Rolf Schumacher: Szene, Habitus und Metaphorik
Rezensiert von Karsten Giertz, 02.02.2022

Rolf Schumacher: Szene, Habitus und Metaphorik. Konzepte für eine praxeologische Theorie psychotherapeutischer Profession. transcript (Bielefeld) 2021. 658 Seiten. ISBN 978-3-8376-5695-4. D: 40,00 EUR, A: 40,00 EUR, CH: 48,70 sFr.
Thema
Mit der zunehmenden Ökonomisierung, Manualisierung und der Orientierung an naturwissenschaftlicher Evidenzbasierung, lässt sich ein Rückgang der Berücksichtigung von sozialen und gesellschaftlichen Determinanten von psychischen Belastungen und Erkrankungen in der Psychotherapie ausmachen. Viele der aktuellen Diskussionen zur Profession und Praxis der Psychotherapie werden von Nahbardisziplinen wie der experimentellen Psychologie, Psychiatrie, Pädagogik, Neurowissenschaften oder anderen naturwissenschaftlich orientierten Disziplinen dominiert. In diesem Diskurs ist der autonome Status der Psychotherapie als Disziplin – welche sich explizit mit den Bedingungen der Veränderbarkeit durch eine professionelle Form der sozialen und intersubjektiven Praxis befasst – stark bedroht. Vielmehr bedarf es eine eigene praxeologische Theorie psychotherapeutischer Profession, die die Kernkompetenzen und Kernidentität psychotherapeutischer Praxis und Theorie rekonstruiert und herausstellt (vgl. Wendisch 2021).
Autor
Rolf Schumacher ist Psychologischer Psychotherapeut für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bei Erwachsenen in eigener Praxis mit kassenärztlichem Versorgungsauftrag und war viele Jahre in Reha-Kliniken im Bereich Psychosomatik und Sucht tätig.
Aufbau
Bei dem Buch „Szene, Habitus und Metaphorik“ handelt es sich um eine Monographie die insgesamt 655 Seiten umfasst. Neben einem Vorwort von Martin Wendisch, einem Vorwort des Autors, einer Einleitung, einem Ausblick zur Zukunft der Psychotherapie und einem Epilog zur Psycho-Politik und Ökonomie-System gliedert sich das Buch strukturell in 4 übergeordnete Kapitel und 33 Unterkapitel. Aufgrund des Umfanges kann auch die Einleitung als ein separates Kapitel angesehen werden, dass ausführlich in den Hintergrund des Buches einführt und wichtige Inhalte zur Problemstellung des Buches bereits im Vorfeld diskutiert.
Inhalt
Inhaltlich lässt sich das Buch „Szene, Habitus und Metaphorik“ in drei übergeordnete Abschnitte einordnen. Zu Beginn widmet sich der Autor in einer umfassenden Einleitung dem Problemverständnisses des Buches. Neben einer Einführung in die philosophische Erkenntnistheorie kritisiert der Autor, dass durch den Einfluss verschiedener Nachbardisziplinen die psychotherapeutische Profession stark gefährdet ist ihren autonomen Status zu verlieren. Im Zusammenhang unter anderem mit der spezifischen psychotherapeutischen Veränderungsprozessen, der Intersubjektivitätslogik und der Beziehungsgestaltung, welche das psychotherapeutische Prozessgeschähen ausmachen, arbeitet der Autor die spezifische Eigenlogik psychotherapeutischer Praxis heraus, die mittels theoretischen Erklärungsansätzen aus den Nachbardisziplinen oder der empirisch-wissenschaftlichen Psychotherapieforschung nur unzureichend erfasst werden können.
Aufgrund der Eigenlogik psychotherapeutischer Praxis bedarf es eines eigenständigen Paradigmas für die Psychotherapie, dass sich vielmehr an sozial- und geisteswissenschaftlichen Methoden der Erkenntnis- und Theoriegenerierung orientiert. So schreibt er „Aufgabe einer erkenntnistheoretischen Metatheorie für Psychoanalyse wäre, zu zeigen, dass psychotherapeutische Veränderungsprozesse einer eigenen Logik folgen sowie Konzepte zu entwickeln, mit deren Hilfe diese Veränderungsprozesse befördert und erklärt werden können“ (S. 41). Mittels dieser Metatheorie soll nachvollziehbar gemacht werden, „was der Psychotherapeut in seiner Praxis eigentlich […] tut, wie und warum er es so tut, also eine „Theorie der psychotherapeutischen Praxis“ ausformulieren, die sich von der Praxis anderer Professionen unterscheidet“ (S. 115). Unter der Bezugnahme der drei zentralen Konzepte von Szene (Alfred Lorenzer), Habitus (Pierre Bourdieu) und Metaphorik (Michael Buchholz) lässt sich die innere Logik der Psychotherapie nach dem Autor nur aus der dialektischen Vermittlung zwischen Praxis und Theorie zu begreifen und rekonstruieren.
Um dies darzustellen beschäftigt sich der Autor im zweiten Teil des Buches mit dem Leben und den zentralen Konzepten des Psychoanalytikers und Soziologen Alfred Lorenzer, des Soziologen Pierre Bourdieu und des Psychoanalytikers Michael Buchholz.
Ausgehend von der Behandlung von Patient*innen mit Traumafolgestörungen beschäftigte sich bereits Lorenzer mit der spezifischen Logik der Psychoanalyse als Theorie psychoanalytischer Praxis. Im Zusammenhang mit dem Leben und Werk von Lorenzer fasst der Autor seine Arbeiten zur Theorie der psychoanalytischen Praxis und zum Konzept der Szene zusammen. Nach Lorenzer bildet das Konzept des szenischen Verstehens ein praktisches Basiselement und -instrument der psychoanalytischen Erkenntnisbildung. Durch die Systematisierung hermeneutisch relevanter lebenspraktischer und berufspraktischer Erfahrungen des bzw. der Analytiker*in, werden Interpretationsschemata und Interaktionsdispositionen gebildet, die die Grundlage der praxeologischen psychoanalytischen Theoriebildung bilden. Dabei muss bei der Theoriebildung sowohl das hermeneutische Feld zwischen Analysanden und Analysierenden als auch das hermeneutische Feld im Rahmen einer intersubjektiven Reflexion (Supervision, Fallbesprechungen etc.) gewährleistet sein und Erfahrungen aus beiden Feldern einfließen. Nur durch die Validierung durch die beiden hermeneutischen Felder kann nach Lorenzer ein wissenschaftlicher Anspruch generiert werden.
Im Anschluss stellt der Autor das Werk von Bourdieu vor und speziell seine Arbeiten zur Theorie der sozialen Praxis, Habitustheorie sowie zur Theorie der sozialen Felder. Vor allem die Habitustheorie und die Theorie der sozialen Praxis bilden nach Ansicht des Autors wichtige integrale Teilkonzepte eines Gesamtkonzeptes einer praxeologischen Theorie der Psychotherapie (S. 500). Im Rahmen seiner Theorie der sozialen Praxis differenziert Bourdieu zwischen wissenschaftlichen Praxisformen und sozialer Alltagspraxis, die beide unterschiedlichen Logiken folgen. Bei der Erkenntnisproduktion müssen jedoch beide Formen der Praxis berücksichtigt und der Dualismus zwischen Subjektivismus (im Sinne der Alltagspraxis) und Objektivismus (im Sinne der wissenschaftlichen Praxis) durch eine Dialektik von Theorie und Praxis überwunden werden: „Theorie ohne Praxis wäre leer, Praxis ohne Theorie wäre blind“ (S. 245). Der Habitus ist das implizite körperlich und sozial erworbene Wissen im Zusammenhang mit der milieu- und schichtspezifischen Sozialisation. Im sozialen Raum, der das typologisch Ganze der Gesellschaft bildet, werden die einzelnen sozialen Felder, welche spezifische Lebenswelten und Mikrokosmen der Gesellschaft darstellen theoretisch abgebildet. Der Habitus vermittelt zwischen den gesellschaftlichen Bedingungen und der sozialen Praxis.
Nach Ansicht des Autors konstituiert auch die psychoanalytische Behandlung einen sozialen Raum zwischen Analytiker*in und Analysand*in, indem zwei Menschen mit unterschiedlichen habituellen Hintergründen aufeinandertreffen. Als Rahmentheorie psychoanalytischer Praxis kann die Milieutheorie von Bourdieu dazu beitragen, dass Therapeut*innen sensibilisiert werden, sich die unterschiedlichen habituellen Hintergründe zwischen sich und den Patient*innen bewusst zu machen, ein besseres Verständnis für die soziale Situation der Patient*innen zu entwickeln und ein Passungsverhältnis in der Beziehung herzustellen. Darüber hinaus kann das Herausarbeiten der feldspezifischen Eigenschaften in der psychoanalytischen Praxis hilfreich bei der Entwicklung einer praxeologischen Theorie der Psychotherapie sein.
Zu guter Letzt gibt der Autor einen Einblick in die Arbeit von Buchholz zur Psychoanalyse, zur qualitativen Psychotherapieforschung, zur psychoanalytischen Familientherapie und zu Metaphorik und Metaphernanalyse in der Psychotherapie sowie zur Theorie einer psychotherapeutischen Profession. Ausgehend von seinen Arbeiten zur Integration psychoanalytischer Methoden in die Familientherapie erkannte Buchholz, dass das Medium innerhalb des psychoanalytischen Feldes durch Sprache insbesondere durch Metaphorik gebildet wird. Metaphern leiten aktiv die soziale Praxis und bilden Konzeptualisierungen und Hintergrundannahmen der Therapeut*innen und der Patient*innen ab (S. 273 ff). Die Institutionalisierung eines reflexiven Umgangs mit Metaphern im Sinne eines hermeneutischen Feldes ist somit nach Buchholz ein wichtiges Instrument der psychoanalytischen Praxis. Im Rahmen einer Prozessanalyse können Metaphern auf Seiten der Therapeut*innen und Patient*innen sowie deren Hintergrundannahmen explizit gemacht werden. Nach dieser Auffassung sollte eine Theorie der psychotherapeutischen Profession nach Buchholz nicht die psychotherapeutische Praxis anleiten, sondern zur Rechtfertigung oder zu Korrektur der Interventionen beitragen. Es geht darum ein reflexives Gegengewicht zur theoriegeleiteten und manualisierten Psychotherapie herzustellen. Auch mittels der Anwendung der sozialwissenschaftlichen Metaphernanalyse kann ein Pendant zur naturwissenschaftlich orientierten RCT-Forschung in der Psychotherapieforschung hergestellt werden, wodurch die Prozesse innerhalb der psychotherapeutischen Behandlung stärker in den Fokus rücken sowie die spezifischen Wirkweisen und Veränderungen durch psychotherapeutische Behandlung besser herausgearbeitet werden können.
Im dritten Teil veranschaulicht der Autor anhand von drei Therapiegeschichten die Anwendung der drei Konzepte Szene, Habitus und Metaphorik. In der ersten Therapiegeschichte wird der behandlungsverlauf einer 28 Jahre alten Patientin mit einer Essstörung und Borderline-Persönlichkeitsstörung beschrieben. Die zweite Fallgeschichte handelt von einer weiblichen Patientin mittleren Lebensalter, die unter einer schweren depressiven und psychosomatischen Symptomatik leidet. In der dritten Fallgeschichte wurde der Behandlungsverlauf einer 48 Jahre alten Patientin, welche Anzeichen einer Angst- oder Traumafolgestörung aufweist. Das psychotherapeutische Vorgehen orientierte sich bei allen Patientinnen an den Grundprinzipien einer integrativen psychodynamisch-dialektischen Psychotherapie.
Im Anschluss der Auswertung und Beschreibung der Therapiegeschichten legt der Autor in einer reflexiven Zusammenfassung nahe, wie durch die intuitive Anwendung der Konzepte Szene, Habitus und Metaphorik Veränderungsprozesse im Therapieverlauf ermöglicht und das therapeutische Handeln durch deren Anwendung ergänzt werden konnte. Hierzu zählen wichtige Integrations- und Dekonstruktionsprozesse durch das szenische Verstehen oder die Metaphernanalyse oder die Anwendung des Habituskonzeptes bei der Herstellung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung.
Abschließend resümiert der Autor in seinem Ausblick zur Zukunft der Psychotherapie, dass insbesondere durch die Dominanz von naturwissenschaftlichen Disziplinen innerhalb des Diskurses zur Psychotherapie und innerhalb der Psychotherapieforschung, ein eigenständiges Paradigma – das die Psychotherapie als soziale Praxis versteht wichtig ist –, um dem Status- und Anerkennungsverlust entgegenzuwirken. Aktuell befindet sich die Psychotherapie immer noch in einem prä-paradigmatischen Zustand. In Zukunft bedarf es eine dialektische Auseinandersetzung innerhalb der Profession zwischen „Logik, Ethik und Empirie“, bei der normative Werte und Ideale als wichtige Humanitätskriterien mit einbezogen werden müssen, um den Status von Psychotherapie als eigenständiges Heilverfahren gegenüber anderen Disziplinen zu verbessern.
Diskussion
In Zeiten der zunehmenden Ökonomisierung, Manualisierung sowie der Dominanz der Neurowissenschaften und der RCT-Forschung in der Psychotherapie greift der Autor Rolf Schumacher in seiner Monographie ein wichtigstes Thema auf, dass in den letzten Jahren vor allem durch die Vertreter*innen der „Kritischen Psychotherapie“ (vgl. Wendisch et al. (Hrsg.) 2021) in den Fokus der Fachöffentlichkeit geraten ist. Aus dieser Perspektive heraus steht die Profession der Psychotherapie an einem Scheideweg. Durch den Einfluss von naturwissenschaftlichen Disziplinen verliert sie immer mehr ihren eigenständigen Status und das Soziale psychotherapeutischer Praxis gerät zunehmend aus den Augen. Ganz im Gegensatz zu dieser Entwicklung bestehen auf der anderen Seite Bemühungen die Profession der Psychotherapie unter Rückgriff auf sozial- und geisteswissenschaftliche Konzepte als eine kritische Disziplin der Humanwissenschaften zu etablieren, die in der Lage ist natur-, sozial- und geisteswissenschaftliche Erkenntnisse zu integrieren.
Seine Monographie „Szene, Habitus und Metaphorik“ kann als ein wichtiger Beitrag zu diesem Diskurs angesehen werden. Vor allem unter Rückgriff der philosophischen Erkenntnistheorie macht der Autor auf die Spezifika psychotherapeutischer Praxis aufmerksam und formuliert eine Vielzahl von Argumenten für die Notwendigkeit einer eigenen praxeologischen Theorie der Psychotherapie. Exemplarisch zeigt er am Beispiel der Konzepte Szene, Habitus und Metaphern auf, wie die Entwicklung einer Metatheorie der Psychotherapie durch sozial- und geisteswissenschaftlich geprägte Konzepte profitieren kann. Er arbeitet die Gemeinsamkeiten zwischen den unterschiedlichen Theorieansätzen heraus und verbindet diese geschickt mit der psychotherapeutischen Praxis und Forschung.
Allerdings wird der Zugang zu seiner Monographie durch eine fehlende inhaltliche Struktur des Buches erschwert. Allgemein fehlt es an einer allgemeinen Einführung, die die Leser*innen bereits zu Beginn in die Struktur und in den logischen Aufbau des Buchinhaltes einführt. Die einzelnen Kapitel werden nicht eingeführt. Allerdings unterscheiden sie die einzelnen Kapitel vom Aufbau und Umfang im erheblichen Maße und sind teilweise auch inhaltlich nicht aufeinander bezogen. Der Autor verliert sich in Exkurse, Zusammenfassungen und Nebenthemen, was dazu führt, dass er sich an vielen Stellen wiederholt und die Leser*innen viel Geduld aufbringen müssen, um der Argumentation des Buches zu folgen.
Fazit
Für Leser*innen, die in der psychotherapeutischen Behandlung tätig sind, sich mit Kritischer Psychotherapie oder mit den verschiedenen Professionstheorien der Psychotherapie beschäftigen, gehört das Buch „Szene, Habitus und Metaphorik“ zu einer sehr bereichernden Lektüre, die Impulse für neue Ideen und zur Reflexion der psychotherapeutischen Praxis generiert.
Literatur
Wendisch, M. (Hrsg.) (2021). Kritische Psychotherapie – Interdisziplinäre Analysen einer leidenden Gesellschaft. Bern, Hogrefe Verlag.
Rezension von
Karsten Giertz
M. A., ist Geschäftsführer des Landesverbandes Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e. V., Vorstandsvorsitzende des European Centre of Clinical Social Work e.V., Mitglied im Institut für Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. sowie in den Fachgruppen Sektion Klinische Sozialarbeit und Case Management der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit. Er promoviert an der Universitätsmedizin Greifswald zur psychosozialen Versorgung von Borderline-Patientinnen und -Patienten und hat mehrere Lehraufträge und hat mehrere Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen und Institutionen für Klinische Sozialarbeit, psychosoziale Beratung und Unterstützung von Menschen mit psychischen Erkrankungen sowie Sozialpsychiatrie und Psychotherapieforschung.
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