Thomas Schmitt: Das soziale Gehirn
Rezensiert von Dr. Winfried Leisgang, 09.02.2022
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Thomas Schmitt: Das soziale Gehirn. Eine Einführung in die Neurobiologie für psychosoziale Berufe.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2021.
2., erweiterte und überarbeitete Auflage.
192 Seiten.
ISBN 978-3-7799-3171-3.
D: 19,95 EUR,
A: 20,60 EUR.
Mit Audio inside. Reihe: Edition Sozial.
Autor
Dr. Thomas Schmitt ist Mediziner und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Darüber hinaus hat er langjährige Erfahrung als Dozent an Hochschulen und Bildungseinrichtungen.
Aufbau
Das Buch ist unterteilt in drei Abschnitte. Der erste befasst sich mit den Grundlagen der Entwicklung und der Funktionsfähigkeit des Gehirns. Der zweite geht auf psychiatrische Störungsbilder ein und im letzten Abschnitt geht es um Erkenntnisse der neuesten Hirnforschung.
Inhalt
Im ersten Abschnitt geht der Autor aus medizinischer Sicht auf die Entwicklung des menschlichen Gehirns ein. Dabei macht er einen historischen Rückblick auf die Geschichte der Hirnforschung. Es wird dargestellt, wie das Verhalten und das Erleben, also alle seelischen Prozesse, mit der Entwicklung des Gehirns zusammenhängen. Unterschiedliche Regionen im Gehirn übernehmen auch unterschiedliche Aufgaben und Funktionen. Stand der Wissenschaft ist es, dass das Gehirn hochkomplex neural verschaltet ist und die Fähigkeit der Plastizität besitzt. Dies bedeutet, dass das Gehirn fähig ist, sich zu verändern. Dies ist ein Prozess, der bis ins hohe Alter anhält. Der Autor unterscheidet zwischen einer genetischen, einer zellulären und einer synoptischen Plastizität. Gene können durch Fehler in der Zellteilung und durch Umwelteinflüsse verändert werden. Bei der Ausdifferenzierung der einzelnen Nervenzellen ergeben sich unterschiedliche Formen und Funktionen. Da auch die Synapsen Teil der Nervenzellen und deren Ausprägung sind, kann nicht genau zwischen zellulärer und synaptischer Plastizität unterschieden werden. Verändern sich die Synapsen, dann verändert sich auch die Funktion des zentralen Nervensystems. Der Autor weist ausdrücklich darauf hin, dass die Entwicklungen des Gehirns „durch Umgebungsfaktoren (Milieu und soziale Beziehungen) erheblich beeinflusst werden.“ (38) Er betont den Zusammenhang, dass der Mensch, stärker als alle anderen Lebewesen, zwar von der Umwelt beeinflusst wird, er sich aber an die Umwelt anpassen kann.Zusätzlich hat er immer versucht, die Umwelt durch Veränderungen an seine Vorstellungen anzupassen. „Bezogen auf psychische Erkrankungen bedeutet dies, dass insbesondere dann Störungen auftreten, wenn zwischen der Anpassungs- und Konfliktbewältigungsfähigkeit eines Menschen sowie den Erfordernissen der Umwelt eine unüberwindbare Diskrepanz besteht.“ (91) Daraus leitet er für die Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen ab, dass
- eine psychische Erkrankung auch von sozialen Strukturen und Hierarchien beeinflusst wird,
- bei den Betroffenen oft die Anpassungsfähigkeit an die Anforderungen der Umwelt beeinträchtigt ist,
- diese Menschen durch soziale Kontakte mit professionellen in der Therapie und der sozialen Arbeit gezielter und effizienter unterstützt werden können als mit Medikamenten.
- es nötig ist, Menschen auf dem Weg notwendiger Veränderungen an sich oder der Umwelt zu begleiten. Dabei hilft als Leitidee: „Was wir nicht verändern können, sollten wir akzeptieren; was veränderbar ist und verändert werden sollte, sollten wir verändern!“ (91)
Im zweiten Abschnitt weist der Autor in der Einleitung darauf hin, dass die Diagnostik psychischer Störungsbilder sich nach wie vor nicht auf die neuesten Ergebnisse der Hirnforschung bezieht. Er geht davon aus, dass sich dies in nächster Zeit grundlegend ändern wird. Dann wird es üblich sein, spezifische seelische Störungen Defiziten in der Entwicklung bestimmter Hirnregionen zuzuordnen. Die zukünftige Therapie könnte dann hier ansetzen. Allerdings bezieht er sich in der Beschreibung der folgenden Störungsbilder auf die aktuelle klassische Terminologie und Diagnostik.
Im Einzelnen geht er auf folgende psychiatrische Störungsbilder ein:
- Schizophrenie,
- Psychosen,
- Angststörungen,
- depressive und bipolare Störungen,
- Persönlichkeitsstörung,
- ADHS,
- Sucht und
- Demenz.
Dabei beschreibt er zunächst die Erscheinungsweisen, gefolgt von medizinischen Fakten aus der Hirnforschung und zieht nach jedem Abschnitt ein therapeutisches Fazit, das auch für die psychosoziale Arbeit hilfreich ist.
Beispielhaft für die Systematik sei hier auf die Persönlichkeitsstörungen näher eingegangen. Dem Begriff der Persönlichkeit nähert er sich mit der Fallgeschichte von Ulrike Meinhof, die zeigt, wie Veränderungen im Gehirn auch die Persönlichkeit verändern können. In einem geschichtlichen Rückblick zeigt er auf, welche unterschiedlichen Zugänge zum Verständnis der Persönlichkeit existieren. Er geht dabei kurz auf Sigmund Freud und den Behaviorismus ein. Weiter beschreibt er, wie die Hormone unser Verhalten steuern und welche Faktoren entscheidend für eine gesunde körperliche Entwicklung sind. So zeigt sich, dass das Hormon Oxytocin, das die Aktivität der Amygdala beeinflußt, durch seelische Vernachlässigung in der Kindheit gestört ist. Er benennt weiter die Theorie des „Big Five“ und zeigt, wie sich in diesen Kategorien Menschen mit einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung verhalten und bewegen.
Im therapeutischen Fazit geht der Autor darauf ein, dass die Entwicklung persönlichkeitsrelevanter Gehirnbereiche mit ca. 20 Jahren abgeschlossen ist. Danach ist es nicht mehr so leicht, grundlegende Veränderungen der Persönlichkeit zu erreichen. Deshalb sollte man seine Ansprüche an Veränderungen nicht zu hoch ansetzen. Häufig gilt es, einen Modus zu finden, damit die Betroffene und ihr Umfeld mit der Störung leben können. Übersieht man die eingeschränkte Stabilität neuraler Netzwerke bei den Betroffenen kann es in der Begleitung zu unnötigen Frustrationen auf beiden Seiten kommen. Stattdessen empfiehlt der Autor, sich für die Entwicklungsgeschichte der Menschen und ihre frühen Beziehungserfahrungen zu interessieren. Ebenso hilft die Kenntnis der Persönlichkeiten der Großeltern, Eltern und Geschwister weiter. Schließlich sollte auf Hinweise geachtet werden, die auf eine Schädigung des Gehirns in der Entwicklung hinweisen.
Der Abschnitt drei befasst sich mit den neuesten Erkenntnissen der Hirnforschung. Die Leser*innen erfahren mehr über die Zusammenhänge zwischen dem Gehirn und dem Darm und der Ernährung, dem Gehirn und der Entspannung, Meditation und Achtsamkeit, dem Gehirn und Resilienz, dem Gehirn und Migration und Flucht und dem Gehirn und digitale Welten.
Der Zusammenhang mit dem Darm zeigt, wie wichtig die Damenbakterien für die Entwicklung der Hüllen der Nervenzellen sind. Dabei zeigen sich zwei verschiedene Einflüsse. Gleich nach der Geburt der Kontakt mit den Bakterien der Mutter, der dazu führt, dass eine eigene Darmflora ausgebildet werden kann. Und später die Ernährung, die einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Nervenzellen hat. Hier sind vor allem die ersten 1000 Tage im Leben eines Neugeborenen entscheidend. Studien konnten zeigen, dass das Stillen und die Ernährung der Mutter einen entscheidenden Einfluss auf die seelische und geistige Entwicklung des Neugeborenen haben. Dabei zeigt sich, dass Armut und damit verbundener Stress und Mangelernährung sich deutlich negativ auswirken.
Wie in Abschnitt zwei zieht der Autor am Ende eines jeden Themas ein Fazit für das therapeutische Handeln. Zum Darm und Ernährung hält er fest, dass es äußerst hilfreich ist mit den Klienten über ihre Ernährungsgewohnheiten zu sprechen. Dies gilt insbesondere für werdende Mütter und Familien mit sich entwickelten Kindern oder schwer seelisch kranken Menschen. (206)
Die Thematik Stressbelastung und Vernachlässigung in der frühen Kindheit zieht sich auch durch die Abschnitte Resilienz und Flucht und Migration. Vor allem Kinder und Jugendliche, die in dieser Zeit auf der Flucht waren mit den Eltern, zeigen ein deutlich erhöhtes Risiko, seelisch zu erkranken, auch wenn sich die Lebensumstände deutlich verbessert haben. Vor allem bei Migranten bleibt der Aspekt, dass sie von ihren wichtigen sozialen Kontakten aus dem Herkunftsland getrennt sind.
Zum Schluss fragt der Autor wie die Neurobiologie helfen kann, die Soziale Arbeit zu verbessern? Er weist darauf hin, dass sie ein Verständnis bietet, wie sich das Gehirn und das Individuum entwickeln. Mit diesem Verständnis können wir uns begründeter für einen speziellen Umgang mit den Menschen entscheiden. Allerdings betonte er auch, dass die Fähigkeit sich zu verändern ebenfalls sehr individuell ausgeprägt ist. Als Professionelle stehen wir in der Gefahr, hier oft zu viel zu erwarten. Und nicht zuletzt ist die Art und Weise, wie wir unserem Klientel begegnen ganz entscheidend. Wir können „eine bleibende Spur hinterlassen, deren Ausprägung in etwa der Intensität unserer Begegnung entsprechen wird.“ (267) Die Entwicklungen unseres Gehirns bestimmen nicht Medikamente, sondern Erfahrungen, die wir mit anderen Menschen machen. „Das Gehirn ist eben ein soziales Organ“. (268)
Diskussion
Das Buch vermittelt einen grundlegenden Einblick in die Erkenntnisse der Hirnforschung. Dem Autor gelingt es, diese mit konkreten Empfehlungen für den Umgang mit den betroffenen Menschen zu verknüpfen. Dabei vermittelt und entwickelt er durchaus eine Vision, wie sich die Diagnostik und die Therapie psychiatrischer Störungsbilder durch die Erkenntnisse der Hirnforschung verändern können.
Fazit
Ein lesenswertes Buch für alle, die neugierig darauf sind, welchen Einfluss die Entwicklung des Gehirns auf die seelische Gesundheit hat. Der Autor belohnt die Neugier mit einem kompakten und verständlichen Einblick und mit Konsequenzen, die sich daraus für das therapeutische Handeln ergeben.
Rezension von
Dr. Winfried Leisgang
Dipl. Soz.-Päd., Master of Social Work (M.S.W.)
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Zitiervorschlag
Winfried Leisgang. Rezension vom 09.02.2022 zu:
Thomas Schmitt: Das soziale Gehirn. Eine Einführung in die Neurobiologie für psychosoziale Berufe. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2021. 2., erweiterte und überarbeitete Auflage.
ISBN 978-3-7799-3171-3.
Mit Audio inside. Reihe: Edition Sozial.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28858.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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