfassung ist“. Außerdem arbeitete sie im Internationalen Zentrum für die Verbesserung des Lernpotenzials (ICELP) in Jerusalem (Prof. Reuven Feuersteien), einer Einrichtung für Menschen mit Beeinträchtigungen. Fachliche Grundlagen sind für sie die Studien von Jona Rosenfeld, Chaim Omer, Mordechei Rotenberg und Reuven Feuerstein sowie dem Gedankengut des RSO-Ansatzes (Ressourcen- und Sozialraumorientiertes Handeln). Diesen verschiedenen Theorien sind der systemische Ansatz, das lösungsorientierte Handeln, die Beziehungsarbeit, das mit „dem gleichwertigen“ Klienten auf Augenhöhe im Dialog stehen, die Attachment-Theorie und das Reflektieren über sich selbst und seinen Sozialraum sowie die Erziehung zum selbstverantwortlich, mündigen Menschen (S. 16).
Zurück in der Schweiz konnte sie mit Kolleginnen, das Konzept der „Sozialpädagogischen Familienarbeit“ ausarbeiten und implementieren. Sie entwickelte zusammen mit anderen KollegInnen das Konzept der „Familienergänzenden sozialpädagogischen Tagesstruktur“ (FEST). Mit diesem Konzept konnten die Fachkräfte auf ein offensichtlich starkes und dringendes Bedürfnis von Kindern aus sozial schwachen und/oder minimal tragfähigen Elternhäusern reagieren.
Aufbau
Das Buch unterteilt sich in vier Kapitel. Nach der Einführung beschäftigt sich die Autorin im zweiten Kapitel mit den Grundprinzipien der Schulsozialarbeit. Anschließend geht sie näher auf die Fallarbeit als Ausgangslage ein (S. 20-S. 48) und schildert im 4. Kapitel Fälle aus dem Alltag der Schulsozialarbeit.
Inhalt
Im zweiten Kapitel geht es um die Grundprinzipien der Schulsozialarbeit. Als wichtigsten Punkte nennt die Autorin
- die Unterstützung von Kindern, die mit psychosozialen Verhaltensstörungen (Lernblockaden, Lernverweigerungen) oft aus minimal tragfähigen Elternhäuser kommen. Hier ist die Unterstützung am effizientesten, wenn das Lebensfeld Familie und Schule einbezogen wird und die Unterstützung in der gewohnten Umgebung stattfindet.
- In der Beziehung zwischen Eltern und Kindern herrscht ein Machtgefüge, welches in Familien mit minimal tragfähigen Elternhäusern oft gestört ist. Eltern müssen ihr Autorität und die Verantwortung für ihre Kinder wieder wahrnehmen können.
- Es ist sinnvoll dazu eine partnerschaftliche Beziehung zu den Eltern aufzunehmen, um mit ihnen auf diese Weise Gegenseitigkeit und Wechselwirkung in einer Beziehung einzuüben.
- Kommunikation und das gegenseitige Wahrnehmen der Bedürfnisse zwischen den Kindern untereinander, und den Eltern und Kinder untereinander müssen gefördert werden.
- Schulsozialarbeit muss oft vermitteln sowohl zwischen Eltern und Kindern als auch zwischen den Eltern.
- Modellhaftes Verhalten hat eine wichtige Funktion, denn alle Beteiligten d.h. Schulsozialarbeitende, Eltern, Hortbetreuende oder Lehrpersonen sind gefordert sich auf die Individualität des Kindes einzustellen und das richtige Maß im Umgang mit ihm zu finden.
- Elternarbeit hat einen hohen Stellenwert im Konzept der Schulsozialarbeit.
Im dritten Kapitel geht die Autorin auf ihre Erfahrungen zu Beginn ihrer Tätigkeit als Schulsozialarbeiterin ein. Beim Aufbau der Arbeitsbeziehungen sind folgende Ebenen für sie maßgebend: die fallspezifische, die fallübergreifende und die fallunspezifische Arbeit. So beginnt sie beispielsweise in der fallspezifischen Arbeit mit der Analyse der Situation und kommt mit den Betroffenen ins Gespräch. In der fallübergreifenden Arbeit werden die Phänomene, die sich ständig wiederholen festgehalten und in der fallunspezifischen informiert sie sich über das Umfeld der Klienten. In der Analyse stellte sie fest, dass es eigentlich oft an der Vernetzung der Gruppen untereinander fehlte. Die Lehrpersonen hatten eine mangelhafte bis gar keine Beziehung zum Sozialraum des Schulhauses und die Eltern wussten sehr wenig über die heute praktizierten Unterrichtsformen (vgl. S. 24).
Yonne Christoph-Wyler betont, dass der Weg der Zusammenarbeit über den Dialog führt und dies eine wertfreie Beziehung ohne Hierarchie erfordert. Ein notwendiger Teil dieses Dialoges ist, dass der Klient das Ziel bestimmt und nicht die Schulsozialarbeiterin oder die Lehrpersonen.
Im weiteren Ablauf des dritten Kapitels zeigt die Autorin den genauen Ablauf der aufeinander aufbauenden Interventionen auf und vermittelt somit einen transparenten Eindruck ihres Handelns als Schulsozialarbeiterin, der Situation der Schülerinnen und Schüler, der Eltern sowie der Lehrpersonen in diesem Prozess.
Im vierten Kapitel verdeutlicht die Autorin die im dritten Kapitel angesprochene Dynamik der „Schlüsselmomente“ durch Fallbeispiele, in der das fachliches Handeln nochmals deutlicher herausgearbeitet wird. Sie betont die Wichtigkeit des Einbezugs der Eltern in den Schulalltag, auch wenn dies nicht immer leichtfällt (S. 52). Schulsozialarbeit kann unterstützend zur Schule und dem Elternhaus wirken. Sie kann sich wie eine Zwischenlokomotive in das Gefüge Schule-Elternhaus hineinschieben, um für den schwierigen Moment der Zusammenarbeit der Eltern und der Schule behilflich zu sein. Für die Arbeit einer Schulsozialarbeiterin ist es wichtig, die Eltern in ihrem eigenen Wohlbefinden zu stärken. Deshalb wurde von ihrer Seite ein Elternverein gegründet. Dies brachte die Möglichkeit mit sich mehr Informationen über die Lebenssituation der Eltern zu erhalten. Aus diesen Wissen entwickelten sich weitere Projekte der Eltern im Schulhaus. Ein Beispiel ist das Projekt des „Hol- und Bring-Schrankes“ mit gebrauchten Kleidern, dass von einer Mutter nach dem Kontakt – und mit der Unterstützung der Schulsozialarbeiterin – entwickelt wurde.
Yvonne Christoph-Wyler betont ausdrücklich, dass es im Kontakt mit den Eltern sehr wichtig ist, sich Zeit zu nehmen, aktiv zuzuhören und Informationen zu sammeln. Im Kontakt mit den Eltern ist zu beachten, dass sich diese oft in chronischen Problemlagen befinden und die Themen, die sie beschäftigen oft mit den Gefühlen von Scham, Ehre, Stolz und Liebe verbunden sind.
Gleichzeitig gilt bei der Arbeit zu beachten, dass die Probleme der Eltern nicht die Probleme ihrer Kinder sind. Die Kinder bringen andere Erfahrungen und andere Bedingungen als ihre Eltern mit in die Schule.
Die Autorin betont in ihrem Schlusswort, dass sie vom Recht eines jeden Menschen auf Selbstständigkeit und Autonomie ausgeht einschließlich der Fähigkeit eines jeden Menschen wählen zu können, sofern der Mensch sein Umfeld verstehen und einordnen kann (vgl. S. 143).
Als Schulsozialarbeiterin sieht sie die Möglichkeit, im Alltagskontext im Umfeld der Familie zu wirken.
Schulsozialarbeit – so die Autorin – hat viele Möglichkeiten, einfache Lösungen zu finden, denn Schulsozialarbeit befindet sich mitten im Alltag der betroffenen Kinder und deren Bezugspersonen. Schulsozialarbeiter sollten jedem Kind Hilfe und Unterstützung geben, damit es gangbare Wege mit seinen nächsten Bezugspersonen findet und jedes Kind hat ein Anrecht darauf, dass wir an seine Fähigkeiten glauben.
Zielgruppen
Das Buch eignet sich für alle Fachkräfte aus dem Bereich der Sozialen Arbeit, und alle Studierenden, die in unterschiedlichen Handlungsfelder z.B. auch der Schulsozialarbeit aber auch der Jugendhilfe tätig sind oder in Zukunft tätig werden wollen. Eine weitere sehr wichtige Zielgruppe dieses Buches sind Lehrkräfte, die bereits im Beruf stehen oder sich noch im Studium befinden. Außerdem würde ich dieses Buch jeder Fachkraft im sozialen Bereich empfehlen, der sich über Schulsozialarbeit im Allgemeinen und über das Konzept von Schulsozialarbeit der Stadt Zürich näher informieren möchte.
Diskussion
Schulsozialarbeit hat sich als Handlungsfeld der Sozialen Arbeit inzwischen etabliert. Fachlicher Konsens ist, dass Schulsozialarbeit Soziale Arbeit in und an Schule ist. SchulsozialarbeiterInnen arbeiten kontinuierlich am Ort der Schule und bringen ihr Fachwissen, dass vom Konzept der Sozialraumorientierung bis zur Arbeit mit Gruppen aber auch Beratungsmethoden etc. reicht, und ebenso die Prinzipien und Methoden der Sozialen Arbeit in den Lern- und Lebensort Schule mit einschließt (vgl. Karsten Speck 2006).
Die rechtlichen Grundlagen für die Schulsozialarbeit, als eine Form der Kooperation von Jugendhilfe und Schule, sind vor allem im SGB VIII in den Paragraphen 1, 13, 11 und 81 geregelt. Die konkrete Ausgestaltung von Schulsozialarbeit (u.a. konkrete Zielgruppen) werden durch die Richtlinien und Erlasse der Bundesländer zur Sozialarbeit geregelt.
Fazit
Das Buch wird seinen Anspruch über Schulsozialarbeit näher zu informieren sehr gut gerecht. Spannend ist die Darstellung der Grundprinzipien der Schulsozialarbeit im zweiten Kapitel. Sehr anregend ist die genaue Darlegung der Interventionsschritte im dritten Kapitel und die im vierten Kapitel aufgeführten Beispiele. Die Darstellung von Yvonne Christoph-Wyler zeigt aber auch deutlich, dass ein sehr großer Schwerpunkt ihrer Arbeit faktisch in der Einzelarbeit von Schülerinnen und ihren Eltern liegt. Sehr deutlich wird dadurch, dass das Modell von Schulsozialarbeit in Zürich sich durchaus von Modellen der Schulsozialarbeit in anderen Städten oder bezogen auf Deutschland in anderen Bundesländern unterscheidet. Insgesamt ist es ein sehr empfehlenswertes und spannendes Buch, da die Haltung der Autorin in ihrer Achtung vor den jeweiligen Klienten (SchülerInnen, Lehrpersonen und Eltern) in der Schilderung der jeweiligen Beispiele sehr deutlich wird.
Rezension von
Prof. Dr. Christa Paulini
HAWK Hildesheim/Holzminden/Göttingen, Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit
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Es gibt 16 Rezensionen von Christa Paulini.
Zitiervorschlag
Christa Paulini. Rezension vom 07.09.2022 zu:
Yvonne Christoph-Wyler: Schulsozialarbeit in der Praxis. Beispiel Zürich - eine multikulturelle Schule. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2021.
ISBN 978-3-7841-3376-8.
Reihe: Soziale Arbeit.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28779.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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