Rita Casale: Einführung in die Erziehungs- und Bildungsphilosophie
Rezensiert von Prof. Dr. Anton Schlittmaier, 04.07.2022

Rita Casale: Einführung in die Erziehungs- und Bildungsphilosophie.
UTB
(Stuttgart) 2021.
200 Seiten.
ISBN 978-3-8252-5257-1.
19,99 EUR.
CH: 26,90 sFr.
Reihe: Grundstudium Erziehungswissenschaft.
Thema
Das Buch handelt von der Verknüpfung zwischen Philosophie und Erziehungswissenschaft. Dabei konzentriert es sich auf den Aspekt, dass zwei zentrale Begriffe der Erziehungswissenschaft, nämlich Erziehung und Bildung, im Zusammenhang mit der Philosophie der Aufklärung stehen. Die Definition dieser Begriffe ist – so die Autorin – an bestimmte historische Konstellationen gebunden. Das bringt es mit sich, dass Erziehung und Bildung sich in ihrem Bedeutungsgehalt ändern können, wenn die historischen Rahmenbedingungen andere geworden sind. Für die Gegenwart konstatiert die Autorin solche Veränderungen – z.B. eine gesellschaftlich verankerte Geschichtslosigkeit (S. 68). Die Vergangenheit verliert für unser Selbstverständnis zusehendes an Bedeutung.
Casale grenzt sich also von einer ahistorischen Fassung der Begriffe von Erziehung und Bildung ab und sieht beide Begriffe in einem aktuell forcierten Epochenwandel, der ihre Definition berührt. Aktuell verliert Erziehung den Charakter, dass Erwachsene Kinder zur Mündigkeit führen. Auch der Bildungsbegriff ändert seine Gestalt. War im neuhumanistischen Verständnis Bildung an Personwerdung geknüpft, ist nun Bildung vorrangig funktional und am Vorbild der Informatik orientiert. Wenn die Vergangenheit und die Sachgehalte an Bedeutung verlieren, wird alles zur Frage der funktionalen Anpassung an die bestehende Gesellschaft. Sinngehalte und Normative verlieren so an Bedeutung und alles dreht sich nur noch um die Angleichung an die rasant voranschreitende technische Welt.
Autorin
Rita Casale ist Professorin der Fakultät Human- und Sozialwissenschaften an der Bergischen Universität Wuppertal.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist aus einer Vorlesungsreihe entstanden, die von 2009–2019 an der Bergischen Universität Wuppertal gehalten wurden.
Aufbau
Die Autorin gliedert das Buch folgendermaßen:
- Was ist Philosophie?
- Erziehung als Grundbegriff
- Krise des Erziehungsbegriffs?
- Bildung als Grundbegriff
- Krise des Bildungsbegriffs?
- Schlussbemerkung
Bei ihrer Darstellung orientiert sich die Autorin am Philosophiebegriff von Gilles Deleuze und Félix Guattari sowie an der Konzeption von Walter Benjamin. Da es sich um eine Einführung in die Erziehungs- und Bildungsphilosophie handelt, ist einleitend zu klären, was überhaupt Philosophie ist. Die Philosophie bildet die Perspektive, die Ebene, von der aus die Fragen gestellt und Antworten gegeben werden.
Den Darstellungen der Grundbegriffe Erziehung und Bildung folgt jeweils die Exposition ihrer Krise. Dabei geht die Autorin davon aus, dass Begriffe nicht isoliert zu betrachten sind, dass es also keine Wesensbestimmungen von Begriffen im platonisch/​aristotelischen Sinne gibt. Begriffe sind in einen Kontext eingebettet. Damit sind sie auch historisch. Ändern sich die historischen Voraussetzungen, werden die bisherigen Begriffe teilweise obsolet und es steht an, die Begriffe neu zu fassen. Erziehung und Bildung müssen heute eine neue Bedeutung erhalten, die die Prämissen der Aufklärungszeit und des Neuhumanismus überschreiten.
Das Buch endet mit einer Schlussbemerkung, dass den ganzen Ansatz nochmals Revue passieren lässt und gleichzeitig die Schritte im Buch nochmals kurz begründet.
Inhalt
Die Philosophie beginnt mit dem Freund. Weisheit und Philosophie sind nicht geleichzusetzen. Gerade der diskursive Charakter der Philosophie, also die Frage nach Gründen und Gegengründen zeichnet sie auf. In diese Grundoption ordnet sich die weitere Bestimmung ein, dass es in der Philosophie um Begriffsbildung geht. Hier bezieht sich Casale auf Gilles Deleuze und Félix Guattari die herausstellen, dass ein Begriff immer über mehrere Komponenten verfügt. Ähnliches findet sich auch bei Walter Benjamin, der ebenfalls auf die Konstellation von Begriffen Bezug nimmt.
Dieses abstrakte Werkzeug bildet den Ausgangspunkt der eigentlich fachlichen Überlegungen zur Erziehung und Bildung. Die Grundbegriffe sind eingebettet in einen Kontext und sind aus diesem Kontext zu verstehen.
So ist der Begriff Erziehung fundamental mit dem Zeitalter der Aufklärung verkoppelt. In diesem Zusammenhang liegen diverse Annahmen über den Menschen und die Gesellschaft vor. Von zentraler Bedeutung ist für die Erziehung der Begriff der Autonomie. Hier bezieht sich Casale auf Immanuel Kant und dessen Erziehungstheorie. Weitere wichtige Begriffe, die zur Aufklärung des Grundbegriffes Erziehung eingesetzt werden, sind die Begriffe Bildsamkeit, Autorität, sexuelle Differenz sowie Trieb und Gesetz.
Während in der Entstehungszeit des Erziehungsbegriffes, dieser eine Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen proklamiert und den Erwachsenenstatus als anzustrebend ausweist, ist die Situation heutzutage grundlegend anders. Niemand möchte im Grunde erwachsen werden. Wir leben in einem Zeitalter des Jugendkultes. Es gibt nur den jung Gebliebenen und den hilfsbedürftigen Greis. Von daher wird Erziehung zu etwas, was nicht mehr anzustreben ist. Erziehung im Sinne einer Höherentwicklung, des Erlernens von Triebverzicht usw. wird nicht mehr gebraucht. In der Gegenwart stellt sich so neu die Frage wie Erziehung zu fassen ist, ob es eines neuen Begriffes von Erziehung bedarf – eben angesichts veränderter historischer Konstellationen.
Ähnlich wie der Erziehungsbegriff ist der Bildungsbegriff in eine historische Konstellation eingebettet. Bildung hat grundlegend mit Personwerdung zu tun. Gleichzeitig verweist der Bildungsbegriff auf die Sache (S. 80 ff.). Dies erläutert Casale anhand des Films Vier Minuten (2005/2006) von Chris Kraus. Im Mittelpunkt steht nicht die psychologische Beziehung, sondern die Orientierung an der Sache. Die Schülerin wird nicht als Person angesprochen, sondern als Besitzerin eines Talentes, dass es zu fördern gilt. Die Protagonistin Jenny, die selbstzerstörerische Tendenzen hat, wird gerade nicht wegen ihres psychologischen Profils angesprochen. Die Lehrerin ignoriert geradeswegs dieses Profil und konzentriert sich auf die Musik, die Jenny und die Lehrerin verbindet.
Bildung enthält einen emphatischen Kern, der auf persönliche Entwicklung fokussiert. Dabei ist die Bildsamkeit des Einzelnen von zentraler Bedeutung. Die eigentliche Menschwerdung ist an Bildung gekoppelt. Bildung ist die Transformation des Menschen, um das menschliche Wesen in sich hervorzubringen.
In der Gegenwart ist es zu einer radikalen Entkoppelung von diesem Bildungsbegriff gekommen. Unter Bezugnahme auf Jean-François Lyotard arbeitet Casale die Transformation des Wissensverständnisses heraus.
Wissen ist heute gekennzeichnet durch Informatisierung und Ökonomisierung. Gleichzeitig liegt es nur noch atomisiert vor. Die Teile zirkulieren und sind losgelöst von jeder Sinnhaftigkeit im traditionellen Sinne. Die Emanzipation als Ziel ist aufgegeben, an seine Stelle tritt die Planung (S. 112). Insgesamt begreift Lyotard, die klassische Bildungstheorie als eine große Erzählung von der Befreiung des Menschen, die inzwischen obsolet geworden ist. Stattdessen existieren wir in einem Funktionskreislauf und durch Wissen sind die Grundlagen zu liefern, die den Kreislauf in Gang halten.
Im Folgenden dekliniert das Buch die Auswirkungen der Krise des traditionellen Bildungsbegriffes durch. Dabei wird die Substitution des Bildungsbegriffes durch das Lernen thematisiert, weiter die Bedeutungslosigkeit des Intellektuellen angesichts des Experten, des Verständnisses der Wissenschaft als Technik, der Einebnung der Differenz von Grundlagenforschung und angewandter Forschung, die ausschließlich methodische Fundierung wissenschaftlicher Autorität sowie der Übergang der Universität zur vorwiegend wirtschaftlich gedachten Organisation. Wissenschaft muss sich in der Praxis bewähren und hat sich durch regionale Bezüge zu legitimieren. Damit wird Wissenschaft zusehends funktionalisiert und verliert ihren Bezug zum klassischen Bildungsverständnis, bei dem es immer um die Gesamtsituation des Menschen in der Welt ging.
Angesichts dieser Situation fordert Casale einen neuen Bildungsbegriff (S. 123). Dieser ist durch ein relationales Selbstverständnis gekennzeichnet, er anerkennt unsere Abhängigkeit von der Natur, das Allgemeine und das Besondere finden eine neue Vermittlung und die Fragmentierung des Wissens und neue Formen der Kooperation bilden seinen Ausgangspunkt.
Diskussion
Casale bettet die Begriffe der Erziehung und Bildung in einen neuzeitlichen Kontext ein. Dabei macht sie Gebrauch von der Philosophie als Analysewerkzeug. Die Philosophie wird hier nicht inhaltlich verstanden, sondern als erkenntnistheoretische Reflexion über den Status von Begriffen. Inhaltlich befasst sich das Buch mit den Grundlagen der Erziehungswissenschaft, wobei diese in ihrer historischen Bedingtheit erfasst werden. Die Krise dieser Begriffe ist selbst historischer Natur und hängt mit den Veränderungen unserer modernen Gesellschaft zusammen.
Außen vor bleibt, dass auch in der Antike und Mittelalter bereits ein Verständnis von Bildung und Erziehung existierten. Platon hat z.B. nach dem Wesen der Bildung gefragt und diese in seiner Ideenlehre fundiert. Dabei wird Erziehung und Bildung normativ gedacht. Letzteres ist sicher auch in Kants Ansatz mit angesprochen. So ist die Darstellung der Krise der Begriffe der Erziehung und Bildung durch die Autorin sicher historisch zutreffend – sie gibt jedoch keinen Beleg dafür, dass die normativen Implikate klassischer Erziehungs- und Bildungstheorien damit ad acta zu legen seien. Möglicherweise sind ja gerade viele reale Entwicklungen der Gegenwart problematisch und es stellt sich die Frage, ob angesichts dieser Entwicklungen die traditionellen Begriffe aufzugeben seien, ob nicht stattdessen als Hintergrundtheorie von Kritik an ihnen festzuhalten ist.
Fazit
Insgesamt gibt die Autorin einen guten Überblick über die Begriffsbildung zur Erziehungswissenschaft. Dabei greift sie – im Sinne ihres Erkenntnisinteresses – auf ausgewählte Autoren zurück. Das Buch ist als Einführungsbuch für das Grundstudium konzipiert, scheint jedoch angesichts der Dichte des Materials, durch die es gekennzeichnet ist, für die Anfangssemester eher als eine schwer verdauliche Kost.
Rezension von
Prof. Dr. Anton Schlittmaier
Professur für Philosophie und Grundlagen der Sozialen Arbeit an der Berufsakademie Sachsen
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Zitiervorschlag
Anton Schlittmaier. Rezension vom 04.07.2022 zu:
Rita Casale: Einführung in die Erziehungs- und Bildungsphilosophie. UTB
(Stuttgart) 2021.
ISBN 978-3-8252-5257-1.
Reihe: Grundstudium Erziehungswissenschaft.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28859.php, Datum des Zugriffs 27.03.2023.
Urheberrecht
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