Miriam Düber: Behinderte Elternschaft und ihre Bewältigung
Rezensiert von Prof. Dr. Kathrin Römisch, 20.01.2022
Miriam Düber: Behinderte Elternschaft und ihre Bewältigung. Perspektiven von Eltern mit Lernschwierigkeiten auf (nicht) professionelle Unterstützungsnetzwerke und allgemeine familienspezifische Angebote. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 252 Seiten. ISBN 978-3-7799-6590-9. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR.
Thema
Das Thema Elternschaft von Menschen mit Lernschwierigkeiten bzw. Begleitete Elternschaft ist weiterhin eher ein Randthema, auch wenn in den letzten Jahren immer wieder Forschungsprojekte und Veröffentlichungen zu dem Thema entstanden sind. Es beschäftigt sich nur ein überschaubarer Expert_innenkreis mit der Zielgruppe. Mit der Doktorarbeit von Miriam Düber ist nun eine weitere relevante forschungsbasierte Veröffentlichung hinzugekommen, die das Ziel verfolgt, die bisher nur wenig betrachtete Perspektive der Eltern selbst zu beleuchten. Sie schließt damit eine Forschungslücke.
Autorin
Miriam Düber ist Diplom-Sozialpädagogin mit einem Masterabschluss in „Bildung und Soziale Arbeit“, die sowohl über Praxis- als auch über Forschungserfahrungen verfügt. Sie war bereits in verschiedenen Forschungsprojekten am Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste in Siegen beschäftigt, zur Zeit der Promotion im „Modellprojekt Entwicklung von Leitlinien zu Qualitätsmerkmalen Begleiteter Elternschaft in NRW“.
Entstehungshintergrund
Bei dem Buch handelt es sich um die Dissertation von Miriam Düber, die bei der Universität Siegen bei Prof. Dr. Albrecht Rohrmann eingereicht wurde.
Aufbau und Inhalt
Miriam Düber fragt in ihrer Dissertation danach, wie die Elternschaft behindert wird und legt demnach konsequent den Grundgedanken des sozialen bzw. menschenrechtlichen Modells von Behinderung ihren Ausführungen zugrunde.
In der Einleitung wird die Zielstellung der Arbeit klar formuliert: „Die Arbeit möchte einen Beitrag leisten, einen umfassenden Einblick in das Erleben der Eltern zu geben, indem sie der Frage nachgeht, welche Perspektiven auf (nicht-)professionelle Unterstützung(snetzwerke) und eltern-/​familienspezifische Dienstleitungen sich bei Eltern, denen man eine sogenannte geistige Behinderung zuschreibt, rekonstruieren lassen.“ (Düber 2021, S. 14).
Hierfür ist das Buch in 5 Kapitel untergliedert:
- Einleitung
- Perspektiven und Erkenntnisse aus Theorie und Forschung
- Methodisches Vorgehen
- Ergebnisse der Interviewauswertung
- Fazit: Erkenntnisse und Impulse in sechs Thesen
Nach einer Einleitung, in der ein Problemaufriss skizziert und die Ziel- bzw. Fragestellung der Arbeit entwickelt wird, werden im 2. Kapitel „Perspektiven und Erkenntnissen aus Theorie und Forschung“ die wesentlichen Erkenntnisse aus den Veröffentlichungen und Forschungsprojekten aus den letzten Jahren in Bezug auf die eigene Fragestellung zusammengetragen. Sie nimmt hier nach allgemeinen Ergebnissen zu Elternschaft von Menschen mit Lernschwierigkeiten Erkenntnisse zur professionellen Unterstützung, zum sozialen Netzwerk und zur Nutzung familienspezifischer Angebote in den Blick. Diese gewinnbringende und sorgfältige Zusammenfassung bereitet die eigene Forschung vor, die im 3. Kapitel vorgestellt wird. Die Beschreibung des methodischen Vorgehens verdeutlicht die Schwierigkeiten beim Sampling. Trotz des schon vorhandenen Zugangs zum Feld durch ein Forschungsprojekt finden sich in der Forschung dieser bisher doch nur sehr kleinen Zielgruppe erhebliche Herausforderungen, sei es durch Gatekeeper, die vorauswählen oder vorselektieren, sei es aufgrund zahlreicher Anfragen, von denen Eltern und Träger überfordert sind, was intensiv reflektiert wird. Die dennoch gefundenen Eltern werden anhand eines mehrstufigen Interviewverfahrens befragt. Die Interviews werden in Anlehnung an die dokumentarische Methode rekonstruktiv ausgewertet. Diese Methode, die leider viel zu selten angewendet wird, führt zu Ergebnissen, die sowohl die bereits bestehenden Forschungsergebnisse bestätigen, als auch neue Erkenntnisse zutage fördern. Die Ergebnisse werden nach ausführlichen Fallbeschreibungen der Familien differenziert anhand verschiedener Oberthemen dargestellt: so werden anschaulich die vielen verschiedenen Belastungen, erfahrene Benachteiligungen und erlebten Infragestellungen der elterlichen Kompetenzen dargestellt. Auch in dieser Studie bestätigen sich die Ergebnisse anderer Studien, nämlich, dass die Lebenssituationen der Eltern teilweise als hochbelastet bewertet werden können und die erlebten Schwierigkeiten nicht in einem direkten Zusammenhang mit der Beeinträchtigung als solcher stehen, sondern vielmehr mit den aufgrund der Zuschreibung der geistigen Behinderung in zusammenhangstehenden Stigmatisierungen und Benachteiligungen. Dabei werden vor allem die einzelnen Bewältigungsstrategien der Personen herausgearbeitet, was in der Form in bisheriger Forschung so noch nicht geschehen ist. So unterschiedlich die befragten Personen sind, so unterschiedlich sind ihre Herangehensweisen und Positionierungen in Bezug auf die (nicht)professionellen Hilfesysteme. Den Ergebnisteil abschließend werden aus den Analysen Grundmuster der einzelnen Positionierungen und daraus resultierende Strategien gegenüber dem professionellen Hilfesystem und der damit verbundenen Kontrolle herausgearbeitet („Die Autonomen“, „Die Kooperative“, „Die Strategin“, „Die reflektierten Nutzer“).
Im 5. Teil, dem Fazit, werden anhand von sechs Thesen die Erkenntnisse zusammengefasst und Impulse für die Praxis geliefert. Einige Thesen bestätigen die bisherigen Forschungsergebnisse und verleihen diesen noch mal stärkere Bedeutung, so wie These 2: „Die Lebenssituation von Eltern mit Lernschwierigkeiten ist gekennzeichnet durch eine Häufung von Belastungsfaktoren, Erfahrungen, gesellschaftlicher Benachteiligung und der Infragestellung ihrer elterlichen Kompetenz“ (Düber 2021, S. 235). Aber insbesondere der Fokus auf die Bewältigungsstrategien und die zugrunde liegende Annahme der im Titel deutlich gewordenen behinderten Elternschaft (also im Sinne des sozialen Modells) heben die Erkenntnisse auf eine andere Ebene. Als eine zentrale Zuspitzung arbeitet Miriam Düber heraus: „Ein stärkerer Fokus auf Zugänge zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe der Familien – z.B. im Hinblick auf ihre materielle Situation, Erwerbsarbeit und Bildungschancen – ist daher zentral. Die fachliche Diskussion konzentriert sich jedoch in der Regel stark auf das Erlernen und Trainieren elterlicher Kompetenzen mittels gezielter pädagogischer Förderung. Die Veränderung von Lebensbedingungen, die Förderung umfassender Inklusion und Teilhabe in allen Lebensbereichen und das Eintreten für strukturelle Veränderungen geraten dabei – so scheint es – insbesondere bei der Adressat*innengruppe der Sozialen Arbeit in den Hintergrund.“ (Düber 2021, S. 236 f.). Auch die Analyse, wie unterschiedlich sich die Eltern zu professioneller Hilfe und der damit verbundenen Kontrolle äußern und damit umgehen, wurde so bisher nicht erforscht und liefert wichtige Impulse für die Praxis. Genauso neu sind die Erkenntnisse zur Inanspruchnahme von allgemeinen familienspezifischen Angeboten.
Diskussion
Da das Thema trotz des dringend angezeigten Handlungsbedarfs immer noch eher ein Randthema ist, gibt es bisher leider nur wenige fundierte Bücher wie dieses. Es werden zwar viele Bachelor- und Masterarbeiten zu dem Thema geschrieben, aber forschungsbasierte Veröffentlichungen mit neuen Erkenntnissen entstehen nur vereinzelt, wenn auch in den letzten Jahren zum Glück immer mehr. Das Buch gewinnt vor allem durch die rekonstruktive Auswertung und den starken Fokus auf das Behindert-werden, was beides zu neuen Perspektiven und Erkenntnissen führt und die bestehenden Erkenntnisse einmal mehr untermauert. Es finden sich viele Anknüpfungspunkte an theoretische Entwürfe, wie an Bourdieu bspw. oder an Konzepte wie Resilienz, die sinnvoll genutzt werden könnten, um die Analyse noch stärker zu fundieren. Das Buch ist für Studierende, für alle in der Behindertenhilfe und in der Begleiteten Elternschaft Tätigen, aber auch für die Wissenschaft absolut empfehlenswert.
Fazit
Diese stark am sozialen bzw. menschenrechtlichen Modell von Behinderung orientierte Arbeit fragt konsequent nach den Prozessen, wie Elternschaft behindert wird, was für die Diskussion um die Elternschaft von Menschen mit Lernschwierigkeiten absolut gewinnbringend ist, da wieder einmal deutlich wird, dass „die einem Menschen zugeschriebene ‚geistige Behinderung‘ keine pauschalen Schlüsse über mögliche Auswirkungen auf Elternschaft“ zulässt (Düber 2021, S. 235). Es müssen vielmehr das Gesamtgefüge, die damit verbundenen Stigmatisierungen und Benachteiligungen (z.B. in Bezug auf Bildung und Arbeit) berücksichtigt werden, was in der Arbeit pointiert herausgearbeitet wird.
Rezension von
Prof. Dr. Kathrin Römisch
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Zitiervorschlag
Kathrin Römisch. Rezension vom 20.01.2022 zu:
Miriam Düber: Behinderte Elternschaft und ihre Bewältigung. Perspektiven von Eltern mit Lernschwierigkeiten auf (nicht) professionelle Unterstützungsnetzwerke und allgemeine familienspezifische Angebote. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2021.
ISBN 978-3-7799-6590-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28831.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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