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Ursula Sottong: Begleitung und Versorgung von Menschen mit Demenz nach Silviahemmet

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 02.05.2022

Cover Ursula Sottong: Begleitung und Versorgung von Menschen mit Demenz nach Silviahemmet ISBN 978-3-17-039588-6

Ursula Sottong: Begleitung und Versorgung von Menschen mit Demenz nach Silviahemmet. Wie Leben mit Demenz gelingen kann. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2021. 197 Seiten. ISBN 978-3-17-039588-6. 46,00 EUR.

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Thema

Neurodegenerative Demenzen, vor allem die Alzheimer-Demenz, sind Ausdruck einer kollektiven Langlebigkeit, denn diese Erkrankungen werden überwiegend erst im höheren Alter klinisch manifest. Trotz intensiver Bemühungen in der Forschung in den letzten Jahrzehnten konnte bisher noch kein Heilmittel gefunden werden. Mehr und mehr entsteht in der Öffentlichkeit der Eindruck, dass es sich bei diesen Bemühungen letztlich um eine bloße Sisyphusarbeit handelt. So wird das wissenschaftliche Handeln in Gestalt der pharmakologisch-neurophysiologischen Grundlagenforschung zunehmend von Resignation und Selbstzweifel bestimmt. Mittlerweile wird von einigen Forschern sogar das Amyloid-Kaskaden-Konzept als zentrale Arbeitshypothese in Frage gestellt. Auf der anderen Seite hingegen weitet sich die praxisorientierte Versorgungsforschung im Bereich Demenz Jahr für Jahr weiter aus. In dieses Arbeitsfeld ist auch die vorliegende Publikation mit dem Ansatz von Silviahemmet einzuordnen.

Laut Wikipedia handelt es sich bei „Silviahemmet (übersetzt Silvias Heim) um eine schwedische Stiftung, die im Jahre 1996 von Königin Silvia in Schweden ins Leben gerufen wurde. Die Silviahemmet Stiftung hat auf der Grundlage von Palliative Care mit Silviahemmet eine Philosophie entwickelt, die als Wegweiser zur Erstellung eines auf die jeweilige Einrichtung zugeschnittenen Konzepts dient….Zur Arbeit von Silviahemmet gehört die Unterstützung der Familien, die Ausbildung von Pflegepersonal sowie die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das Thema Demenz und Versorgung. Bei Silviahemmet geht es um eine Versorgung, welche sich an den Symptomen des Einzelnen orientiert….Seit 2009 kooperiert Silviahemmet mit den Maltesern in Deutschland.“

Autorin

Ursula Sottong (Dr. med.), Ärztin, Gesundheitswissenschaftlerin MPH, Master in Demenz MSc (Universität Stockholm), systemische Therapeutin, Silviahemmet-Trainerin und Silvia Doctor (Silvia-Ärztin).

Aufbau und Inhalt

In den Kapiteln 1 - 5 wird zu Beginn das Modell Silviahemmet u.a. mit den Zielen, Schwerpunkten (Symptomkontrolle, Kommunikation und Begegnung, Unterstützung der Angehörigen und Team), Schulungen und Weiterbildungen und Zertifizierungen erläutert. Es folgen Ausführungen über die Neurophysiologie des zentralen Nervensystems (u.a. Großhirn, Zwischenhirn, limbisches System und Hirnstamm), Demenzformen (u.a. Alzheimer-Demenz, Frontallappendemenz, Parkinson- und Lewy-Body-Demenz) Demenzdiagnostik (u.a. Eigen- und Fremdanamnese, Labor, Mini-Mental-State und Uhrentest), die Bedeutung der hausärztlichen Versorgung und Therapie (medikamentöse und nicht-medikamentöse Maßnahmen).

In den Kapiteln 6 - 9 werden die typischen Demenzsymptome und deren Bewältigung beschrieben: die kognitiven Symptome (u.a. Gedächtnis, Orientierungsvermögen, Sprache, Urteilsvermögen und Aufmerksamkeit), Exekutivfunktionen, Apraxie, Agnosie, psychiatrische Symptome (Aggressivität, depressive Verstimmungen, Halluzinationen und Wahnvorstellungen) und körperliche Symptome (Inkontinenz, Steifigkeit und Muskelzuckungen). Anschließend werden demenztypische Verhaltenssymptome, überwiegend verursacht durch Überforderung und Dauerstress im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung beschrieben, die als „herausforderndes Verhalten“ oder BPSD („Behavioral and Psychological Symptoms of Dementia“) bezeichnet werden: u.a. Furcht, Unruhe, aggressives Verhalten, Apathie, Wandern, Rufen und Schreien. Hierbei werden einige mögliche Auslöser für diese Verhaltensweisen angeführt: u.a. Missverständnisse in der Pflegesituation, falsche Medikation, Verletzung der Privatsphäre, Angst, Stress, Über- und/oder Unterstimulierung. Es schließen sich kurze Ausführungen über die nicht-medikamentöse und medikamentöse Therapie, Delir und Depression bei Demenzen an. Auf die Schmerzen und die Schmerzerfassung (Schmerzskalen) und die diesbezügliche Ursachenforschung bei Demenzen wird auch übersichtsartig eingegangen.

In den Kapitel 10 – 18 entfaltet die Autorin das Spektrum an Leistungsangeboten ihres Modells, beginnend mit den räumlichen Gegebenheiten unter dem Aspekt einer Optimierung der Orientierung im Pflegeheim. Hierbei wird u.a. angeführt: eine kontrastreiche Farbgebung bei Lichtschaltern und im WC (Fotos), Vermeidung gemusterter Bodenflächen und dunkler Teppiche und Matten (Gefahr der Fehlwahrnehmung), ausreichende Lichtverhältnisse (Vermeidung von dunklen Ecken, die Furcht und Halluzinationen verursachen können), altersangemessenes Mobiliar (z.B. kippsichere Stühle mit Armlehnen). Des Weiteren werden einige technische Assistenzsysteme zur Erhöhung der Sicherheit angeführt (u.a. Temperaturbegrenzer an Herd und Bügeleisen, Überlaufschutz in der Badewanne, Ortungs- und GPS-Geräte und Notrufsender). Bezüglich der Beschäftigung und Aktivierung der Demenzkranken werden altvertraute Handlungsmuster wie Gärtnern, Bildbände anschauen, Spaziergänge und der Einsatz von „Erinnerungsschubladen“ („Reminiszenz-Arbeit“) nebst Musik und auch Tanz empfohlen. Kurz wird auf die Biografiearbeit hingewiesen, gilt es hierbei doch, die Lebensgewohnheiten und Vorlieben der Demenzkranken zu erfassen. Es folgen Ratschläge bezüglich der Ernährung und der Mahlzeiten, wobei u.a. neben der milieubezogenen Mahlzeitengestaltung besonders auf die Aspekte Unter- und Mangelernährung nebst Schluckstörungen hingewiesen wird. Bei der Kommunikation mit Demenzkranken verweist die Autorin auf demenzspezifische Umgangsformen verbaler und nonverbaler Art. Des Weiteren empfiehlt sie die Anwendung von Validationstechniken und Berührungen bei der Kontaktaufnahme. Hingewiesen wird auch kurz auf die Spiritualität in Form der „Spiritual Care“ u.a. in Gestalt u.a. von Gebeten, Meditationen und Kontakt zum Seelsorger. Anschließend wird der Umgang mit den Angehörigen und wichtige Aspekte beim Einzug ins Heim beschrieben. Zum Schluss werden die Vorstellungen der Autorin bezüglich der Leitung und Anleitung der Mitarbeiter und Tipps für eine gute Pflege („Person-centered-care“) gegeben.

In den abschließenden Kapiteln 19 – 21 werden überwiegend „Best-practice-Beispiele“ aus dem Bereich Silviahemmet in Deutschland vorgestellt, u.a. versehen teils mit Fotos der Milieugestaltung in den Einrichtungen, Beschreibung der Versorgungsleistungen mitsamt Zertifizierung nach den Silviahemmet-Kriterien und mit Interviews der leitenden Mitarbeiter: eine Tagespflegeeinrichtung in Bottrop, die Malteser Tagespflege in Duderstadt, ein Demenzwohnbereich in einem Pflegeheim (St. Anna-Stift) in Kroge, ein Pflegeheim in Essen (Papst Leo Haus), demenzspezifische Stationen (Station Silvia) in geriatrischen Krankenhäusern (St. Franziskus Krankenhaus in Flensburg und das demenzsensible Krankenhaus St. Carolus in Görlitz). Es folgt ein längeres Interview mit einem Pflegeexperten über die Konzeption von Silviahemmet. Den Abschluss bilden einige Ideen bezüglich zukünftiger Perspektiven im Bereich der Versorgung Demenzkranker.

Diskussion

Ein Versorgungskonzept für Demenzkranke aus Schweden wird in der vorliegenden Publikation detailliert beschrieben. Dem Rezensenten fällt nur auf, dass die angeführten Wissensstände bereits seit Jahrzehnten Elemente der Demenzversorgung in Deutschland sind. Kritisch anzumerken gilt es, dass die Autorin nicht so recht die „Spreu vom Weizen“ zu trennen vermag, wenn sie z.B. das Konzept der Validation besonders hervorhebt (1). Des Weiteren wird bemängelt, dass der neurodegenerative Abbauprozess weder hinsichtlich der Neuropathologie (u.a. Braak-Stadien) noch der Rückentwicklungsprozesse (Retrogenese) dargestellt wird. Es fehlen auch Ausführungen über die Realitätsverluste, die Realitätsverzerrungen und die Wahrnehmungsstörungen im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung. Dementsprechend werden dann auch keine Hinweise über den Umgang mit wahnhaften Halluzinationen und Desorientierungsphänomenen gegeben.

Aufgrund dieser bereits allseits bekannten Wissensstände fällt es dem Rezensenten schwer, in den Ausführungen das Spezifische des Silviahemmet-Ansatzes herauszulesen. In diesem Zusammenhang stellt sich dann auch die Frage, ob es des speziellen Silviahemmet-Ansatzes in deutschen Pflegeheimen überhaupt bedarf, ist der Ansatz doch mit ausführlichen Fort- und Weiterbildungen für die Mitarbeiter verbunden. Zusätzlich kommen Aufwendungen für die damit verbundenen Zertifizierungsmaßnahmen hinzu. Die in der Altenhilfe bekannte Strategie, ein neues Konzept mit all den damit verbundenen Bemühungen und Kosten den Einrichtungen des Gesundheitswesens und der Altenhilfe nahezubringen, erinnert an die einschlägigen Bemühungen von Erwin Böhm vor einigen Jahren. Mit recht begrenztem Erfolg versuchte er damals, sein „psychobiographisches Pflegemodell“ in den Alten- und Altenpflegeheimen in Österreich und Deutschland mittels Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen einschließlich anschließender Zertifizierung zu etablieren.

Fazit

Der Verlag kündigt an, dass das vorliegende Buch u.a. „umfassende praxisrelevante medizinische und pflegerische Informationen rund um das Thema Demenz“ enthält. Diesem Anspruch wird die Veröffentlichung nicht gerecht, werden doch wesentliche Aspekte der Pflege und Betreuung unter besonderer Berücksichtigung des Umgangs mit Furcht, Unruhe und Realitätsverlusten nicht ausreichend und angemessen dargestellt. Somit enthält das Buch keine neuen Impulse und Perspektiven für die Demenzpflege.

Literatur

Naomi Feil: Validation. Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2000. https://www.socialnet.de/rezensionen/260.php

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Es gibt 228 Rezensionen von Sven Lind.

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ISSN 2190-9245