Martin Staats, Jan Steinhaußen (Hrsg.): Resilienz im Alter
Rezensiert von Prof. Dr. habil. Gisela Thiele, 06.12.2021
Martin Staats, Jan Steinhaußen (Hrsg.): Resilienz im Alter. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 312 Seiten. ISBN 978-3-7799-6317-2. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR.
Thema und Herausgeber
Resilienz ist die generelle Fähigkeit, Krisen, besondere Belastungen, schwierige Lebenssituationen gut zu bewältigen. Es ist die psychische Widerstandskraft oder innere Stärke, in der heutigen Welt auch im Alter noch Ressourcen und Entwicklungspotenziale freizusetzen. Resilienz scheint dann vorzuliegen, wenn belastende Situationen besser bewältigt werden, als es erwartbar gewesen wäre.
Herausgeber ist Martin Staats, Professor für Soziale Arbeit an der Internationalen Hochschschule in Erfurt und Jan Steinhaußen, Mitarbeiter des Landesseniorenrates Thüringen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in vier Teile mit diversen Kapiteln in unterschiedlicher Länge und Autor*innen gegliedert.
Die Einleitung vom Autor Jan Steinhaußen verfasst, ist mit „Perspektiven auf Resilienz“ überschrieben. Resilienz wird als eine Kompetenz beschrieben, die sich aus verschiedenen Fähigkeiten der Krisenbeherrschung zusammensetzt. Sie beziehe sich insbesondere darauf, nicht nur Krisen zu bewältigen, sondern Entwicklungs- und Alltagsaufgaben produktiv zu meistern.
Teil I „Entwicklungsaufgaben“ beginnt mit einem Kapitel von Eric Schmitt zur „Psychischen Entwicklung im Alter“. Vom Blickpunkt des hohen Alters sei es notwendig, zwei Perspektiven systematisch miteinander zu verbinden: eine Vulnerabilitäts- mit einer Potenzialperspektive. Die Potenzialperspektive beschreibe das umfassende Lebenswissen, die differenzierte Sicht auf das eigene Selbst, die Fähigkeit, Grenzsituationen auszuhalten und innerlich zu überwinden. Narratives Verstehen ist eine retrospektive, interpretative Komposition, die vergangene Ereignisse im Lichte der aktuellen Auffassung und Beurteilung ihrer Bedeutung zeige. Altern konfrontiere, so seine zusammengefasste Sicht, unabänderlich mit Grenzsituationen und Verletzlichkeit, wobei sich psychische Gesundheit gerade im Alter als Resilienz zeige.
Siegfried Weyerer äußert sich in seinem Kapitel über „Psychische Erkrankungen im höheren Lebensalter, Epidemiologie, Risiken und Auswirkungen“. Epidemiologie beschäftige sich mit der Häufigkeit, dem Verlauf, den Risiken und Folgen von Erkrankungen. Er geht insbesondere auf dementielle Erkrankungen, Depressionen und alkoholbedingte Störungen ein und verweist dabei auf den Verlauf und die Prävalenzen.
Teil II „Grundlegung“ wird mit einem Kapitel von Klaus Fröhlich-Gidhoff und Maike Rönnau-Böse zum Thema „Das Konzept der seelischen Widerstandsfähigkeit (Resilienz) – Theoretische Zusammenhänge auf der Grundlage empirischer Erkenntnisse“ eingeleitet. Als Resilienz werde die Fähigkeit des Menschen verstanden, Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen. Es sei ein dynamischer Anpassungs- und Entwicklungsprozess und es sei eine variable Größe, die situationsspezifisch und multidimensional sei (S. 53). Positive Beziehungen trügen maßgeblich zur resilienten Entwicklung über die Lebensspanne bei.
Es folgt ein dritter Teil „Resilienz im Kontext individueller Bewältigungsressourcen“ mit einem Aufsatz von Martin Staats zur „Resilienz und Gesundheitsförderung – Eine ganzheitliche Sichtweise“. Der Beitrag befasst sich mit dem Vergleich der Resilienz zur Theorie der Salutogenese von Antonovosky. So stehe Resilienz für das Ergebnis bzw. das Produkt des Anpassungsprozesses an Stressoren. Letztere können bio-psychischen Ursprungs sein und je nach Bewertung des Individuums dazu führen, dass der Mensch aus seinem ursprünglichen Gleichgewichtszustand, der Homöostase, gerät. Eine resilienzbezogene Intervention muss die Menschen befähigen und beteiligen, sich und ihren Sozialraum als Ressourcen wahrzunehmen.
„Soziale Beziehungen als Quelle der Resilienz im Alter“ stehen im Mittelpunkt der Ausführungen von Antje Rauers. Es werden die sozialen Beziehungen aus entwicklungspsychologischer Sicht betrachtet. Ältere Menschen sind sich dessen bewusst, dass die aktive Fokussierung auf wenige, emotionale bedeutsame Kontakte notwendig erscheine. Neben den bekannten „Wohlbefindensparadox“ im Alter käme es in den letzten Lebensjahren, wenn die Akkumulierung von Belastungen und Verlusten die Regulationsfähigkeit übersteigt, durchschnittlich zu einem drastischen Verlust des Wohlbefindens und der Lebenszufriedenheit, einem Knick, der in der Forschung als „terminaler Abbau“ bezeichnet wird, der etwa vier Jahre vor dem Tod beobachtet werde (S. 97). Soziale Unterstützung sei eine wichtige Ressource im Alter: Sie mache froh, gesund und verlängere das Leben.
Ein weiteres Kapitel schreiben Sal-Lila Rees und Bernhard Schmidt-Hertha zur „Bildung als Quelle von Resilienz zur Bewältigung von Übergängen im Alter“. Resilienz sei eine spezielle Form von Plastizität, wobei sich letztere auf das Potenzial der Zunahme und Abnahme der Reservekapazität über die Lebensspanne hinweg beziehe. Bildungsgewohnte Menschen besäßen eine höhere kognitive Flexibilität oder Reserve und könnten sich eher aktiv auf veränderte Situationen einlassen bzw. diese besser adaptieren.
„Achtsamkeit und achtsamkeitsbasierte Kontaktarbeit mit Älteren als Potenzial und Ressource für die psychische Widerstandsfähigkeit im Alter“ ist die Überschrift des Artikels von Elke Gemeinhardt. Hier wird die Wirkung der Achtsamkeit auf ältere Menschen beschrieben. Wie gezeigt wurde, stellten sich nicht die objektiven Lebensumstände älterer Menschen als Prädiktor der Lebenszufriedenheit, sondern die individuelle Wahrnehmung und Bewertung als wesentlich heraus (S. 122). Achtsamkeit habe das Ziel, die Individuen darin zu unterstützen, ihre Aufmerksamkeit in der Gegenwart zu halten und falls sie abschweifen, diese wieder zurückzuholen. Dadurch könnten sie besser in sich hineinfühlen und wieder in Kontakt mit ihren Bedürfnissen, Gefühlen und Sorgen kommen.
Ein weiteres Kapitel von Nora Berner befasst sich mit dem Thema „Ich kann das nicht mehr, also mache ich es auch nicht mehr – Biographische Bildungspotenziale und Bewältigungsstrategien von Menschen mit Alzheimer Demenz“. Nicht die Krankheit Demenz und nicht ein medizinischer Befund seien wichtig, sondern die Art und Weise der sprachlich-geistigen Verarbeitung der erlebten biographischen Krise, ist entscheidend. Insofern sei nicht bildend, was einem Individuum zustößt, sondern nur das, was das Individuum zu seinem Bestandteil seiner selbst macht. Es werden zwei psychologische Bewältigungskonzept angeführt, das problemzentrierte und das emotionszentrierte Coping. Mit dem problemzentrierten soll die Kontrolle über das entsprechende Problem gewonnen werden, wohingegen das emotionszentrierte Coping auf die Reduktion negativer Gefühle abzielt. Auch ein mangelndes Krankheitsbewusstsein könne ein Ausdruck sein, mit der Krankheit umzugehen,
Von Rainer Hirt folgt ein Kapitel zur „Biographiearbeit zwischen Erinnerung und Therapie“. Die Tatsache, dass im Alter die Kindheit aufwache, läge nicht nur daran, dass sie auf eine lange Lebenszeit zurückblicken, sondern daran, dass die Zukunft nicht mehr unendlich erscheine (S. 148). Es bestehe zwischen krankheitsauslösenden Konflikten in späteren Lebensphasen ein enger Zusammenhang zu unerledigten Konflikten in der frühen Kindheit.
Vom gleichen Autor stammen auch die folgenden Ausführungen zum Thema „Biographische Reflexionen zur Entstehung und Stabilität von Resilienz“. Hier werden zwei Gedichte verglichen, um die Auswirkungen der Zeit auf die Erfahrungen der Kindergeneration von damals nachzuzeichnen. So werden die Kinder der Kriegs- und Wiederaufbauphase durch die emotionale Nähe der Mutter und der Abwesenheit des Vaters durch Krieg und Gefangenschaft verdeutlicht.
Der „Philosophie der Lebenskunst – Möglichkeiten und Grenzen der Verhaltensänderung durch Selbstsorge“ verschreibt sich Jan Steinhaußen in seinem Kapitel. Die Selbstvervollkommnungspostulate folgten in ihrer immanenten Logik ihren Wissenschaftsparadigmen der diskursiven Macht der Positiven Psychologie sowie der Konsum- Singularisierung- und Erfolgsmentalitäten moderner Gesellschaften. Die Fragen, ob und wofür sich das Leben lohne, berühren essentielle Probleme philosophischen Nachdenkens. Es geht in diesem und den folgenden Kapitel, ebenfalls von Jan Steinhaußen geschrieben, zum Thema „Man muss sich selber lieben lernen- Verhaltensänderung im Kontext der Positiven Psychologie“ um die Grenzen dieser Theorie, die simpel, so der Autor, aber alltagstauglich sei. Noch stärker auf Gesundheit und Resilienz wirkten soziale Faktoren, die die Positive Psychologie ausblende (S, 216).
Den „Traumafolgestörungen im Kontext von Resilienz im Alter“ ist das Kapitel von Myriam V. Thoma und Andreas Maercker gewidmet. Trauma im Erwachsenenalter kann als eine Konfrontation mit dem eigenen Tod, einer ernsthaften Verletzung oder mit sexueller Gewalt verglichen werden. Die Symptomatik der Traumafolgestörungen präsentieren sich als Wiedererleben in Form sich aufdrängender innerer Bilder des Ereignisses (sogenannte Flashbacks). In den folgenden Ausführungen werden aktuelle Studien vorgestellt, die Resilienz im Alter vor dem Hintergrund von traumatischen Erfahrungen in der Vergangenheit untersucht haben.
Tim Krüger greift das Thema auf „Über den Tod sprechen – Vom Nutzen einer langen Tradition, auch für soziale Arbeit“. Er geht von einer Fallvignette aus, indem ein 60 -Jähriger von heute auf morgen stirbt und resümiert: „Der Tod kommt unverhofft, er greift in den Alltag ein, verändert in völlig“. Dennoch könne der Tod nicht gelernt werden, es gäbe keinen zweiten Versuch, man könne ihn nur durch andere erfahren (S. 249).
Ein IV. Teil „Resilienz und Gesellschaft“ beginnt mit einem Kapitel von Theresa Hilse-Carstensen und Jens Kretzschmar zur Thematik „Alter(n)sgerechte Sozialplanung – Was taugt der Resilienzbegriff?“. Zunächst wird die Phase des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben, als eine sensible biographische Phase thematisiert. Sie setze eine Neuverhandlung mit gesellschaftlichen und sozialen Rollen voraus. In den folgenden Ausführungen werden zwei Fragen diskutiert: „1. Wie kann eine Infrastrukturplanung in einer alternden Gesellschaft gestaltet werden und 2. Wie können Resilienz und Sozialplanung zusammengedacht werden“ (S. 258).
Ronald Lutz setzt sich mit dem Thema „Resilienz als Fähigkeit – Resonanz als Handlung“ auseinander. In der Moderne gäbe es eine Steigerung der Freiheitsgrade mit einer großen Offenheit der Möglichkeiten, ein Subjekt, was sich jenseits von Traditionen und gesellschaftlichen Fesseln entwerfen könne und die Welt mit den Mitmenschen ökonomisch, sozial und kulturell gestalten könne, so das Versprechen und die Utopie des Autors. Im gemeinsamen Handeln entstehe eine Gemeinschaft, die sich durch ihre Mitglieder als Subjekte, die dazu gehörten, bestätige. Daraus folge, dass auch die Widerstandsfähigkeit der Individuen in einer beschleunigten, individualisierten und entfremdeten Spätmoderne gestärkt werde. Fokussiert werde die Idee von Partizipation in einem Handlungsraum der Menschlichkeit, Nächstenliebe, Gemeinsinn und Anerkennung durch die Erfahrungen solidarischer Tätigkeit, Teil eines Ganzen zu sein und doch auch Person zu existieren.
Das letzte Kapitel wurde von Stefanie Graefe verfasst und mit dem Titel „Das späte Glück ist mit den Tapferen? Resilienz als problematische neue Altersnorm“ versehen. Sie geht davon aus, dass du die Umstände, in denen du lebst, nicht ändern kannst, du müsstest sie akzeptieren und lernen, dich besser an diese anzupassen. Wichtig sei, dass das alternde Subjekt begreife, dass die eigentliche Stellschraube der Veränderung in ihr selbst liege (S. 296). Belastenden Ereignissen im Leben ausgesetzt gewesen zu sein, gelte als wichtige Quelle von Resilienz.
Diskussion
Literatur zur Resilienz erlebt gegenwärtig, und das nicht nur in der Psychologie, eine starke Beachtung. So hat dieses Konzept längst ihren Siegeszug in weitere Disziplinen gefunden: Nicht nur Menschen können resiliente Fähigkeiten gebrauchen, sondern auch Regionen, Landschaften, Organisationen, Haushalte und viele mehr. Das Besondere an dieser Publikation ist aber, dass Resilienz im Zusammenhang mit dem Alter und Altern thematisiert wird und insofern Bedingungen und Voraussetzungen formuliert, die ältere Menschen nutzen können, um bei zunehmender Vulnerabilität besser gerüstet zu sein, Lebenskrisen und Belastungssituationen zu meistern. Die Gliederung ist stringent geführt und beginnt mit einem ersten Teil zu „Entwicklungsaufgaben“, führt über die theoretische Grundlegung zur Resilienz im Kontext individueller Bewältigungsstrukturen, um am Ende zur gesellschaftlichen Einbettung von Resilienz zu kommen.
Allerdings wird diese Stringenz durch zwei Kapitel von Jan Steinhaußen zur antiken Weisheitsphilosophie für mich jäh unterbrochen. Hier geht es um die zentrale Frage, ob Selbstsorgekonzepte einen Orientierungsrahmen für moderne Individuen bilden können, denen transzendentale oder teteologische Orientierungen meist fehlen? Die Frage wird nach der Art der Erkenntnisse der Antike zum Beispiel mit dem Postulat versehen, sich selbst zu respektieren, es gehe dabei um adäquate Selbstbeziehung, um Verbesserung und Läuterung. Warum müssen fast 60 Seiten auf eine Argumentation verwendet werden, die letztlich zur Aussage führen: „Dennoch gibt es gravierende Vorbehalte gegen einen paradigmatischen Ansatz, der eine positive Verhaltensänderung zum normativen Ziel einer Wissenschaft erhebt“.
Besonders lesenswert, weil originell, sind die beiden letzten Kapitel, die die Resilienz noch einmal einer kritischen Bewertung unterziehen. Hier entwirft Ronald Lutz eine Utopie wie Resilienz unter den heutigen Bedingungen der Moderne zu entwerfen ist, indem er vom individualisierten Blick auf das Subjekt weg geht und auf die Beziehungsebene kommt als einen „Ort der Anverwandlung“ und des Dialogischen.
Die Gestaltung der Kapitel ist sehr unterschiedlich, sie folgt nicht immer nach dem Schema von einer Einleitung bis zur Zusammenfassung.
Fazit
Insgesamt ist die Publikation äußerst lesenswert, wenn auch vorzugsweise für Fachwissenschaftler. Das Thema wird wissenschaftlich tiefgründig und ohne viele Redundanzen bearbeitet und ist dennoch terminologisch gut lesbar und nachvollziehbar.
Rezension von
Prof. Dr. habil. Gisela Thiele
Hochschule Zittau/Görlitz (FH)
Berufungsgebiete Soziologie, Empirische
Sozialforschung und Gerontologie
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Zitiervorschlag
Gisela Thiele. Rezension vom 06.12.2021 zu:
Martin Staats, Jan Steinhaußen (Hrsg.): Resilienz im Alter. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2021.
ISBN 978-3-7799-6317-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28861.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.
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