Ludger Pries: Verstehende Kooperation
Rezensiert von Prof. Dr. Hans Günther Homfeldt, 12.11.2021

Ludger Pries: Verstehende Kooperation. Herausforderungen für Soziologie und Evolutionsforschung im Anthropozän. Campus Verlag (Frankfurt) 2021. 446 Seiten. ISBN 978-3-593-51464-2. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR.
Thema
Das Wissen insbesondere von Biologie, Psychologie, Archäologie und Anthropologie aufnehmend, setzt sich Ludger Pries aus einer soziologischen Perspektive mit der menschlichen Evolution des Sozialen auseinander. Ausgegangen wird von der Annahme, dass sich die menschliche Evolution bzw. die Menschwerdung im Dreieck von Natur, Mitmenschen und Selbst erklären lässt. Die Menschwerdung ging einher mit der Entwicklung vielfältiger Figurationen menschlichen Zusammenlebens im Wechselspiel von Natur und Kultur. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich das Zusammenleben vorrangig durch kulturelles Lernen und verstehende Kooperation. Herausforderungen wie Klimawandel, Pandemien, Genschere und Digitalisierung werden in einem immer stärker durch Technik geprägten Anthropozän durch soziokulturelle Innovationen bewältigt. Nicht voraussagbar ist, ob sich innovative Institutionsgeflechte zu einem Anthrotechnozän verdichten oder sich eine transnational koordinierte verstehende Kooperation durchsetzt.
Autor
Ludger Pries ist Professor für Soziologie an der Ruhr-Universität Bochum. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Organisation, Migration und Transnationalisierung sowie Arbeit.
Entstehungshintergrund und Zielsetzung
Mit dem Schreiben des Buches habe er bereits Mitte der 2010er Jahre begonnen. Das Verhältnis von Natur und Kultur sei ihm immer wichtig gewesen, weil er sich nicht mit einer Soziologie zufriedengeben wollte, die Soziales nur durch Soziales erklären wolle, so Ludger Pries. Anhand grundlegender Fragen erhellt der Autor dabei den Entstehungshintergrund des Buches. Zentrale Fragen sind u.a. wie die kulturellen Fähigkeiten der Menschen aus der Natur entstanden sind und ob es überhaupt noch Sinn macht, von der „Natur“ zu sprechen. Entsprechend geht es um die Zielsetzung, in einer evolutionssoziologischen Perspektive um die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten, die den Menschen von anderen Tieren unterscheiden (S. 19).
Aufbau
Im Vorwort wirft Ludger Pries eine Vielzahl von Fragen auf. Nicht zu allen, aber zu einigen, betont er, könne das Buch Antworten liefern. Getragen sind die Antworten von der Einsicht, auf der Grundlage interdisziplinären Austausches zwischen Kultur- und Sozialwissenschaften Herausforderungen menschlicher Entwicklung im Anthropozän zu benennen (erstes Kapitel). Das zweite Kapitel formuliert Erkenntnisse der allgemeinen Evolutionsforschung, während das dritte Kapitel zu ihr drei verschiedene soziologische Zugänge entwirft. Das vierte Kapitel spezifiziert und erweitert gleichzeitig den Blick. Es thematisiert die Mensch-Natur-, Mensch-Mensch- und Körper-Selbst-Wechselbeziehungen und lenkt die Aufmerksamkeit auf zusammenhängende Herausforderungen für eine integrierte interdisziplinäre Evolutionsforschung, um im Anschluss daran (fünftes Kapitel) neue Forschungsbefunde zur Evolution des Menschen zu benennen mit der Perspektive auf soziokulturelles Lernen und verstehende Kooperation. Um VESPER im Sinne eines erweiterten Modells menschlichen Welterlebens auf der Grundlage evolutionär relevanter sozialer Institutionen geht es im sechsten Kapitel. Unter der Überschrift „Die Große Beschleunigung und ihre institutionelle Einbettung werden im abschließenden siebten Kapitel das Leiden an der gesellschaftlichen Komplexität, Institutionen und Spielarten des Kapitalismus im Anthropozän, reflexive Modernisierung durch innovative Institutionengeflechte und schließlich die Alternative zwischen verstehender Kooperation oder Anthrotechnozän angesprochen.
Inhalt
Im ersten Kapitel, gegliedert in vier Abschnitte, wird gezeigt, anhand von drei Beispielen, wohin die sozialkulturelle Evolution gehen kann, wie die Denkart eines einfachen Modernisierungsglaubens die Welt in den zurückliegenden Jahrhunderten dominierte und worin der Beitrag einer Soziologie menschlicher Evolution liegen kann. Im vierten Abschnitt wird der weitere Gang der Argumentation vorgestellt: Es wird der gesicherte Stand der darwinschen Evolutionstheorie rekapituliert und dass eine Soziologie der menschlichen Evolution u.a. in Zusammenarbeit mit Biologie, Psychologie, Anthropologie und Paläontologie viel zu bieten hat. Verdeutlicht werden soll dies, indem Befunde aktueller Evolutionsforschung in einer soziologischen Perspektive auf die Entwicklung sozialer Praxis bezogen werden. Ein Modell beschleunigten Welterlebens in sozialen Verflechtungen, aufgrund komplexer Erfahrungen, Sozialisation, Präferenzen, Erwartungen und Ressourcen, kurz VESPER genannt, wird skizziert und abschließend eine evolutionssoziologische Zeitdiagnose und Perspektive entworfen.
Nach Grundaussagen zur darwinschen Evolutionstheorie und neuerer Erweiterungen stellt Ludger Pries biologistische und sozialdarwinistische Entwürfe dar. Dem Rassismus wie auch Konzepten von `Volk` und `Nation` liegen oftmals biologistische Vorstellungen zugrunde (S. 51). Am Ende des Kapitels werden erkenntnistheoretische Konzepte für eine sozialwissenschaftliche Theorie herausgearbeitet. Neben anderen stellt der Autor die Fragen: Welchen Beitrag leistet die Evolutionstheorie „zum Verstehen und Erklären der spezifisch menschlichen Fähigkeiten und des menschlichen Zusammenlebens“? und welche Bedeutung fällt einer kulturellen Evolution zu (S. 57)? Seit den 80ger Jahren des zurückliegenden Jahrhunderts setzte sich die Annahme durch, dass kulturelle Evolution ein eigenständiger empirischer Gegenstand wissenschaftlicher Forschung ist, die sich mit der großen Umweltoffenheit, der Flexibilität und dem kulturellen Lernen menschlicher Spezies auseinandersetzt. Kulturelles Lernen erfolgt durch die beiden Mechanismen der Imitation und der Innovation. Sie bilden die Grundlage, die Formen des Zusammenlebens komplexer zu gestalten und in größeren Verbänden arbeitsteilig zusammenzuleben. Dabei geht es dem Autor mit Bezugnahme auf einschlägige Literatur (u.a. Richersonund Boyd wie auch Hawks) anhand von Beispielen (z.B. dem kulturellen Wandel vom Jagen und Sammeln zur Landwirtschaft) die Koevolution von Gen und Geist sichtbar zu machen. Wiederholt merkt Ludger Pries an, dass sich die Soziologie wenig, und wenn, dann eher abweisend, mit der Evolutionsforschung befasst hat, vor allem wohl deshalb, weil Theorien der Evolutionsforschung häufig für bestimmte Weltanschauungen, z.B. biologistische, rassistische oder wohlfeile kognitive Rahmungen für den Kolonialismus, instrumentalisiert wurden. Zu nennen ist hier ebenso das Prinzip der „natürlichen Auslese“ wie auch das des „egoistischen Gens“, um mit dem genetischen Determinismus die soziale Ungleichheit zwischen Menschengruppen (z.B. weißen und farbigen) zu erklären. Ludger Pries betont (S. 84), dass die Versuchung, komplexe soziale Sachverhalte auf einfache biologische Gesetze zu reduzieren, auch heute noch groß sei. Vielfach stellt er die relative Eigenständigkeit von Kultur gegenüber der Natur als Grundgegebenheit des Anthropozäns heraus. Andererseits die Erkenntnisse der modernen Evolutionsforschung abzulehnen, weil sie biologistische Weltsichten begünstigen könnten, hieße, so der Autor, das Kind mit dem Bade auszuschütten (S. 93); denn die Biologie wie auch andere Wissenschaften können wichtige Beiträge zum Verständnis des Menschen und seines Zusammenlebens liefern.
Im letzten Abschnitt des zweiten Kapitels setzt sich der Verfasser ausführlich mit der „modernen Skepsis“ gegenüber der biologischen Evolutionstheorie auseinander. Vor allem wird als Beispiel der Kreationismus aufgeführt. Er geht davon aus, dass das Universum und damit auch die Erde und alles auf ihr Lebende durch einen extraterrestrischen Gott erschaffen wurden, in dem Sinne, wie es das Alte Testament beschreibt. Der Kreationismus wie auch der Neo-Kreationismus stellen sich gegen die Evolutionstheorie. Im schlimmsten Fall können biologistisch-sozialdarwinistische Denkweisen ideologisch für rassistische und faschistische Politiken genutzt werden.
Das dritte Kapitel geht der Frage nach, von welchen Grundlagen eine soziologische Perspektive auf die Evolution menschlicher Fähigkeiten und menschlichen Zusammenlebens ausgehen sollte. Das zweite Kapitel hat gezeigt: für ein tieferes Verständnis der Evolution menschlicher Fähigkeiten und menschlichen Zusammenlebens bedarf es erkenntnistheoretischer Werkzeuge der Soziologie, etwa wie Empathie, Kooperation, Werte, soziales Handeln und auch soziale Ordnungen. Ludger Pries macht im dritten Kapitel die Behauptung stark, dass zum Verständnis menschlicher Evolution, ihrer Fähigkeiten und ihres Zusammenlebens eine sinnverstehende Soziologie ertragreich ist. Dabei ist es wichtig, die Individualebene, die Gesellschaftsebene und die Ebene sozialer Gruppe integrativ zu betrachten. Kritisch setzt sich der Autor entsprechend mit der sozialkulturellen Evolution aus der Sicht eines naturalistisch-systemtheoretischen Paradigmas auseinander. Eingehend widmet sich Pries der Überlegung und benennt ebenso die Schwächen, die menschliche Entwicklung von einem Modell der Individuen und ihrer Eigenschaften und Antriebe zu verstehen. Diesem Modell fehlt eine Perspektive der menschlichen Evolution im Kontext sozialer Gruppenverflechtungen zu entwickeln (S. 140). Einem solchen Anliegen widmet sich der vierte Abschnitt des dritten Kapitels; wie in anderen Abschnitten bereits vorher, dabei auf die Geschichte blickend, z.B. auf die erste große Migrationswelle vor etwa 60 000 Jahren, als der Homo sapiens in überschaubaren Verwandtschaftsgruppen von 30 bis 60 Personen lebte. In diesem Zusammenhang spielte die Frage nach dem Wie und Wozu der menschlichen Kooperation eine wichtige Rolle. Ludger Pries stellt die These auf: „Um die Evolution der spezifisch menschlichen Fähigkeiten zu analysieren, geht man also statt von isolierten Individuen oder geschlossenen Sozialsystemen besser von sozialen Verflechtungszusammenhängen aus“ (S, 145). Das dritte Kapitel weist an dieser Stelle bereits auf das vierte und fünfte Kapitel, in denen das menschliche Welterleben sowie komplexe Empathie und verstehende Kooperation angesprochen werden. Menschliches Welterleben vollzieht sich in dem Dreieck von Mensch-Natur-, Körper-Selbst und Mensch-Mensch-Beziehungen. In Differenz zu anderen Tieren stellt der Autor fest, dass nach heutigem Wissensstand Menschen die einzigen Lebewesen seien, die zu sich selbst in eine Beziehung der Gestalterkennung treten können (S. 148 f.). Auf der Grundlage der Dreieckgegebenheiten entwickelte der Mensch Fähigkeiten zur sozialen Arbeitsteilung und zu einer sprachbasierten Empathie mit anderen Menschen. Sichtbar wird dabei, dass die Analyse des Geflechts sozialer Beziehungen einen guten Ausgangspunkt für das Verstehen der Entwicklung menschlicher Fähigkeiten bildet.
Ausgehend von der Feststellung, dass Darwins Ausführungen zur Entstehung der Arten nicht ausreichen, wenn es konkret um die Entwicklung der menschlichen Spezies und ihrer Fähigkeiten geht, setzt sich das vierte Kapitel mit dem qualitativen Unterschied zwischen der Evolution des Menschen im Vergleich zu den anderen Tieren auseinander. Im Zentrum des Kapitels steht das soziologische Evolutionsverständnis für das 21. Jahrhundert. Darwin stellte vorrangig das Gemeinsame zwischen Menschen und anderen Tieren heraus. Unterschiede sieht er im komplexen Sprachgebrauch und vor allem in der Fähigkeit zu Moralität und Gottesglauben (S. 170). In seiner Monographie arbeitet Ludger Pries vorrangig das Unterschiedliche und das Erweiternde der darwinschen Blickrichtung heraus. Das Erweiternde sieht die neuere Forschung in den Mechanismen des Lernens und der Kooperation, während Darwin vorrangig die Evolution als Ergebnis von Kampf und Konflikt um knappe Ressourcen betonte (S. 180). Ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen sieht Pries in der Fähigkeit zur Selbstreflexion und auch in der verstehenden Kooperation „als auf komplexer Empathie beruhendes arbeitsteiliges Zusammenwirken“ (S. 186) mit der Perspektive auf völlig neue Formen sozialen wie auch kulturellen Lernens. Letzteres geht einher mit der Weiterentwicklung komplexer Symbolsysteme. Mit Hilfe von Sprache vollziehen sich komplexe Informationsweitergabe und regelgebundener Wettbewerb. Die menschlichen Fähigkeiten und das Zusammenleben sind bestimmt durch das Wechselspiel von Kontingenz, Lernen, Wettbewerb und Kooperation. Sichtbar wird dies im Zusammenspiel von Phylogenese, Ontogenese und Epigenetik. Dies heißt, dass die Entwicklung menschlicher Fähigkeiten aufgrund ihrer Komplexität nur im Zusammenwirken von biologisch-physiologischen, psychologisch-neurologischen und soziologisch-sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden und Kenntnissen verstanden werden kann. In dieser Hinsicht ist die Geschichte der menschlichen Entwicklung im Hinblick auf Kolonialismus, Genozid und Machtgebrauch wie auch -missbrauch noch zu schreiben.
Im vierten Kapitel wird die Differenz zwischen Menschen und anderen Tieren in unterschiedlichen Hinsichten verdeutlicht: z.B. anhand von Play und Game. Game lassen sich die Fragen zuordnen: Wie sehen mich die anderen? Was erwarten sie von mir? (S. 209). Eine wechselseitige symbolische Verständigung in diesem Sinne fördert(e) das Training kognitiver Fähigkeiten und die Kompetenzen des Gehirns.
In den vorangegangenen Kapiteln immer wieder angesprochen, steht im fünften Kapitel die menschliche Evolution durch verstehende Kooperation im Mittelpunkt der Reflexion. Eingangs geht es wieder um Unterschiedsbenennungen zwischen Menschen und anderen Lebewesen. Einen Unterschied sieht der Autor in der Länge der Erziehungs- und Ausbildungszeit, aber auch in der besonderen Qualität des kulturellen Umfeldes, am Sinnverstehen, sprachbasierten Deutungsmustern und symbolischer Interaktion. Immer wieder bezieht sich Ludger Pries auf Forschungsergebnisse von Michael Tomasello.
Angesprochen wird wie bereits im vorangegangenen Kapitel die Integration soziologischer und biologischer Perspektiven (Abschnitt 5.2), und zwar auf dem Hintergrund der Annahme, dass die Grenzen zwischen Natur und Kultur offensichtlich neu zu ziehen sind. Auszugehen ist davon, dass Innovationen in den Wechselbeziehungen der Menschen mit der Natur durch kulturelles Lernen von einer Generation vorwiegend über Sprache an die nächste ermöglicht werden. Pries hebt hervor, dass die Entwicklung der spezifisch menschlichen Fähigkeiten von Kognition, Sprache und Verstehen ebenso zentral sind wie die Eingebundenheit in soziale Gruppenzusammenhänge in Gestalt von Wettbewerb und Kooperation (S. 248). Für Kooperation zentral ist die verstehende Kooperation. Ihr widmet sich auf dem Hintergrund vielfältiger Beispiele ausführlich der Abschnitt 5.5. Sie ist keineswegs in einem harmonischen Bild zu skizzieren, sondern sie war immer auch konfliktgeladen und von Missverständnissen getragen. Die vielfältigen Kooperationsformen werden immer wieder auch in der Pflanzen- und Tierwelt vorgestellt und kategorisiert. Sie reichen von der gerichteten Reziprozität bis zur arbeitsteiligen Kooperation. Diese stabilisiert sich in sozialen Institutionen, die letztlich verstehende Kooperationen strukturieren.
Am Ende des fünften Kapitels stellt der Autor zum wiederholten Mal heraus (S. 272), dass die Soziologie die differenzierten Erkenntnisse verschiedener Disziplinen zur Evolutionsforschung bislang nur wenig aufgegriffen hat, obwohl die Soziologie genuin relevante Begriffswerkzeuge und Theorien beisteuern kann. Dazu sei es nötig, sich dem Thema der Evolution gegenüber umfassender zu öffnen und anstrengende interdisziplinäre Kooperationen einzugehen (S. 276).
Seine Herausforderungen für Soziologie und Evolutionsforschung im Anthropozän verknüpft Ludger Pries mit aktuellen das Welterleben sichtbar machenden Ereignissen. Dazu rückt er die Covid-19-Pandemie zum Beginn des sechsten Kapitels ins Bewusstsein.
Grundsätzlich wird im sechsten wie auch siebten Kapitel gezeigt, dass in Bezug auf evolutionssoziologische Perspektiven eher Fragen soziokultureller Weltgestaltung als technische Problemlösungen im Vordergrund stehen. Wichtige Fragen sind z.B.: Wie wollen wir zusammenleben? Wie unser Verhältnis zu den anderen Lebewesen gestalten? Zur Beantwortung dieser Fragen ist eine sozialwissenschaftliche Interdisziplinarität nötig. Zu klären ist (S. 279): „Welches Modell menschlichen Handelns und Zusammenlebens ist einer evolutionssoziologischen Perspektive angemessen“? Dazu entwickelt Ludger Pries als Modell menschlicher Entwicklung und humanen Zusammenlebens VESPER (S. 285). Dieses steht für sechs analytische Dimensionen von Weltzugängen des Menschen, die von sozialen Gruppenbeziehungen als Verflechtungszusammenhänge ausgehen und alltägliche Lebenswelten in den Mittelpunkt stellen. Es sind: Verflechtungen-Erfahrungen-Sozialisation-Präferenzen-Erwartungen-Ressourcen. Die im sechsten Kapitel ausführlich erläuterten VESPER-Dimensionen (Abschnitt 6. 2) markieren in ihrer Kombination die Differenz des Menschen zu den anderen Tieren. VESPER sind die inhaltlichen Ausprägungen der drei Weltverhältnisse Mensch-Mensch, Mensch-Natur und Körper-Selbst (S. 287). Hervorgehoben wird wiederholt, dass alle sechs VESPER-Dimensionen sich wechselseitig beeinflussen. Gezeigt wird im Anschluss, „welche enormen kognitiven und sozialen Leistungen bei der Produktion von Sinn als Kohärenz zwischen den sechs VESPER-Dimensionen aufzubringen sind“ (S. 307). Hierin sieht der Autor die Differenz des Menschen zu den anderen Tieren.
Es gelingt mithilfe des VESPER-Modells Zeitdiagnosen evolutionsgeschichtlich einzubetten und sozialen Wandel im Anthropozän „als eine exponentielle Beschleunigung und als kulturelle Überforderung der evolvierten planetarischen Welt zu verstehen und zu erklären“ (S. 309). Im Verlauf der Jahrtausende hat sich das menschliche Welterleben sozialen Zusammenlebens herausgebildet. Einen Schub hat es durch Aufklärung und Modernisierung und in den zurückliegenden Jahrzehnten durch reflexive Modernisierung erhalten, z.B. in Gestalt vielfältiger Verflechtungsbezüge. Hierbei stellt sich die Frage, ob und wenn ja, wie es die Menschen gelernt haben, mit der von ihnen selbst erzeugten kulturellen Vielfalt von Welterleben umzugehen und ob es ein Ende der „großen Beschleunigung“ gibt. Bewältigungshilfen können soziale Institutionen bieten. Entwicklungsgeschichtliche Herausforderungen im Anthropozän bestehen darin, angemessene Institutionen zu entwickeln, die helfen, die Strukturierung des Zusammenlebens nachhaltig zu unterstützen. Dabei ist es wichtig, die VESPER-Dimensionen nicht zuletzt aufgrund der exponentiellen Beschleunigung der Veränderungen im Natur-Kultur-Verhältnis immer wieder in einen neu zu bearbeitenden Sinnzusammenhang zu bringen. Dies verdeutlich Ludger Pries an den Beispielen von Genschere und Digitalisierung. Sie haben die Möglichkeit, maßgeblich in die Natur des Menschen einzugreifen und mit technischen Artefakten zu verknüpfen (S. 332) sowie die menschlichen Gestaltungsmöglichkeiten und Formen des Zusammenlebens zu erweitern. Eine große Herausforderung im 21. Jahrhundert besteht darin, dass sich die Innovationen des globalen Kapitalismus schnell ausbreiten, während ihre soziokulturelle und kooperative Einfriedung nur schleppend gelingt. Hieraus resultiert die Frage nach anderen Formen des Zusammenlebens und der Vergesellschaftung. Dies ist Gegenstand des abschließenden siebten Kapitels unter der Überschrift „Die Große Beschleunigung und ihre institutionelle Einbettung“ (S. 333 ff.).
Ludger Pries beklagt zum Beginn des siebten Kapitels zum wiederholten Mal die nur zögerliche Öffnung der Soziologie zu explizitem Anwendungs- und Praxisbezug und benennt dafür Erklärungen (z.B. ihre potentielle Indienstnahme durch autoritäre Gestaltung). Die Soziologie sei gleichwohl aufgefordert, einen Beitrag zur humanen Gestaltung des Zusammenlebens aller Menschen und sonstiger Lebewesen zu leisten (S. 336). Gelingen werde dies in interdisziplinärer Kooperation. Der Umgang mit dem Covid-19-Virus zeige, dass die bisherigen Mechanismen der Koordination nicht mehr ausreichten. Gleiches gelte für die Erderwärmung, die Kontrolle der Atomenergie wie auch die Gestaltung der Gentechnik. Globale Herausforderungen könnten nur global koordiniert werden. Zu beklagen ist statt dieser notwendigen Entwicklung ein Leiden an der gesellschaftlichen Komplexität (Abschnitt 7. 1). Geboten sind soziokulturelle Weiterentwicklungen auf der Ebene der sozialen Institutionen (Abschnitt 7. 2), die das gesellschaftliche Zusammenleben strukturieren. Was kann man diesbezüglich aus Europa und anderen Kulturen lernen (Abschnitt 7. 3)? Der nachfolgende Abschnitt (7. 4) nimmt die Erfahrungen mit reflexiver Modernisierung durch innovative Institutionengeflechte in den Blick. Der letzte Abschnitt schließlich stellt zwei Szenarien vor: In einem beschleunigten Weiterso bewegt sich die Menschheit in Richtung eines sich immer stärker verselbstständigenden Anthrotechnozän oder aber es gibt „einen Wendepunkt in Richtung eines durch menschliche Kulturbestrebungen geprägten Anthropozän“ (S. 337) auf der Grundlage einer verstehenden Kooperation. Das VESPER-Modell integriert vor diesem Hintergrund „die Entwicklung der einzelnen Menschen in die Verstehens- und Kooperationszusammenhänge, die menschliche Evolution auszeichnen“ (S. 391). Abschließend skizziert Ludger Pries tabellarisch die Kräfte der Weltgestaltung zwischen Natur, Kultur und Technik und schließt mit der die Monographie tragenden Feststellung, dass evolutionsgeschichtlich sich die sozialen und kognitiven Fähigkeiten sowie das Zusammenleben der Menschen sich weniger durch Selektion als durch kulturelles Lernen und arbeitsteilige Kooperation entwickelt hätten und dass soziokulturelle Innovationen darüber entscheiden werden, „wie die Menschheit die Herausforderungen von Klimawandel, Pandemien, Genschere und Digitalisierung meistern wird“ (S. 396). Die Soziologie kann dabei in interdisziplinärer Zusammenarbeit helfen, Wege aufzuzeigen.
Diskussion
Das Buch versteht sich, so Ludger Pries, als Einladung, „die wichtigen Menschheitsherausforderungen in einer evolutionsgeschichtlichen Perspektive zu betrachten“ (S. 20), und richtet sich dabei an eine breite Leserschaft, die an Evolutionsforschung und sozialwissenschaftlichen Gegenwartsanalysen interessiert ist. Der Autor spricht sich für eine interdisziplinäre Ausrichtung von Evolutionsforschung und Soziologie aus. Das zuvörderst formulierte Ziel wird mit großem argumentativem Nachdruck umgesetzt, in einigen Kapiteln sich dabei wiederholend. Dies wirkt nicht redundant, sondern unterstreicht vielmehr das Anliegen des Autors.
Die Monographie ist in sieben Kapiteln mit Hilfe facettenreicher disziplinübergreifender Literatur materialreich aufgebaut. Ungeschminkt benennt Pries die selbst verordneten Begrenzungen und die zu überwindenden Befürchtungen der Soziologie, Anwendungs- und Praxisbezüge zu entwickeln. Letztere sieht der Autor in der Integration soziologischer und biologischer Perspektiven mit dem Ziel, eine soziale Praxis verstehender Kooperation aufzubauen, die sich gegen die Wirkmechanismen eines Anthrotechnozäns richtet. Das VESPER-Modell ist dafür eine überzeugende Grundfigur. In einer immer stärker menschenbeeinflussten Natur bietet es einen guten Ansatz für ein Grenzen überschreitendes humanes Zusammenleben.
Der Rezensent hätte sich gewünscht, in Abschnitten, in denen es um Anwendungs- und Praxisbezüge geht, dass sich der Blick nicht nur auf Psychologie, Medizin und praktische Philosophie richtet, sondern auch auf die Soziale Arbeit. In ihren Handlungsfeldern ist die Soziologie für die Soziale Arbeit die vorrangige, wichtige Erkenntnisimpulse liefernde Bezugswissenschaft.
Gewünscht hätte ich mir ebenfalls, neben den grundlegenden Überlegungen zur verstehenden Kooperation, diese in ihren Umsetzungsbezügen weiter zu denken (z.B. in Bezug auf die Überwindung disziplinärer Eigenlogiken durch Benennungen eines gemeinsamen Dritten).
Fazit
Gleichwohl: Die Monographie „Verstehende Kooperation. Herausforderungen für Soziologie und Evolutionsforschung im Anthropozän“ ist für Leser und Leserinnen, nicht nur aus der Biologie und Soziologie, sondern auch der Sozialen Arbeit und Psychologie, nicht zuletzt wegen ihrer Ausführungen und Argumente zur Interdisziplinarität eine gewinnbringende Lektüre für eine breite Leser- und Leserinnenschaft.
Rezension von
Prof. Dr. Hans Günther Homfeldt
Prof. em. an der Universität Trier, Fach Sozialpädagogik/ Sozialarbeit
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Zitiervorschlag
Hans Günther Homfeldt. Rezension vom 12.11.2021 zu:
Ludger Pries: Verstehende Kooperation. Herausforderungen für Soziologie und Evolutionsforschung im Anthropozän. Campus Verlag
(Frankfurt) 2021.
ISBN 978-3-593-51464-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28824.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.
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