Hans Mathias Kepplinger: Risikofallen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 23.09.2021
Hans Mathias Kepplinger: Risikofallen. Und wie man sie vermeidet. Herbert von Halem Verlag (Köln) 2021. 198 Seiten. ISBN 978-3-86962-614-7. D: 23,00 EUR, A: 23,70 EUR.
Leben ist Risiko
Im anthropologischen, philosophischen und existentiellen Diskurs zur Frage, was (menschliches) Leben ist, was der Mensch über das Leben wissen könne, was er tun solle und hoffen dürfe (Immanuel Kant) kommen weltanschauliche Prämissen ins Spiel: Ist Leben Gottes- oder Menschenwerk? (vgl. dazu: Michael Tomasello, Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/​27385.php). Es sind die vielfältigen Einschätzungen darüber, wie Leben und Überleben möglich wird (Ben Sherwood, Wer überlebt? Warum Menschen in Grenzsituationen überleben, andere nicht, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8908.php), dass die Menschheit in einer Weltrisikogesellschaft lebt (Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft, 2007, www.socialnet.de/rezensionen/4820.php), wie Denken und Handeln unter Risikobedingungen möglich wird (Herfried Münkler, Hrsg., Handeln unter Risiko. Gestaltungsansätze zwischen Wagnis und Vorsorge, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/​10384.php), wie man bei Risiken die richtigen Entscheidungen treffen kann (Gerd Gigerenzer, Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/​15271.php), und wie ein vernünftiger Umgang mit Gefahren sinnvoll ist (Julian Nida-Rümelin/Nathalie Weidenfeld, Die Realität des Risikos, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/​28566.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Wenn Risiken, Gefährdungen und Bedrohungen auftreten, wie z.B. aktuell die globalen, gesundheitsgefährdenden Covid-19-Pandemien, gibt es im gesellschaftlichen Diskurs unterschiedliche wissenschaftliche, populäre, populistische und wirklichkeitsleugnende Argumentationen. Die europäische Internet-Kampagne „ZeroCovid“ ruft auf, die Gefahren der Infektionen durch einen konsequenten Shutdown zu reduzieren, privat, beruflich und öffentlich die Kontakte auf ein Minimum zu beschränken, die Impfstoffe als globales Gemeingut zu erklären und verfügbar zu machen. Die sich daraus entwickelnden solidarischen und kapitalismuskritischen Forderungen haben der Initiative eine hohe, öffentliche Aufmerksamkeit und Zustimmung beschert. Sie wurden bestimmt von individuellen und kollektiven Hoffnungen, dass ein menschliches Leben als Null-Risiko-Dasein möglich sei.
Der Politologe, Historiker und Publizist Hans Mathias Kepplinger erkennt darin Fallstricke und Fehlschlüsse. Er verweist darauf, dass sich zwar beim Fortschritt und bei den Wandlungs- und Veränderungsprozessen in der Menschheitsgeschichte Risiken für Leib und Leben reduziert hätten; sie seien aber nicht beseitigt – und möglicherweise in einigen Fällen sogar unkalkulierbarer geworden. Damit der Illusion, der Mensch könne ohne Risiko leben, nicht das individuelle und kollektive Bewusstsein der Menschheit bestimmt, kommt es darauf an zu erkennen: „Es gibt kein Handeln ohne Risiko“ – „Risiko und Vertrauen sind keine Gegensätze, sondern zwei Seiten einer Medaille“ – „Wer an O-Risiken glaubt, ist ein naiver Schelm“.
Aufbau und Inhalt
Neben der Einleitung in die Thematik gliedert der Autor seine Analyse über „Risikofallen“ in elf Kapitel.
Im ersten führt er ein in „Entwicklung und Vergleich von Risiken“. Dabei kommt er zu dem Ergebnis: „Bei der Beurteilung und Diskussion von Risiken gibt es keine Sicherheiten, aber mehr oder weniger wahrscheinliche Erkenntnisse und Entwicklungen“ – und zum Paradox: „Die Vermeidung von Risiken führt nahezu immer zu neuen Risiken“. Im zweiten Kapitel schlüsselt er die verschiedenen „Risikoarten und den rationalen Umgang“ damit auf. Die Unterscheidungen und differenzierte Beachtung von individuellen und kollektiven, von theoretischen und tatsächlichen Risiken erfordern rationale Einstellungen und wirklichkeitsbestimmtes Bewusstsein. Im dritten Teil geht es um „Wahrnehmung und Einschätzung von Risiken“. Sie erfordern eine gefestigte, stabile Identität, Optimismus und Auseinandersetzung mit Ängsten und Alternativen. Viertens wird „Verhalten bei Risiken“ thematisiert: Es sind Chancen und Gefährdungen, die es individuell und dialogisch zu bedenken gilt. Fünftens werden „Akteure und Arenen“ von Risiken diskutiert. Es ist nicht das Schneckenhaus, sondern die Kommunikationsbühne, die die Balance zwischen Eigeninteressen, -gefahren und Schäden zustande bringt. Im sechsten Kapitel geht es um „reale und dargestellte Risiken“. In der medialisierten Welt sind scheinbare und tatsächliche Informationen jederzeit verfügbar; Meinungsbildung und Manipulation liegen nahe beieinander. Es kommt z.B. siebtens darauf an, sich der „Veränderung der Darstellung von Risiken und Schäden“ bewusst zu werden. Es bedarf der Aufmerksamkeit, wie medial und direkt Chancen und Risiken gewichtet werden. Achtens kommt der Intensität und der Praxis der „Mediennutzung“ Bedeutung zu: „Angesichts von Risiken und Schäden verschafft mehr Mediennutzung nicht unbedingt mehr Wissen und Sicherheit, sondern kann die Verwirrung und Unsicherheit vergrößern“. Neuntens gilt es die „Medienwirkungen“ zu beachten. Es sind Kriterien von Wechselwirkungen, Wahrscheinlichkeiten und Wirklichkeiten, die negative, falsche Informationen ausschließen. Zehntens geht es um das Erkennen und die Auseinandersetzung mit „paradoxen Risikoängsten“: Gesellschaftlich verursachte Risikowahrnehmungen bergen riskante Folgen, die zum Querdenken, zur Wirklichkeitsleugnung, zu Fake News und zu Lebensängsten führen können. Im elften, letzten Kapitel konfrontiert der Autor die Leser mit der Frage: „Was tun?“. Es ist die aktive, verstandesbewusste, realistische Wahrnehmung, dass ein Leben mit „Null-Risiko“ nicht möglich ist!
Diskussion
Die Analyse über „Risikofallen“ zeigt sich als Fragenkatalog, und nicht als Rezept. Die Risiko-Kommunikation in der Gesellschaft muss wahr und wissenschaftlich sein, wollen wir den Risikofallen entgehen bzw. mit ihnen human umzugehen (Michael Shermer, Der moralische Fortschritt. Wie die Wissenschaft uns zu besseren Menschen macht, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/​25201.php). Es sind alltägliche und gesellschaftszivilisatorische Stichpunkte, die das eigene, positive Denken und Tun anregen und behilflich sind, negative und manipulative Risikoberichte intellektuell zu bewältigen.
Fazit
Es sind sieben Fragen, die sich im Risiko-Diskurs ergeben: „Haben tödliche Risiken für Menschen zu- oder abgenommen?“ – „Wie kann man rational mit Risiken umgehen?“ – „Wie reagieren wir intuitiv auf Risiken?“ – „Woher kennen wir Risiken?“ – „Wie stellen Medien Risiken dar?“ – „Kann man Risikoentwicklung an der Medienberichterstattung erkennen?“ – „Welchen Einfluss besitzen Risikoberichte auf unsere Risikovorstellungen und deren Konsequenzen?“. Mit dem neunseitigen Literaturverzeichnis verweist der Autor auf weiterführende Informationen; und das Register erleichtert den Umgang mit der interdisziplinären Thematik. Ein Handbuch für Interessierte an Fragen der existentiellen Risikobewertung und –verwendung.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 23.09.2021 zu:
Hans Mathias Kepplinger: Risikofallen. Und wie man sie vermeidet. Herbert von Halem Verlag
(Köln) 2021.
ISBN 978-3-86962-614-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28810.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.
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