Marc Hill, Caroline Schmitt (Hrsg.): Solidarität in Bewegung
Rezensiert von Prof.in Dr.in Karin E. Sauer, 02.11.2021

Marc Hill, Caroline Schmitt (Hrsg.): Solidarität in Bewegung. Neue Felder für die Soziale Arbeit.
Schneider Verlag Hohengehren
(Baltmannsweiler) 2021.
289 Seiten.
ISBN 978-3-8340-2161-8.
28,00 EUR.
Reihe: Grundlagen der sozialen Arbeit - Band 44.
Thema
Marc Hill und Caroline Schmitt zeigen in dem von ihnen herausgegebenen Band verschiedene Aspekte von Bewegungen auf, die für eine solidarisch orientierte Soziale Arbeit an Relevanz gewinnen. Die Autor:innen setzen sich als gesellschaftliche und sozialwissenschaftliche Akteur:innen mit den sich verschärfenden Existenzbedingungen von Menschen auseinander, die durch verschiedene Lebensereignisse auf Solidarität anderer angewiesen sind. Die einzelnen Kapitel verdeutlichen die Komplexität dieser Problemstellung und ermöglichen facettenreiche Perspektiven auf sich neu formierende, solidarische Umgangsmöglichkeiten mit strukturellen, diskursiven und subjektiven Formen von Exklusion. Alle Kapitel durchzieht dabei die grundsätzliche Orientierung an einem existenziellen menschlichen aufeinander Bezogensein, das auch im Rahmen Sozialer Arbeit neu zu verhandeln ist.
Herausgeber:innen
Marc Hill ist assoziierter Professor am Institut für Erziehungswissenschaft der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Caroline Schmitt ist Professorin für Migrations- und Inklusionsforschung am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.
Entstehungshintergrund
Der Inhalt von „Solidarität in Bewegung“ findet sich in einem bewegten Entstehungsprozess wieder: Die Herausgeber:innen nahmen die seit 2015 durch verstärkte Migrationsbewegungen ausgelösten gesellschaftlichen Reaktionen zum Anlass, sich mit lokalen und globalen Formen von Solidarität auseinanderzusetzen. Inspiriert durch Gespräche mit Aktivist:innen, Künstler:innen, Studierenden und Wissenschaftler:innen mit Freund:innen und Nachbar:innen (S. 15) initiierten Marc Hill und Caroline Schmitt den Band mit einem Autor:innenteam, das die zugrundeliegenden Problematiken sozialer Ungleichheit in vielfältigen Ausprägungen reflektierte, insbesondere im Kontext von Rassismus und mangelnder Klimagerechtigkeit. Während der finalen Schreibphase stellte sich eine zusätzliche Dynamik ein: Alle Beteiligten wurden „von den viel beschworenen Solidaritätsappellen während der Viruskrise eingeholt und stellten ihre erkenntnistheoretischen und methodologischen Zugänge und empirischen Herangehensweisen auf den Prüfstand“ (S. 281).
Aufbau
Die vier Hauptteile „Zugänge“, „Aktionen“, „Allianzen“, „Drehbühnen“ (S. V f.) sind eingebettet in ein Geleitwort (Gürses), eine Einführung und ein Postskriptum (Hill/Schmitt). Das Geleitwort lotet Solidarität in Krisenzeiten aus, indem es deren aktuelle Erscheinungsformen der Coronakrise, der Klimakrise und der Flüchtlingskrise in Bezug setzt zu solidarischen Reaktionen (Verzicht, Zivilcourage, Widerstand). Daraufhin spannt die Einführung einen Bogen von einem solidarisch motivierten Grundverständnis Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession zu solidarischen Praxen in gesellschaftlichen Experimentierfeldern, „in welchen neuen Ideen für das Zusammenleben in einer Weltrisikogesellschaft (Beck, 2007) emergieren“ (S. 12). Hier wird die Metapher von „Solidarität als Riesenrad“ verwendet (S. 13), die „nach der Fahrt“ in einen Ausblick mündet (S. 281). Das Riesenrad der Solidarität steht für den Antrieb von Menschen mit einem geteilten Anliegen, etwas für die Verbesserung unserer Welt greifbar werden zu lassen (S. 13). Dieses Sinnbild scheint in allen Kapiteln des Buches durch.
Der sozialarbeitswissenschaftliche Einstieg erfolgt über professionstheoretisch verankerte „Zugänge“ (S. 33 ff.). Sie widmen sich der Frage nach Solidarität in der Sozialen Arbeit mit planetaren (Scherr), disziplinären (Bettinger), historischen (Köngeter/Lau) und asylpolitischen (von Grönheim) Fokussierungen. Daran anschließend werden solidarische „Aktionen“ (S. 107 ff.) in Bezug auf Migrationsbewegungen diskutiert, insbesondere im Kontext Flucht. Es folgen Reflexionen zu „Allianzen“ (S. 169 ff.) anhand von Beispielen wie Klimagerechtigkeitsbewegungen (Posmek) oder Entwicklungszusammenarbeit (Morales/Rüber/Schubert). Zuletzt werden auf „Drehbühnen“ (S. 219 ff.) Inszenierungen zukunftsweisender bzw. utopischer (Forschungs-)Praxen solidarischer Sozialer Arbeit dargestellt.
Inhalt
Ein Interview mit Albert Scherr eröffnet die „Zugänge“ zu Solidarität, Antirassismus und der Kraft von Utopien. Dabei fordert er, „das Bewusstsein dafür [zu] stärken, dass wir tatsächlich alle auf einem Planeten leben“ (S. 35). Während Frank Bettingers Beitrag sich daraufhin auf Kritische Soziale Arbeit und Solidarität fokussiert, nehmen Stefan Köngeter und Dayana Lau Solidarität als Grenzbearbeitung in der Geschichte Sozialer Arbeit am Beispiel der Settlement-Bewegung in den Blick. Schließlich analysiert Hannah von Grönheim Solidarität und Entsolidarisierung in der europäischen Asylpolitik und leitet Herausforderungen für die Soziale Arbeit ab.
„Es ist Zeit zu handeln!“ ist der Aufruf von Carola Rackete, der den Teil zu solidarischen „Aktionen“ einleitet. Als Kapitänin der Sea-Watch 3 hatte sie – gegen das Verbot des italienischen Innenministeriums – aus dem Mittelmeer gerettete Menschen in den Hafen von Lampedusa gebracht. In ihrem Beitrag weist sie darauf hin, dass wir es primär mit einer Gerechtigkeitskrise zu tun haben (S. 109). Darauf geht auch Gudrun Hentges‘ Beitrag ein, der die Kriminalisierung solidarischen Handelns in Europa am Beispiel der Seenotrettung thematisiert. Claudia Lintner setzt dort an, wo der „Krisendiskurs zur Alltagspraxis“ wird, und reflektiert Solidaritätsbewegungen und Soziale Arbeit im Fluchtkontext (S. 135). Andreas Kewes‘ Rückblick auf Solidarität in der frühen westdeutschen Flüchtlingsbewegung geht der Frage nach, „wer eigentlich mit wem solidarisch sein wollte“. Seine Analyse stellt starke gegenseitige Positionierungen sowohl seitens engagierter Nicht-Geflüchteter wie seitens der Migrant:innenorganisationen fest (S. 165).
Daraus ergibt sich eine Schnittstelle zum Themenkomplex „Allianzen“, der von Markus Ottersbachs Kapitel zu urbaner Segregation und politischer Partizipation im Stadtteil eröffnet wird. Im Anschluss bietet Jana Posmek empirische Einblicke in ein Feld gemeinschaftlichen Aufbegehrens „ökologischer“ Subjekte am Beispiel von Fridays for Future (S. 179). Laura Morales, Theodor Rüber und Angelika Schubert legen anhand der Arbeit einer deutschen NGO, die in Kolumbien engagiert ist, dar, dass „solidarisch motivierte Entwicklungszusammenarbeit immer auch ein Zusammenspiel sich widersprechender Ansprüche und Bedürfnisse der verschiedenen Beteiligten“ ist (S. 204). In ihrem Kapitel „Den Umständen zum Trotz – Solidarität und Freundschaft unter Frauen und Mädchen zweiter und dritter Generation“ rückt Miriam Yildiz subjektorientierte Umgangsweisen mit strukturellen Formen sozialer Ausgrenzung ins Bewusstsein (S. 205).
Um ‚postmigrantisches‘ Empowerment geht es auch im ersten Unterkapitel der „Drehbühnen“: Tuğba Önder und Tunay Önder leisten mit „A wie Ayşe. B wie Babo. C wie Chabo postmigrantische Entwicklungshilfe für die weiße Parallelgesellschaft“ (S. 221). Eine weitere kulturpädagogische Herangehensweise verfolgt Michael Wrentschur, der Potenziale politisch-partizipativer Theaterarbeit für eine solidarische Soziale Arbeit benennt, um Grenzen zu öffnen und Realitäten zu verbinden (S. 225). Der hier im Rahmen von politischer Kulturarbeit hergestellte ‚utopische Raum‘ wird in den beiden Folgekapiteln in konkrete Utopien überführt, mit denen sich weitere professionelle und disziplinäre ‚Experimentierfelder‘ erschließen lassen: Vinzenz Thalheim schreibt zur konkreten Utopie einer solidarischeren Jugendhilfe, für die er Bedingungslosigkeit statt Stigmatisierung fordert (S. 244). Miriam Sitter geht auf partizipatives Forschen als solidarische Praxis ein (S. 262), in der „versucht wird, kollaborativ nach Beweisen zu suchen, wie die Dinge funktionieren und besser funktionieren könnten. […] Akademische Forschende verbünden sich mit den persönlichen Anliegen von Menschen als Co-Forschende, indem sie für die Sichtbarmachung dieser Anliegen ihre vorhandenen Ressourcen zur Verfügung stellen“ (S. 270).
Diskussion
Mit „Solidarität in Bewegung“ gelingt Marc Hill und Caroline Schmitt (Hrsg.) über eine Vorstellung neuer Felder für die Soziale Arbeit hinaus auch eine differenzierte Revision bereits verstetigter Formen gesellschaftlicher Solidarität in institutionalisierten und gesetzlichen Rahmungen. Das Buch vergegenwärtigt die verschiedenen Phasen von sozialen Bewegungen, die sowohl in ihren aktuellen transformativen Dynamiken als auch in ihren über die Zeit zu Konstanten erstarrten Strukturen das Potenzial bergen, neue Richtungen zu nehmen – sei es hin zu Solidaritäten oder zu Entsolidarisierungen.
Neben den inhaltlichen Verzahnungen und Kontrastierungen der einzelnen Beiträge und ihrer zusammenfassenden Einordnungen wird zusätzlich eine feine verbindende Ebene erzeugt durch die kunstfertig gewählte Bildsprache zu Bewegung in ihren vielfältigen Ausdrucks- und Wahrnehmungsformen. Besonders inspirierend wirkt das alle Kapitel umschließende Motiv des Riesenrads der Solidarität, das uns zyklisch Vogel- und Froschperspektiven einnehmen lässt und uns selbst dazu bewegt, unsolidarischen Beharrungskräften mit solidarischen Schwungkräften zu begegnen.
Fazit
Insgesamt ist „Solidarität in Bewegung“ ein gleichermaßen anspruchsvolles wie anregendes Werk, das sich für Studierende, Dozierende und Praktiker:innen der Sozialen Arbeit eignet, insbesondere um professionsethische Grundfragen anhand aktueller Entwicklungen zu klären. Für sozialpolitische Aktivist:innen dürfte die Lektüre ebenfalls interessant sein.
Die Autor:innen des Buches liefern aus verschiedenen Feldern der Sozialwissenschaften, des zivilgesellschaftlichen Engagements und auch aus damit verbundenem Erfahrungswissen zwingende Argumente für eine neue Abstimmung grundsätzlicher Fragen menschlicher Solidarität in einem global und lokal existenziellen miteinander Verbundensein. Welche Ebenen unserer Lebenswelten dies auf welche Weise betrifft, wird insbesondere durch die Mischung der verschiedenen Hintergründe der Autor:innen verdeutlicht. Die Impulse, die von ihren durchweg anschaulichen Beiträgen ausgehen, laden zu einer Auseinandersetzung mit eigenen habituellen Prägungen und ‚Normalitäten‘ ein und in der Konsequenz dazu, eigene Privilegien im Sinne eines differenzsensiblen Powersharings solidarisch zum Besten von allen und allem einzusetzen.
Rezension von
Prof.in Dr.in Karin E. Sauer
Dipl.-Päd., Master in Diversity Education, Professorin für Soziale Arbeit an der DHBW VS, Fakultät für Sozialwesen
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Es gibt 3 Rezensionen von Karin E. Sauer.
Zitiervorschlag
Karin E. Sauer. Rezension vom 02.11.2021 zu:
Marc Hill, Caroline Schmitt (Hrsg.): Solidarität in Bewegung. Neue Felder für die Soziale Arbeit. Schneider Verlag Hohengehren
(Baltmannsweiler) 2021.
ISBN 978-3-8340-2161-8.
Reihe: Grundlagen der sozialen Arbeit - Band 44.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28806.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.
Urheberrecht
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