Christian Stadler, Andrea Meents: Verstörende Beziehungen
Rezensiert von Dr. Anke Höhne, 03.04.2023

Christian Stadler, Andrea Meents: Verstörende Beziehungen (Leben Lernen, Bd. 325). Psychische Erkrankungen in Familien.
Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2021.
294 Seiten.
ISBN 978-3-608-89263-5.
D: 25,00 EUR,
A: 25,70 EUR.
Reihe: Leben lernen - 325. .
Thema
Das Buch beschäftigt sich aus einer systemischen Perspektive mit elterlichen psychischen Erkrankungen und ihren Auswirkungen auf die Kinder. Im Fokus stehen dabei v.a. die Auswirkungen von psychischen Erkrankungen auf die familiären Beziehungen, Behandlungsmöglichkeiten und die transgenerationale Weitergabe von Belastungen.
HerausgeberInnen
Christian Stadler ist Dipl.-Psychologe, Psychotherapeut, Paartherapeut und Supervisor.
Andrea Meents ist Dipl.-Psychologin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin.
Aufbau und Inhalt
Das Buch besteht aus zehn Kapiteln.
In Kapitel 1 „Einleitung“ wird der Fokus des Buches vorgestellt. Die AutorInnen greifen aus dem ökologischen Modell von Bronfenbrenner, das zeigt, wie eine psychische Störung in einen Gesamtkontext eingebunden ist, einen Kontext heraus, der der Frage nachgeht, welchen Einfluss eine psychische Störung innerhalb des Systems Mehrgenerationenfamilie auf das System der Gegenwartsfamilie und besonders auf die Kinder ausübt. Kinder psychisch erkrankter Eltern haben ein Lebenszeitrisiko von 30 % selbst an einer psychischen Störung zu erkranken. Es wird davon ausgegangen, das in Deutschland 3 Mio. Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil leben.
In Kapitel 2 „Störung und psychische Krankheit in Familien“ werden verschiedene psychische Erkrankungen unter Berücksichtigung der Fragestellung vorgestellt, wie die jeweilige Störung die Eltern- und Familienrolle beeinflusst. Das Kapitel konzentriert sich auf folgende psychische Erkrankungen: Suchterkrankung, Persönlichkeitsstörungen, Depression, Schizophrenie, Angst und posttraumatische Belastungsstörung. Ergänzt wird das Kapitel um Fallbeispiele, die die je spezifische Dynamik in Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil in ihren Auswirkungen auf die Kinder und das Familienklima illustrieren. Jeder Abschnitt zu einer psychischen Erkrankung endet mit einem Fazit, das mögliche Interventionen (unterstützende Maßnahmen) einschließt.
Kapitel 3 „Kindliche Entwicklung, Bedürfnisse und Bindung und ihr Einfluss auf Verhalten und Gefühle“ thematisiert zunächst die Risikofaktoren für Kinder psychisch kranker Eltern bevor auf die normale Entwicklung über die Lebensspanne eingegangen wird. Besonders gehen die AutorInnen auf das Konzept der Entwicklungsphasen von Erik H. Erikson und das Fit-Konzept von Remo Largo ein. Bindungserfahrungen in ihrer Bedeutung für die Lebensspanne stehen ebenso im Fokus dieses Kapitels wie eine Betrachtung der Grundbedürfnisse des Menschen. Das Kapitel schließt mit einem Abschnitt zu abnormen psychosozialen Einflüssen auf die Eltern-Kind-Beziehung als einem besonderen Risikofaktor für die Entstehung psychischer Störungen beim Kind.
In Kapitel 4 „Internalisierende Störungen von Kindern und Jugendlichen mit psychisch kranken Eltern“ werden Depressive Störungen und Enuresis nocturna als häufig anzutreffende internalisierende Störungsbilder (d.h. nach innen, auf das eigene Selbst gerichtet) im Kindes- und Jugendalter behandelt. Beispielhaft wird der Fall einer 18jährigen Jugendlichen mit Depression vorgestellt. Die emotionale Störung Enuresis nocturna wird am Beispiel eines neunjährigen Jungen dargestellt. Die familiäre Situation wird jeweils unter Berücksichtigung einer entwicklungspsychologischen Perspektive und dem Konzept der Grundbedürfnisse nach Grawe miteinbezogen. Das Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung des Hilfebedarfs und möglicher Interventionen zur Unterstützung der Familie mit Fokus auf das Kind.
Kapitel 5 „Externalisierende Störungen von Kindern und Jugendlichen mit psychisch kranken Eltern“ widmet sich psychischen Erkrankungen, die sich eher im nach außen gerichteten Verhalten äußern. Anhand von Fallbeispielen werden eine Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens und eine kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen auf der Kinderebene dargestellt.
Kapitel 6 „Dysfunktionale Eltern-Kind-Beziehungen“ thematisiert verschiedene Formen von Interaktionsmustern zwischen den Eltern, aber auch zwischen den Eltern untereinander und dem Kind, die sich negativ auf die kindliche Entwicklung auswirken. Behandelt werden die Auswirkungen von Vernachlässigung und Mangelerfahrung, emotionaler und körperlicher Missbrauch, Parentifizierung, mangelnde haltgebende Funktion von Eltern sowie mangelndes Erziehungsverhalten.
In Kapitel 7 „Hilfen und Maßnahmen für Familienmitglieder“ geht es darum, wie betroffene Familien unterstützt werden können. Es wird ein Überblick über das Hilfesystem bei psychischen Erkrankungen gegeben – von stationären Einrichtungen, über Tageskliniken, Beratungsstellen bis hin zur ambulanten Psychotherapie, Selbsthilfe- und Angehörigengruppen.
Kapitel 8 „Die Mehrgenerationenperspektive auf Familiendynamiken mit psychisch kranken Angehörigen“ greift das Thema transgenerationale Weitergabe von psychischen Erkrankungen in Familien auf, in dem verschiedene Formen transgenerationaler Weitergabe und unterschiedliche Arten der Weitergabe thematisiert werden. Auch hier werden wieder illustrierend Fallbeispiele, wenngleich nur sehr kurz, angeführt.
Im 9. Kapitel „Resilienter Verarbeitungsstil: Mit der inneren Widerstandskraft den Anforderungen des Lebens entgegentreten“ wird zunächst Resilienz definiert bevor Schutzfaktoren vorgestellt werden, die Kindern und Jugendlichen helfen trotz psychisch belasteter Eltern gesund aufzuwachsen. Auch wird darauf eingegangen, wie Resilienz bei Kindern und Jugendlichen durch die Eltern, aber auch andere Bezugspersonen wie Lehrkräfte und Erzieher*innen gefördert werden kann.
Das 10. Kapitel „Hilfsangebote“ stellt Anlaufstellen für Betroffene mit deren Kontaktangaben sowie Bücher und Filme zur Thematik vor.
Ein umfangreiches Literaturverzeichnis beschließt das Buch.
Diskussion
Das Buch greift mit psychischen Störungen in der Familie, insbesondere den Wechselwirkungen zwischen elterlichen psychischen Erkrankungen und psychischen Auffälligkeiten und Störungen im Verhalten der Kinder ein relevantes Thema auf. Jedes Kapitel gibt zunächst eine Einführung in die jeweiligen psychischen Erkrankungen bevor ein Fallbeispiel sehr detailliert vorgestellt wird. Hierbei werden nicht nur der oder die sog. Symptomträgern in den Blick genommen, sondern auch die Eltern mit ihrer Biographie und ihren Verhaltensweisen. Der Einbezug der psychischen Konstitution der Eltern und ihres Verhaltens unter einer entwicklungspsychologischen Perspektive macht den besonderen Mehrwert dieses Buches aus. Deutlich wird, dass das von Erwachsenen häufig als problematisch erlebte Verhalten des Kindes aus psychologischer Perspektive eigentlich eine gesunde und normale Reaktion auf psychische Belastungen in der Familie darstellt.
Die einzelnen Kapitel des Buches können auch unabhängig voneinander gelesen werden, wenn nur ausgewählte Themen für den Leser/die Leserin von Interesse sind.
Das Buch versteht sich als anwendungsbezogen und möchte zeigen, wie die psychotherapeutische Arbeit mit Familien ein tieferes Verständnis aller Familienmitglieder füreinander erzeugen kann. Diesem Anspruch wird das Buch in vollem Umfang gerecht. Die Autor*innen schöpfen aus einem reichen Fundus an Praxiserfahrung, den sie fachlich fundiert und auch am Einzelfall illustrierend zur Verfügung stellen. Die Problematik der Auswirkungen von psychisch erkrankten Eltern auf die Entwicklung ihrer Kinder wird so sehr anschaulich und plastisch. Eine psychische Erkrankungen eines Familienmitglieds kann als We-Disease bezeichnet werden, die sich auf alle Familienmitglieder auswirkt.
Fazit
Das Buch ist hilfreich für Fachkräfte, die mit Familien arbeiten, in denen ein Elternteil eine psychische Erkrankung aufweist. Gut nachvollziehbar werden die Auswirkungen einer elterlichen psychischen Erkrankung auf das Verhalten der Kinder beschrieben. Sehr anschaulich sind die ausführlichen Fallbeispiele.
Rezension von
Dr. Anke Höhne
Dipl.-Sozialwiss., Referentin bei SUCHT.HAMBURG gGmbH, Systemische Beraterin und Familientherapeutin
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Zitiervorschlag
Anke Höhne. Rezension vom 03.04.2023 zu:
Christian Stadler, Andrea Meents: Verstörende Beziehungen (Leben Lernen, Bd. 325). Psychische Erkrankungen in Familien. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2021.
ISBN 978-3-608-89263-5.
Reihe: Leben lernen - 325. .
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28863.php, Datum des Zugriffs 24.09.2023.
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