Dagmar Hosemann, Thorsten Wege: Wo das Wünschen noch geholfen hat
Rezensiert von Prof.in Dr. Stefanie Kuhlenkamp, 09.11.2021
Dagmar Hosemann, Thorsten Wege: Wo das Wünschen noch geholfen hat. Systemisch-lösungsorientierte Gespräche aus der Welt der Märchen. Verlag modernes lernen Borgmann GmbH & Co. KG. (Dortmund) 2021. 208 Seiten. ISBN 978-3-8080-0908-6. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 32,30 sFr.
Thema
Im Kontext bekannter Märchen(figuren) wenden die Autor*innen zahlreiche Aspekte der systemisch-lösungsorientierten Beratungspraxis an. Hierdurch entstehen humorvolle, überraschende und originelle Lehr-Lerngeschichten, in denen auch aktuelle Themen, wie z.B. der Klimawandel bei Frau Holle, aber auch die Herausforderungen alleinerziehender Mütter (Rapunzel) ihren Platz finden.
Autorin und Autor
Die beiden Hauptautor*innen blicken auf viele Jahre der gemeinsamen Lehrtätigkeit u.a. im Bereich der Lösungsorientierten Beratung zurück, aus der heraus auch der Impuls für das vorliegende Buch entstand. Beide Autor*innen sind darüber hinaus in verschiedenen Formen der Beratungspraxis tätig.
Dagmar Hosemann, emeritierte Professorin, lehrte an der Evangelischen Hochschule Darmstadt, Geschichte und Methoden der Sozialen Arbeit u.a. mit den Schwerpunkten Systemische Beratung und Lösungsorientierte Kurzberatung. Ausgebildet in systemischer Familientherapie, Supervision und Organisationsentwicklung, ist sie nach wie vor aktiv als Lehrende, Supervisorin, Coach und Organisationsberaterin.
Thorsten Wege, lehrender Sozialarbeiter an der Fachhochschule Dortmund für Methoden der Sozialen Arbeit (u.a. Systemische Beratung, Systemische Soziale Arbeit, Kinder-, Jugend- und Familienhilfe) ist ausgebildeter Systemischer Therapeut und Berater, NLP Master, Hypnosetherapeut und Elternkurstrainer. Neben seiner hochschulischen Tätigkeit ist er freiberuflich u.a. als Supervisor und Fachberater für ambulante und stationäre Jugendhilfeeinrichtungen tätig.
Entstehungshintergrund
Der Entstehungshintergrund des Buches ist eng mit den beruflichen Aktivitäten der Autor*innen in Studium, Aus- und Weiterbildung verbunden. Die grundlegende Idee, Fallbeispiele für systemisch-lösungsorientierte Beratungspraxis anhand von Märchen zu verfassen, wurde durch Studierende gegeben, die im Rahmen einer Prüfung Interaktionsmuster in eine Rahmenhandlung aus der Märchenwelt umsetzten (S. 7). Im Laufe der Jahre entstanden dann weitere märchenhafte Beratungsbeispiele, die sowohl von den beiden Hauptautor*innen als auch von weiteren Verfasser*innen (Mandy Gericke, Henrik Hitzemann, Holger Hesebeck) geschrieben wurden.
Aufbau
Im Vorwort werden die Entstehungsgeschichte und die Intention des Buches vorgestellt, bevor die Leser*innen in einer kurzen theoretischen Einleitung zur Märchensammlung geführt werden. In den sich anschließenden zwanzig Märchen werden dann verschiedene Aspekte der systemisch-lösungsorientierten Beratungspraxis in unterschiedlich umfangreichen Märchenerzählungen vorgestellt. Ein Nachwort, ein Glossar, ein Literatur- und Quellenverzeichnis, eine kompakte Übersicht über die Inhalte, Kontextbezüge, Methoden und Techniken des jeweiligen Märchens sowie Kurzbiografien der Autor*innen runden das Werk ab.
Inhalt
Der Einstieg in das Buch erfolgt durch eine Schilderung seiner Entstehungsgeschichte und der von den Autor*innen beabsichtigten Intention im Vorwort. Wie in jedem traditionellen Märchenbuch beginnt dieses mit dem Satz: „Es war einmal…“ (S. 7). Und schon tauchen die Leser*innen in eine Welt des Erzählens ein. Die Bedeutung und die Kraft des Erzählens, der Entwicklung von Geschichten und deren Wert werden skizziert. Gemeinsam mit dem Nachwort bildet die Einleitung eine inhaltliche Klammer, in der die Bedeutung systemisch-lösungsorientierter Kommunikation für die Praxis und das Studium der Soziale Arbeit betont wird.
In der Einleitung (8 Seiten) wir eine komprimierte Übersicht über die theoretischen Grundlagen des Buches gegeben. Der Logik der Märchenwelt folgend, gehen die Leser*innen in diesem Kapitel durch einen dreifachen Spiegel (theoretische Grundlagen der systemisch-konstruktivistische Beratungspraxis, Anmerkungen zu Methoden und Techniken der Beratungspraxis sowie zu Erzählgrammatik und Stilmitteln von Märchen). Betont wird hier: „Systemisch-konstruktivistische Beratungspraxis ist als wissenschaftlich fundiertes Handeln zu verstehen, welches permanent ethischer Reflexion bedarf“ (S. 13). Dementsprechend wird in diesem Teil u.a. das erkenntnistheoretische Fundament der systemisch-lösungsorientierten Beratungspraxis (Konstruktivismus) und die davon abzuleitende Haltung sowie Methoden der Beratenden als Basis für ein wissenschaftlich fundiertes Beratungshandeln thematisiert.
Der Weg durch den theoretischen Spiegel der Einleitung führt zu zwanzig Märchen. Hierbei handelt es sich um bekannte traditionelle Märchen (wie z.B. Rotkäppchen, Hase und Igel, Dornröschen). Diese werden allerdings in neue (Beratungs-)Kontexte gestellt, thematisieren andere, als die bisher vertrauten Aspekte und zeigen, wie die Protagonist*innen durch systemisch-lösungsorientierte Beratung Lösungen für ihre als problematisch wahrgenommenen Lebenssituationen entwickeln. Dieses Vorgehen bedeutet, die Methode mit der Methode zu unterrichten, denn „sich auf bekannte Märchen zu beziehen hat den Vorteil, dass sie den meisten Leser*innen mit ihren Inhalten und Verläufen vertraut sind. Sie nun in einem Kontext zu lesen, wo Verlauf, Ergebnis oder bestimmte Umstände anders sind, führt häufig zu einer „Verstörung“ der eigenen Wahrnehmung, die das Aufmerksamkeitsfeld erweitert. Da systemisch-lösungsorientierte Therapie und Beratung genau darauf abzielen, die eigene Wahrnehmung zu erweitern und von tradierten Mustern Abstand zu nehmen, um sich angemessener im Alltag zurechtzufinden, können Leser*innen bei diesen Geschichten genau das erleben“ (Klappentext).
Anhand des Glossars wird deutlich, dass die Autor*innen aufgrund ihrer eigenen Ausbildungen und ihrer Tätigkeiten in Aus- und Weiterbildung sowie in der Beratung aus einem großen Methodenfundus schöpfen können, der auch in den Fallbeispielen Anwendung findet. So versammeln sich die Einzelaspekte der Beratungspraxis, die in den Fallbeispielen verwendet werden, im Glossar unter folgenden vier Rubriken:
- Basistechniken der Gesprächsführung
- Systemisch-lösungsorientierte Grundannahme und Elemente
- Methoden und Techniken
- Hypnotherapie und NLP
Die unter der jeweiligen Überschrift gefassten Einzelaspekte (wie z.B. Paraphrasieren, Copingfragen, Genogrammarbeit, Hypnotische Sprachmuster nach Milton Erickson) werden durchnummeriert und im Kapitel „Kurzbeschreibung, Kontextbezüge, Methoden und Techniken“ dem jeweiligen Fallbeispiel zugeordnet. Dadurch können die Fallbeispiele hinsichtlich der verwendeten Aspekte entschlüsselt bzw. auch für die Lehre gezielt ausgewählt werden.
Diskussion
Den Autor*innen ist mit „Wo das Wünschen noch geholfen hat…“ ein bemerkenswertes Buch gelungen. Bereits das Vorwort lädt ein zu „fachlichen Wiedererkennungsmomenten, Schmunzeln […], und im allerbesten Fall auch die ein oder andere Inspiration für die eigene Beratung- und Gesprächsführungspraxis“ (S. 7). Dieser Einladung können die Leser*innen durchgehend folgen. Leser*innen mit Vorkenntnissen werden sicherlich beim Lesen der Fallbeispiele Gedanken kommen wie „ja, genau erst einmal ein gutes Joining“ oder „da kommt jetzt bestimmt die Wunderfrage!“ An vielen Stellen wird die Leser*innen auch lachen können, wenn z.B. Herr Stilz (auch bekannt als Rumpelstilzchen) im Zwangskontext einer Psychiatrie den unkooperativenen und impulsiven Patienten gibt, der über Auftragsklärung, Coping- Skalierungs- und Wunderfragen etc. zu einer Zukunftsperspektive gelangt.
Den Autor*innen gelingt insgesamt eine sehr gute Mischung aus theoretischen Grundlagen und deren Anwendung in märchenhaften Fallbeispielen. Besonders ansprechend ist dabei auch ein stetes „Augenzwinkern“ (S. 16), mit dem die Autor*innen die Märchenfiguren in unterschiedliche Beratungssettings setzen. Die Suchtberatung von Rotkäppchens Großmutter (traumatisiert durch den Überfall des Wolfes) und die Gruppentherapie der Bremer Stadtmusikanten in einem stationären Drogeneinrichtung sind nur zwei von zwanzig gelungenen Fallbeispielen, die dazu einladen, bekannte Märchen einmal anders zu betrachten.
Das Buch kann vielfältig genutzt werden und wendet sich daher mindestens an drei Zielgruppen:
- Lehrende, die anhand der Fallbeispiele Beratungspraxis veranschaulichen möchten, erhalten anhand der Kurzbeschreibungen der Märchen, die Benennung des jeweiligen Beratungskontexte (z.B. Coaching, Paarberatung, Einzelberatung) sowie der dort eingesetzten Methoden und Techniken am Ende des Buches einen Überblick über die Fallbeispiele. Hierdurch wird die Auswahl eines passenden Fallbeispiels für Ausbildungskontexte erleichtert. Auch ein Weiterschreiben oder ein Verfassen eigener Fallbeispiele aus der Märchenwelt kann anhand der vorliegenden Fallbeispiele in der Lehre angeregt werden, um auf diese Weise erworbenes Wissen anzuwenden.
- Studierenden können anhand der Fallbeispiele nachvollziehen, wie Werkzeuge der systemisch-lösungsorientierten Gesprächsführung angewendet werden und wirken können. Die Fallbeispiele laden auch dazu ein, bereits erworbenes Wissen zu überprüfen. So können die Fallbeispiele unter der Fragestellung „welche Techniken und Methoden werden hier jeweils angewendet?“ als Rätselaufgabe gelesen werden.
- In der Beratungspraxis bereits Tätige finden in den Fallbeispielen eine unterhaltsame, kurzweilige Lektüre und treffen auf gute alte Bekannte. Sicherlich können sie auch an der ein oder anderen Stelle lachen.
Wenn ich drei Wünsche von einer guten Buchfee erhalten würde, mit der dieses Buch noch besser gemacht werden könnte, würde ich mir nach langem Überlegen, um keinen Wunsch zu vergeuden, Folgendes wünschen: 1. Das Glossar und die Kurzbeschreibungen sollten unmittelbar aufeinander folgen. So müsste nicht erst das Literaturverzeichnis, das zwischen den beiden Kapiteln steht, überblättert werden, um die in den Kurzbeschreibungen nur mit Ziffern angegeben Begriffen aus dem Glossar zuzuordnen. 2. Die verwendete Literatur könnte aktueller sein, wenngleich viele der verwendeten Klassiker in unveränderten Neuauflagen erscheinen und daher keine neuen Inhalte aufweisen. 3. Eine Empfehlung für Basis- und weiterführende Literatur könnte den Lehrbuchcharakter noch abrunden.
Ein Blick in die Glaskugel zeigt jedoch, dass dieses Buch auch ohne diese Wünsche vielen Leser*innen Freude bereiten wird und eine gute Grundlage für die fallorientierte Ausbildung in systemisch-lösungsorientierter Beratung bildet.
Fazit
Werkzeuge der systemisch-lösungsorientierten Gesprächsführung sowie weiterer Beratungsansätze werden in diesem Buch anhand von Fallbeispielen aus der Welt der Märchen nachvollziehbar angewendet und in ihrer potenziellen Wirkung beschrieben. Wie auch bei „klassischen“ Fallbeispielen geschieht dies idealtypisch. Die Fallbeispiele werden theoretisch gerahmt und eignen sich sehr gut zum Einsatz in Studium, Aus- und Weiterbildung. Das Buch ist interessant für Lehrende, Studierende und Berater*innen. Es ist gleichermaßen ein Lehr-Lernbuch und eine abwechslungsreiche, unterhaltsame und humorvolle Lektüre für Fans der systemischen Beratung, die über ihre Arbeit auch lachen können.
Rezension von
Prof.in Dr. Stefanie Kuhlenkamp
lehrt im Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Dortmund mit dem Schwerpunkt Soziale Teilhabe und Inklusion. Mehrjährige Tätigkeit als Lehrende an einer Fachschule für Motopädie sowie im Lehrgebiet Bewegungserziehung und -therapie der TU Dortmund. Sie leitet den Förderverein Bewegungsambulatorium an der Universität Dortmund e. V. und arbeitet hier auch psychomotorisch mit Kindern und Jugendlichen.
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Zitiervorschlag
Stefanie Kuhlenkamp. Rezension vom 09.11.2021 zu:
Dagmar Hosemann, Thorsten Wege: Wo das Wünschen noch geholfen hat. Systemisch-lösungsorientierte Gespräche aus der Welt der Märchen. Verlag modernes lernen Borgmann GmbH & Co. KG.
(Dortmund) 2021.
ISBN 978-3-8080-0908-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28846.php, Datum des Zugriffs 14.12.2024.
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