Rahel More: Disability, Elternschaft und Soziale Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. habil. Gisela Thiele, 27.02.2023

Rahel More: Disability, Elternschaft und Soziale Arbeit. Zur Bedeutung von Zuschreibungen, Fremdwahrnehmungen und Selbstverständnissen für Eltern mit Lernschwierigkeiten.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2021.
361 Seiten.
ISBN 978-3-8474-2537-3.
D: 42,00 EUR,
A: 43,20 EUR.
Schriftenreihe der ÖFEB-Sektion Sozialpädagogik - 7.
Thema und Autorin
Dieses Buch befasst sich mit Elternschaft von Müttern und Vätern mit Lernschwierigkeiten, die häufig mit Vorurteilen gegenüber ihren Fähigkeiten in der Elternrolle konfrontiert werden. Die Autorin orientiert sich an der Gesellschaftskritik der Disability Studies und verfolgt einen emanzipatorisch-partizipativen Zugang. Als besonders relevant nach der Analyse von gesellschaftlichen Diskussionen in Newsgroups, Interviews mit Fachkräften der Sozialen Arbeit und Interviews mit Eltern mit Lernschwierigkeiten zeigen sich mehrdimensionale Benachteiligungen und die jeweils (nicht) existenten Rahmenbedingungen für die Wahrnehmung der Elternrolle.
Autorin ist Rahel More, die ihre Dissertation hier vorlegt. Weiteres ist über die Autorin nicht bekannt.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist neben einem Geleitwort, einer Danksagung, einer Kurzzusammenfassung, einer Zusammen-Fassung in einfacher Sprache und einem in zehn Kapitel mit Unterkapiteln in unterschiedlicher Länge gegliedert.
Im „Geleitwort“ wird betont, dass es eine gute Unterstützung für Menschen mit Lernschwierigkeiten geben sollte, damit sie zeigen können, dass sie gute Eltern seien.
In der „Danksagung“ wird denjenigen gedankt, die zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben.
In der „Kurzzusammenfassung“ wird der Hintergrund für die Fragestellung der Dissertation erklärt. Dabei geht es um die Bedeutung von Fremdzuschreibungen für das Selbstverständnis von Müttern und Vätern mit Lernschwierigkeiten in Österreich.
In der „Zusammen-Fassung in einfacher Sprache“ werden die Inhalte, die in der Arbeit eine Rolle spielen, betrachtet und es wird davon ausgegangen, dass Fachkräfte in der Jugendhilfe manchmal nicht wissen, wie sie Menschen mit Lernschwierigkeiten unterstützen können.
In der „Einleitung“ wird der Begriff Menschen mit Lernschwierigkeiten wie folgt definiert: es handele sich um eine (Selbst-)Bezeichnung, die von Personen eingefordert werde, die aufgrund von gesellschaftlichen Barrieren, Schwierigkeiten hätten, bestimmte Ziele zu erreichen. Lernschwierigkeiten seien dementsprechend nicht auf die betreffenden Personen, sondern auf das nicht barrierefreie Umfeld zurückzuführen.
Im zweiten Kapitel „(Dis) Abiliti- Theorie und Elternschaft“ werden Begrifflichkeiten erläutert, die für die Arbeit relevant seien und es werden Annahmen der Forschungsarbeit diskutiert. Der methodische Aufbau der Arbeit bezieht sich auf sechs Interviews mit Praktikerinnen der Sozialen Arbeit in Kooperation mit einer Referenzgruppe, bestehend aus Müttern und Vätern mit Lernschwierigkeiten sowie aus Leitfadeninterviews aus zehn verschiedenen Familien. Die meisten Theoretiker lehnten eine Individualisierung von Behinderung entschieden ab und verweisen darauf, dass diese gesellschaftlich bedingt ist und die Gesellschaft für die massive Unterdrückung und Marginalisierung behinderter Menschen verantwortlich sei. Das Modell der persönlichen Assistenz sei das wichtigste Mittel zur Selbstbestimmung behinderter Personen und sei eine radikale Abkehr von der Unterdrückung durch institutionalisierte Pflege, werde aber kaum von Menschen mit Lernschwierigkeiten wahrgenommen.
Kapitel drei widmet sich der Thematik „Spezifische Herausforderungen für Eltern mit Lernschwierigkeiten – der internationale Forschungsstand“. Väter machten die Erfahrungen, dass sie von Kindesmüttern und Fachkräften von wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen werden. Andererseits hatten viele Eltern das Gefühl, von Fachkräften kritisiert und im Stich gelassen zu werden. Mütter mit Lernschwierigkeiten würden sich auch im Falle einer Fremdunterbringung des Kindes als Mütter wahrnehmen, insbesondere wenn es häufige Besuchskontakte gäbe. Die hohen Fremdunterbringungsraten der Kinder würden von der KJH durch Unfähigkeitszuschreibungen gegenüber den Eltern legitimiert und durch Defizitorientierungen bestimmt.
„Der österreichische Kontext von Elternschaft mit Lernschwierigkeiten“ ist das Thema des nächsten Kapitels. Es gäbe trotz des Rechts auf den Kontakt zu ihren Eltern zu viele Unterbringungen von Kindern in anderen Bundesländern, was Abbrüche von Beziehungen zur Herkunftsfamilie zur Folge habe. Bisher gab es in Österreich keine umfassenden Forschungsprojekte für die untersuchte Gruppe.
Kapitel fünf befasst sich mit der „Methodologie und der methodischen Vorgehensweise“. Die Hermeneutik des Verstehens bildete die gemeinsame metatheoretische Basis für die Beantwortung der skizzierten Forschungsfragen. Es wurde auf Newsgroups zurückgegriffen, die heterogene Nutzerinnen sind. Das Analyseverfahren der Forschungsarbeit ist als Onlinedokumentenanalyse zu verstehen. Ein zweites empirische Interesse basiert auf einem partizipativ orientierten Ansatz, der durch das hermeneutische Verfahren der Interpretativen Phänomenologischen Analyse ergänzt wurde. Danach wurden die Verfahren und Methoden benannt wie das genau erreichbar ist.
Im Kapitel sechs geht es um die „Fremdzuschreibungen, Verhandlungen von Elternschaft mit Lernschwierigkeiten in Newsgroups“. Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen Forschungsfragen, die in den Newsgroups diskutiert wurden, wie: Dürfen Menschen mit Lernschwierigkeiten Kinder bekommen oder abstoßende Sexualität, verhinderte Schwangerschaften.
Im siebenten Kapitel wird das Thema aufgegriffen „Fremdwahrnehmungen: Perspektiven von Fachkräften der Sozialen Arbeit“. Dieses Kapitel gibt Einblicke in die Wahrnehmungen von Fachkräften in der Sozialen Arbeit. Väter wurden im Vergleich zu Müttern weniger als für ihre Kinder verantwortlich gesehen. Im Fokus der Unterstützungsangebote stand in erster Linie die Mutter-Kind-Dyade. Erschwerte Lebenserfahrungen der Eltern deuteten die Interviewpartner als Barrieren für eine weniger gelingende Elternschaft. Die Analyse zeigte, dass die Praktikerinnen ihr fachliches Selbstverständnis stark am jeweiligen Fachbereich ausrichteten. Die Fachkräfte betonten, dass heute zunehmend Unterstützungsstrukturen für Sexualität und sexuelle Reproduktion geschaffen würden, anstatt diese aktiv zu verhindern.
Kapitel acht setzt sich mit den „Interviewten Mütter und Väter“ auseinander. Es wurden neun Fallvignetten von Müttern und Vätern dargestellt, die sich überwiegend als ‚normale Eltern‘ ansahen. Die Deutungen der Eltern spiegelten gesellschaftliche Erwartungen an Mütter und Väter wider, etwa an Mütter als Hauptverantwortliche für Erziehung und Pflege des Kindes und an Väter als finanzielle Versorger. Im Gegensatz zu einer Verinnerlichung von Defizitorientierungen beanspruchten die Selbstbezeichnung Menschen mit Lernschwierigkeiten bewusst für sich und fühlten sich dadurch als Personen bestärkt. Für ihre Kinder wünschten sie sich einen leichteren Zugang zur Erwerbstätigkeit und zur Bildung.
Das vorletzte Kapitel thematisiert „Das Verhältnis von Zuschreibungen, Fremdwahrnehmungen und Selbstverständnissen in der (DE-)Konstruktion von Elternschaft und (Dis)Abilitty“. Hier werden ausgewählte Forschungserkenntnisse theoretisch beleuchtet. Das Selbstverständniss von Vätern reiche über eine Definition als materieller Versorger hinaus und umfasse die Relevanz ihrer Vorbildfunktion für die Kinder. Die Mütter fühlten sich ihrem Partner gegenüber verantwortlich für ihre Kinder. Es gehe um die Gleichsetzung einer Zuschreibung von Lernschwierigkeiten mit dem Versagen der Behinderung und der Reduzierung auf diese.
Das letzte Kapitel widmet sich der „Zusammenfassung und Ausblick: (An-Forderungen an Soziale Arbeit mit Eltern mit Lernschwierigkeiten“. Zunächst fasst die Autorin die Forschungserkenntnisse ihrer Arbeit kapitelweise zusammen, um dann Forschungsdesiderate zu formulieren. Eltern mit Lernschwierigkeiten fühlten sich von der sozialpädagogischen Intervention der Ämter kontrolliert und nehmen sie oft als Gefahr ihres Familienlebens wahr.
Diskussion
Es ist, wie man zu sagen pflegt, eine „brave“ Dissertationsschrift, die in ihrer Originalität nicht sonderlich aussagekräftig ist. Es werden fast alle erkenntnistheoretischen Wege beschritten, die im Methodenkoffer zu finden sind, was teilweise etwas übertrieben ist. Der Gegenstand der Forschungsarbeit, Eltern mit Lernschwierigkeiten zu untersuchen, erscheint mir etwas zu weit hergeholt, zumal an keiner Stelle diskutiert wird, was Lernschwierigkeiten genau sind, wie weit sie gehen, wo sie anfangen und wo sie aufhören.
Fazit
Die Arbeit enthält Aussagen zur Bedeutung von Selbst- und Fremdwahrnehmungen, Zuschreibungen von Menschen mit Lernschwierigkeiten, die ständig mit Unzulänglichkeiten und einem negativen Selbstbild zu kämpfen haben. Für Promovenden ist die Arbeit sicher wertvoll zu lesen, weil sie insgesamt den Werkstoffkoffer der Wissenschaft beherrscht und Fachtermini gut begründet dargestellt werden.
Rezension von
Prof. Dr. habil. Gisela Thiele
Hochschule Zittau/Görlitz (FH)
Berufungsgebiete Soziologie, Empirische
Sozialforschung und Gerontologie
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Es gibt 190 Rezensionen von Gisela Thiele.
Zitiervorschlag
Gisela Thiele. Rezension vom 27.02.2023 zu:
Rahel More: Disability, Elternschaft und Soziale Arbeit. Zur Bedeutung von Zuschreibungen, Fremdwahrnehmungen und Selbstverständnissen für Eltern mit Lernschwierigkeiten. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2021.
ISBN 978-3-8474-2537-3.
Schriftenreihe der ÖFEB-Sektion Sozialpädagogik - 7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28789.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.
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