Wolfgang Wöller, Astrid Lampe et al.: Psychodynamische Therapie der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung
Rezensiert von Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen, 21.01.2022
Wolfgang Wöller, Astrid Lampe, Helga Mattheß, Julia Schellong, Falk Leichsenring et al.: Psychodynamische Therapie der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung. Ein Manual zur Behandlung nach Kindheitstrauma. Schattauer (Stuttgart) 2020. 193 Seiten. ISBN 978-3-608-40039-7. D: 30,00 EUR, A: 30,80 EUR.
Thema
Vorgestellt wird ein praxisnahes Therapiemanual für physische, sexuelle oder emotionale Gewalt in der Kindheit und Jugend, die zur komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (kPTBS) führen.
Besonders berücksichtigt wird, dass bei Kindheitstraumatisierungen das Störungsbild der PTBS komplexer ist und die Symptomatik breiter ist als nach Traumatisierungen im Erwachsenenalter. Frühe Traumatisierungen führen oftmals zu einer hohen Komorbidität und stellen besondere Anforderungen an die Therapie. Die in diesem Manual zugrundeliegende psychoanalytische Konzeption folgt einem Verständnis psychodynamischer Behandlung als einem ressourcenbasierten integrativen Verfahren.
AutorInnen
Wolfgang Wöller ist Priv.-Doz. Dr. med., Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytiker (DGPT, DPG), Lehranalytiker und EMDR-Supervisor. Bis Ende 2017 war er Ärztlicher Direktor und Leitender Abteilungsarzt der Abteilung mit Schwerpunkt Traumafolgeerkrankungen und Essstörungen der Rhein-Klinik Bad Honnef und Dozent an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Düsseldorf. Seit 2018 erfolgt eine Fortsetzung der Lehr- und Forschungsaktivitäten im Rahmen von TraumaAid Deutschland (Ruanda-Projekt) sowie freie Vortrags- und Publikationstätigkeit.
Astrid Lampe ist tätig als Univ.-Prof. Dr. med., Stv. Klinikdirektorin am Department für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Universität Innsbruck, als FÄ für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin, Klientenzentrierte Gesprächspsychotherapeutin und als Lehrtherapeutin ÖÄK.
Julia Schellong, Dr. med., arbeitet als Stv. Klinikdirektorin, Oberärztin Psychotraumatologie, FÄ für Psychosomatik sowie für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalytikerin am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus der Technischen Universität Dresden.
Falk Leichsenring ist Prof. Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Psychoanalytiker und Professor für Psychotherapieforschung in der Abteilung Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Gießen.
Johannes Kruse ist Prof. Dr. med., Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker (DGPT), Lehranalytiker; Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie, Justus-Liebig-Universität Gießen; Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Philipps-Universität Marburg und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM).
Helga Mattheß Dr. med., Dipl.-Phys., arbeitet als FÄ für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytikerin, EMDR-Trainerin.
Aufbau
Nach dem Vorwort gliedert sich das Buch in fünf Teile und in die Anhänge. Nach der kurzen Einleitung folgt im zweiten Teil eine theoretische Übersicht über psychodynamische Modellvorstellungen zu komplexen Traumafolgestörungen nach Kindheitstraumatisierungen. Im dritten Teil fokussieren die AutorInnen die Anfangsphase der Therapie und im vierten Teil des Buches die mittlere Phase der Therapie, hier insbesondere das Thema Übertragung/​Gegenübertragung und die Regulation der therapeutischen Beziehung und der Vorstellung von Varianten schonender Traumabearbeitung. Im abschließenden fünften Teil wird die Endphase der Therapie fokussiert. Diesen Buchteilen schließen sich ein Literaturverzeichnis und im Anhang beispielhafte Reflexionen und Übungen ebenso an, wie Angaben zu den AutorInnen.
Inhalt
In der kurzen Einleitung geben die AutorInnen eine Kurzübersicht über das Charakteristikum der posttraumatischen Belastungsstörung von Kindheitstraumatisierungen. Betont wird die Bedeutung von Bindungs- und Beziehungstraumatisierungen und ihre Auswirkungen auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Bedeutung einer breiten Komorbidität.
Im zweiten Kapitel erfolgt aus einer theoretischen Metaperspektive zunächst eine historische Betrachtung, beginnend mit Sigmund Freud, Pierre Janet und Sándor Ferenczi und den strukturbildenden Wirkungen verinnerlichter traumatischer Beziehungsmuster. Dem schließen sich Anmerkungen über objektbeziehungstheoretische Modelle, bindungstraumatische Erfahrungen und veränderte Erinnerungsverarbeitungen im Gehirn an. Diskutiert werden Aspekte des Traumagedächnisses im Kontext der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung und inwieweit traumatische Erfahrungen einer Verarbeitung durch Abwehrvorgänge und Fantasiebildungen unterliegen. Konstatiert wird ein Mangel an theoretischen psychoanalytischen Modellvorstellungen, die mit der modernen Gedächnisforschung gut kompatibel sind (S. 14). Abschließend wird die Bedeutung der Ressourcenorientierung betont, die aus einer psychoanalytischen Perspektive als eine gezielte Aktivierung positiver verinnerlichter Selbst- und Objektrepräsentanzen verstanden werden kann.
Im dritten Kapitel über die therapeutischen Möglichkeiten wird darauf hingewiesen, dass traditionelle psychoanalytische Konzepte vor allem für funktionelle Patienten mit einem Monotrauma gedacht waren und dass bei komplexen Traumata neue Konzeptionen notwendig sind, im Weiteren wird ein differenziertes Konzept vorgestellt. Benannt werden die Grundsätze und die Möglichkeiten einer Nutzung von Therapiemanualen mit Hilfe Sitzungsverbindener Reflexionen und Übungen.
Im Teil II über die Diagnostik, Behandlungsinformation und Therapieziele werden im vierten Kapitel „Diagnostik“ die psychodynamische Erstuntersuchung und die Diagnostik der Symptomatik thematisiert. Hier erfolgen auch Hinweise auf diagnostische Fragebögen. Anschließend erfolgen Erläuterungen zur Ressourcen- und Traumadiagnostik und zur psychodynamischen Strukturdiagnostik. Im fünften Kapitel folgen Erläuterungen zum Therapiekonzept und zur Therapiezielvereinbarung.
Im TEIL III (Kapitel 6) über die Anfangsphase der Therapie werden u.a. Aspekte der Sicherheit und Halt in der therapeutischen Beziehung, Präsenz und Regulation, Wertschätzung, Respekt und die Validierung des Erlebens der Patientin, Abstinenz und parteiliche Abstinenz, Selbstverletzung und Suizidalität der Patienten erörtert. Das Kapitel schließt mit Anmerkungen über die Reparatur von Allianzbrüchen, dem packen eines »Notfallkoffers« und der regelmäßigen Überprüfung der Therapieziele und -aufträge. Im 7. Kapitel thematisieren die AutorInnen das Störungsbild und ein Verständnis der Psychodynamik und mögliche Inhalte der Psychoedukation. Im 8. Kapitel werden ein Imaginatives Containment intrusiver Phänomene und die Aktivierung positiver Selbstzustände beschrieben. Dies beinhaltet beispielsweise die Imagination eines sicheren Ortes, die Imagination der inneren Helfer oder der Umgang mit dissoziativen Symptomen.
Im vierten Teil, der Beschäftigung mit der mittleren Therapiephase, thematisieren die AutorInnen im 9. Kapitel Probleme der Übertragung/​Gegenübertragung und die Regulation der therapeutischen Beziehung. Im Mittelpunkt des 10. Kapitels steht die Selbstfürsorge der Patienten auf der inneren Bühne, hier die Arbeit mit inneren Kindanteilen und ihre psychodynamische Einordnung. Beschrieben wird u.a. das Vorgehen bei der Arbeit mit inneren Kindanteilen und in einem Unterkapitel die Arbeit mit verletzenden und aggressiven Persönlichkeitsanteilen, den sog. Täterintrojekten und Täteridentifikationen. Verwiesen wird darauf, dass diese häufig gemeinsam auftreten. Daher schlagen die AutorIinnen vor, statt von Täterintrojekten oder Täteridentifikation von Täterloyalität und Täterimitation zu sprechen. Zudem habe es sich bewährt, von verletzenden, aggressiven, destruktiven oder auch das Verhalten kontrollierenden Persönlichkeitsanteilen zu sprechen. Langfristig müsse es darum gehen, diese Anteile zu einer Kooperation einzuladen, damit verstanden werden kann, wann diese Teile entstanden sind und wozu sie gedient haben. In weiteren Schritten sollten idealerweise die Patienten erkennen, dass das damalige Verhalten heute nicht mehr notwendig ist. Das 11. Kapitel thematisiert die Arbeit mit traumatischen Erinnerungsfragmenten und traumabezogenen Belastungen und stellt für die Praxis Varianten schonender Traumabearbeitung vor. Nach einführenden Anmerkungen werden konfrontative Bearbeitungstechniken, die Stressabsorptionstechnik, die Pendeltechnik und die Bildschirmtechnik vorgestellt.
Der fünfte Teil beschäftigt sich mit der Endphase der Therapie, hier m 12. Kapitel mit dem Weiterleben nach dem Trauma. Betont wird die Bedeutung der Selbstfürsorge, der Abgrenzung und der Unterstützung der Mentalisierungsfunktion der Patienten. Das Buch schließt mit einem kurzen 13. Kapitel über die Beendigung der Therapie, Anmerkungen, ein Literaturverzeichnis und Angaben zu den AutorInnen. In einem Anhang werden beispielhafte Reflexionen und Übungen vorgestellt, die umfangreich vom Verlag bereitgestellt werden (siehe unter www.klett-cotta.de). Hierzu gehören viele Arbeitsblätter über zum Beispiel den inneren sicheren Ort, Pendeltechniken, Ressourcenkarten und Therapiezielformulierungen.
Diskussion
Nicht gekennzeichnet wird in diesem Buch, welchen jeweiligen Teil die einzelnen AutorInnen geschrieben haben. Die theoretisch fundierten Kapitel sind durchgängig sehr praxisnah formuliert. Lediglich der Teil über die Täterintrojekte hätte etwas ausführlicher ausfallen können (3 Seiten).
Bei diesem sehr gelungenen Buch sind insbesondere die vielen Beispiele und auch die wörtlichen Interventionen für die Praxis und zum Verständnis des Textes sehr nützlich. Sehr hilfreich sind zudem die umfangreichen Downloadmateralien.
Das Buch richtet sich, so der Verlag, an ärztliche und psychologische (psychodynamische orientierte) PsychotherapeutInnen und TraumatherapeutInnen, es kann jedoch auch Fachkräften der Traumaberatung und der Traumapädagogik empfohlen werden.
Vorgestellt wird ein Buch aus einer psychoanalytischen Perspektive, die jedoch mit anderen Therapieverfahren sehr kompatibel ist. Die AutorInnen leisten mit diesem Buch auch einen wichtigen Beitrag zu einem Integrativen Verfahren, das nicht die Unterschiedlichkeit der Therapieschulen, sondern grundlegende Gemeinsamkeiten in den Mittelpunkt stellt.
Fazit
Die AutorInnen geben mit ihrem Buch einen wichtigen Überblick über grundlegende Haltungen im Kontakt mit traumatisierten Menschen und legen für die Therapie mit insbesondere komplex traumatisierten Personen ein hilfreiches, praxisnahes Konzept vor.
Das Buch kann TraumatherapeutInnen ebenso empfohlen werden, wie weiteren Fachkräften, die im näheren Kontakt mit traumatisierten Menschen sind.
Rezension von
Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen
studierte Soziale Arbeit und Erziehungswissenschaft und absolvierte Ausbildungen als Familientherapeut und Traumatherapeut und arbeitet ab 2021 als Studiendekan im Masterstudiengang „Psychosoziale Beratung in Sozialer Arbeit“ an der DIPLOMA Hochschule
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Zitiervorschlag
Jürgen Beushausen. Rezension vom 21.01.2022 zu:
Wolfgang Wöller, Astrid Lampe, Helga Mattheß, Julia Schellong, Falk Leichsenring et al.: Psychodynamische Therapie der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung. Ein Manual zur Behandlung nach Kindheitstrauma. Schattauer
(Stuttgart) 2020.
ISBN 978-3-608-40039-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28849.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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