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Stefanie Helsper, Harriet Heier: Glücksmomente für Menschen mit Demenz

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 24.05.2022

Cover Stefanie Helsper, Harriet Heier: Glücksmomente für Menschen mit Demenz ISBN 978-3-497-03062-0

Stefanie Helsper, Harriet Heier: Glücksmomente für Menschen mit Demenz. Wie Fachkräfte unterstützen können. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2021. 102 Seiten. ISBN 978-3-497-03062-0. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR.
Reinhardts Gerontologische Reihe - 60.

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Thema

Die Pflege und Betreuung Demenzkranker beschränkt sich gegenwärtig noch auf die bloßen Handlungsvollzüge ohne theoretische Erfassung im empirischen Kontext. Das heißt u.a., dass bisher noch keine allgemeinverbindliche Theorie der Demenzpflege entstanden ist. Es konkurrieren gegenwärtig mehrere Modelle und Konzepte in den Fachkreisen, wobei sich hierbei grob zwei Richtungen unterscheiden lassen. Eine neurowissenschaftlich orientierte Position erklärt das Verhalten der Demenzkranken anhand neurowissenschaftlicher Erkenntnisse und der effektiven Pflegepraxis. Die Gegenseite entzieht sich einer empirischen Fundierung und begründet ihre Konzepte mit unwissenschaftlichen Modellen (u.a. „humanistische Psychologie“). So entstehen Demenzpflegemodelle, die auf normativ-ideologischen Ansichten beruhen, ohne jedoch Wirksamkeitsnachweise erbringen zu können (u.a. Kitwood-Ansatz, Validation). Die hier vorliegende Veröffentlichung kann als ein weiterer Ansatz in diesem Themenfeld klassifiziert werden.

Autorinnen

Stefanie Helpser ist Ergotherapeutin mit dem Schwerpunkt Demenz, die Fortbildungen anbietet. Dr. Hariett Heier ist Diplom-Psychologin, die als Psychotherapeutin in eigener Praxis tätig ist.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in neun Kapitel nebst Einleitung und Sachregister untergliedert. Zu jedem Kapitel werden am Ende einige Reflexionsfragen gestellt.

Kapitel 1 (Was ist eine Demenz?, Seite 9 - 23) enthält übersichtsartig das Wesentliche über Demenzen: die Neuropathologie, die Krankheitssymptome und Krankheitsursachen (Unterscheidung primäre und sekundäre Demenzen). Es folgen Ausführungen über die Alzheimer-Demenz (Häufigkeit 55 Prozent) bezüglich des neurodegenerativen Abbauprozesses (u.a. toxische Amyloid-Plaques und Tau-Fibrillen) einschließlich der Stadien (leicht, mittelgradig und schwer mitsamt der Symptomatik bezogen auf die kognitiven und alltagsbezogenen Kompetenzeinbußen), medikamentöse Behandlung und den augenblicklichen Forschungsstand (der immunologische Ansatz). Anschließend werden weitere Demenzformen in ihrer Spezifität erläutert: die vaskuläre Demenz (10 Prozent) (Hirninfarkte und Blutungen in bestimmten Hirnarealen) mit den Risikofaktoren Bluthochdruck, Diabetes, Übergewicht und Rauchen, die „gemischte Demenz“ (12 Prozent) (Alzheimer und vaskuläre Pathologie zugleich), die frontotemporale lobäre Degeneration (FTLD) (10 Prozent), Lewy-Körperchen-Demenz und Parkinsondemenz (10 Prozent) und andere Demenzformen (u.a. Chorea Huntington und Korsakow-Syndrom). In einer Übersichtstabelle werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Demenzformen aufgelistet.

In Kapitel 2 (Was sind Glücksmomente?, Seite 24 – 30) wird einleitend die Dudendefinition von Glück (u.a. freudige Gemütsverfassung) angegeben, um anschließend die neurophysiologische Genese anzuführen: die „Glückshormone“ Serotonin, Dopamin und Oxytocin, die hinsichtlich ihrer Funktion weiter beschrieben werden. Des Weiteren wird erwähnt, dass diese Hormone Auswirkungen auf das Immunsystem, Schmerzempfindungen und Muskelanspannung zeigen. Das Ausbleiben von Glücksmomenten hingegen führt nach Einschätzung der Autorinnen u.a. zu Antriebslosigkeit, Freudlosigkeit und Aufmerksamkeitsstörungen.

In Kapitel 3 (Wie schaffe ich Glücksmomente?, Seite 31 – 35) wird das Modell der „Hand voller Glücksmomente“ entfaltet, das aus den folgenden Handlungstipps oder „Fingern“ besteht: Bewegung und Bestätigung, empathische Kommunikation, bestehende Erinnerungen, Ressourcen als Potenzial und Ruhe und Entspannung. Mithilfe dieser „Glücksmomente“ lassen sich dann für die Demenzkranken „Feel-Good-Cocktails“ mischen.

In Kapitel 4 (Bewegung und Betätigung, Seite 36 – 45) wird der Begriff der Autostimulation eingeführt, um stereotype, unkontrollierte und oft auch zwanghafte Verhaltensmuster wie das ständige Wischen oder Stühle und Tische verschieben bei Demenzkranken zu erklären. Anhand eines Fallbeispiels wird gezeigt, wie das selbstverletzende Dauerwischen eines ehemaligen Schlossers (aufgeplatzte Haut und Fingerspitzen) zu einer lebensgeschichtlich vertrauten Handlung ohne Verletzungsgefährdung umgeleitet werden konnte. Dem Demenzkranken wurde eine glatte Metallplatte mit Schraubmöglichkeiten zur Selbstbeschäftigung angeboten.

Kapitel 5 (Emphatische Kommunikation, Seite 46 – 59) thematisiert den verbalen Umgang mit Demenzkranken. Dabei werden die bereits bekannten Erfahrungen angeführt: keine Diskussionen beginnen (der Demenzkranke hat immer recht!), einfache kurze Sätze möglichst mit nur einer Aussage, möglichst langsam und deutlich sprechen. Zusätzlich sollten persönlichkeitsstabilisierende Botschaften wie Lob und Komplimente vermittelt werden, auch wird die Verwendung von altvertrauten Sprichwörtern, Volksweisheiten und Liedtexten empfohlen. Des Weiteren wird Bezug auf die Validation von Feil als Bezugsrahmen genommen (Feil 2001).

In Kapitel 6 (Bestehende Erinnerung, Seite 60 – 69) wird das Modell der „Erinnerungskommode“ zur Erklärung der Gedächtnisstörungen bei Demenzkranken und teils auch deren Behandlung entfaltet. Dabei geht es überwiegend um episodische Langzeitgedächtnisinhalte, die durch neurodegenerative Abbauprozesse teilweise zu belastenden Realitätsverlusten führen. Anhand von zwei Fallbeispielen wird die Problematik von Desorientierungsphänomenen aufgezeigt, zugleich in zwei Zeitebenen (Vergangenheit und Gegenwart) zurechtzukommen: So muss eine Heimbewohnerin unbedingt nach Hause, um auf ihre Kinder aufzupassen. Und ein Heimbewohner steht mit gepackter Tasche im Flur auf dem Weg zur Arbeit. Mit Hilfe der „Erinnerungskommode“ als Metapher werden dann Gedächtniseinbußen und Gedächtnisstörungen beschrieben: „Schubladen mit lebensgeschichtlich bedeutsamen Erinnerungen“ „verrosten“ oder „verklemmen“, sodass kein Zugang mehr zu den Inhalten mehr besteht. Als eine Therapie wird für diese Defizite Biografiearbeit empfohlen: z.B. das Anbieten von Altvertrautem (u.a. Fotos und Gegenstände).

In Kapitel 7 (Ressourcen als Potenzial, Seite 70 – 78) geht es um die Passung von Person und Umwelt dergestalt, dass den Demenzkranken im Heimbereich möglichst die angemessenen Leistungen in den Bereichen Pflege, Betreuung und Milieugebundenheit zugeordnet werden. Durch dieses ressourcenorientierte Vorgehen soll vermieden werden, dass sich die Betroffenen durch die Außenreize überfordert fühlen und entsprechend mit demenzspezifischen Stressphänomenen reagieren. Als Beispiel wird das Verhalten eines Demenzkranken angeführt, der geistig nicht mehr den Erörterungen der bisher vertrauten morgendlichen „Zeitungsgruppe“ folgen kann und hierauf mit Rückzug und Niedergeschlagenheit reagiert. Den Abschluss des Kapitels bilden eine zwei Tabellen mit einer „Checkliste individueller Ressourcen“ (alltagsbezogene Kompetenzen).

Kapitel 8 (Ruhe und Entspannung, Seite 79 – 87) beleuchtet den Themenschwerpunkt Wahrnehmung u.a. aus neurophysiologischer Perspektive hinsichtlich des Aspektes Ruhe und Reizkonstellationen. In diesem Zusammenhang wird auch auf die allseits bekannte „Nonnenstudie“ aus den USA eingegangen, wobei die Autorinnen die wesentlichen Ergebnisse dieser recht umfassenden epidemiologischen Studie falsch wiedergeben. Nicht der Lebensstil im Kloster entscheidet über die klinische Symptomatik einschließlich der kognitiven Reservekapazität, sondern letztlich die Genetik, die anhand des elaborierten Schreibstils in der Jugend ermittelt wurde. Dieses Ausdrucksvermögen kann als phänotypische Expression einer genetischen Disposition verstanden werden (Snwodon 2001).

In Kapitel 9 (Wie geht es Ihnen? Wagen Sie den Selbstfürsorgecheck, Seite 88 – 97) stehen die Mitarbeiter im Zentrum der Ausführungen. Dabei werden u.a. die folgenden Faktoren thematisiert: Burnout, Denkanstöße für „eigene Glücksmomente“ (u.a. die Fragen „Fühlen Sie sich glücklich?“ und „Wollen Sie sich glücklich fühlen?“), die „Powerbank der Seele“ (u.a. eigene Bedürfnisse kennen), Potenzial der Gemeinschaft, Gelassenheit und „Blick auf das Gute“ (u.a. „Belastungstachometer“), „selbstbewusstes Abgrenzen“ und „achtsamer Umgang mit sich selbst“.

Diskussion

In dieser Veröffentlichung stehen Fragen und Probleme des Umgangs und auch der unmittelbaren Kommunikation mit Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium im Zentrum. Es handelt sich hierbei um das weite Feld der Betreuung und Milieugestaltung. Den angeführten Fallbeispielen ist zu entnehmen, dass die Autorinnen in diesen Arbeitsfeldern auf mehrjährige praktische Erfahrung zurückgreifen können.

Kritisch gilt es jedoch anzumerken, dass das Kernelement des Ansatzes, die „Hand voller Glücksmomente“ mit den Elementen Bewegung und Beschäftigung, Empathie, bestehende Erinnerungen, Ressourcen als Potenzial und Ruhe und Entspannung zu allgemein gehalten ist. Ähnlich wie bei Kitwood (2000) werden eher abstrakte Aspekte aufgeführt, die wiederum nicht ausreichend demenzspezifisch und zugleich auch demenzsensibel sind, um praktikable Tipps und Empfehlungen für die Betreuung geben zu können. Das Unvermögen der Autorinnen, Hilfestellung und Orientierung in konkreten Belastungsgegebenheiten zeigt sich u.a. an zwei Fallbeispielen (Seite 61). Es werden konkrete Desorientierungsphänomene wie das Verlangen, nach „Hause zu müssen, um auf die Kinder aufzupassen“ bzw. „zur Arbeit gehen zu müssen“ beschrieben, doch es fehlen die Lösungsansätze wie „Ablenken und Beruhigen“ die tagtäglich in den Heimen praktiziert werden.

Auch das Modell der „Erinnerungskommode“ wirkt aus neurowissenschaftlicher Sicht nicht überzeugend, werden doch die neurodegenerativen Abbauprozesse verbunden mit den einhergehenden Desorientierungsstörungen und Überlastungsphänomenen, die für die Alzheimer-Demenz im fortgeschrittenen Stadium symptomatisch sind, nicht angemessen berücksichtigt. Bezüglich der Bewältigung episodischer Langzeitgedächtnisinhalte hätte man Bezug auf das empirisch belegte Konzept des „fehlenden Realitätsfilters“ des Neurologen Armin Schnider nehmen sollen (2012, 2017).

Fazit

In der Einleitung stellen sich die Autorinnen die Frage, ob es neben Validation und den Modellen von Erwin Böhm und Tom Kitwood noch weiterer Konzepte bedarf. Sie kommen dabei zu der Einschätzung, dass das Konzept „Hand voller Glücksmomente“ eine sinnvolle Ergänzung und Praxisleitfaden mit wertvollen Tipps für die Praxis bilden könne. Dieser Einschätzung kann sich der Rezensent nicht anschließen, fehlen doch die wesentlichen neurowissenschaftlichen Grundlagen, die für die Fundierung eines neuen Ansatzes erforderlich sind. Des Weiteren fehlen auch die Wissensstände aus dem Alltag der Demenzpflege, das Mitgehen und Mitmachen und das Ablenken und Beruhigen. Mithilfe ausschließlich der „personenzentrierten“ Ansätze (u.a. Validation und Kitwood-Ansatz), die u.a. Ablenkung und Mitgehen als „Lug und Trug“ diskreditieren, lassen sich nun mal keine „Feel-Good-Cocktails“ und „Glücksmomente“ für Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium kreieren.

Literatur

Feil, N.: Validation. Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2000. https://www.socialnet.de/rezensionen/260.php

Snowdon, D. (2001). Lieber alt und gesund. Dem Alter seinen Schrecken nehmen. München: Karl Blessing Verlag

Kitwood, T. (2000) Demenz. Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern: Verlag Hans Huber.

Schnider, A. (2012) Konfabulationen und Realitätsfilter. In: Karnath, H.-O. und Thier, P. (Hrsg.) Kognitive Neurowissenschaften, Berlin: Springer (567 – 572)

Schnider, A. (2017) The Confabulating Mind: How Brain Creates Reality. Oxford: Oxford University Press (2. Auflage)

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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ISSN 2190-9245