Silke Penning-Schulz: Psychiatrischer Maßregelvollzug und Architektur
Rezensiert von Dr. Ulrich Kobbé, 18.11.2021
Silke Penning-Schulz: Psychiatrischer Maßregelvollzug und Architektur. Recht und Realität am Beispiel des MRVZN Moringen und der Klinik für Forensische Psychiatrie Stadtroda. Lit Verlag (Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2021. 352 Seiten. ISBN 978-3-643-13523-0.
Thema
Der Klappentext umreißt das Thema des Buches wie folgt: „Psychiatrische Maßregelvollzugseinrichtungen sind Anstalten der Besserung oder sollen dies zumindest sein. Und sind auch – aber eben auch: Anstalten der Sicherung. Eine ‚Sicherungsanstalt’ wird in der Regel (und so auch beim Architekten oder Konstrukteur) Assoziationen von hohen Mauern, Gittern, verriegelten Toren und ggf. auch Stacheldraht hervorrufen. Physik mit Symbolgehalt. Eine ‚Besserungsanstalt’ aber, die im besten Fall Heilung oder auch nur ein wenig mehr ‚gute Besserung’, also Linderung anstrebt, macht das freie Assoziieren schwerer, braucht mehr Vorstellungskraft, interdisziplinäres Know-how. Ein physikalisches Äquivalent zum (z.B.) Stacheldraht der Sicherung gibt es nämlich für Besserung so einfach nicht. Der Stacheldraht aber hat aufgrund seines auch kommunikativen Gehalts für Besserung sogar mehr Gewicht als für Sicherung. Das heißt: Der Stacheldraht der Sicherung verdirbt den Genesungsprozess.
Dieser Band beschäftigt sich mit der Janusköpfigkeit von Besserung und Sicherung im Hinblick auf die Architektur im psychiatrischen Maßregelvollzug. Ziel ist es, eine entsprechend gebaute und gestaltete Umwelt im psychiatrischen Maßregelvollzug als gesundheitsfördernde Ressource oder – wenn fehlgestaltet – als Krankheitserreger zu demonstrieren und so die Behauptung zu stärken, es handele sich dabei um einen maßgeblichen Einflussfaktor in einer multiprofessionellen Therapie.“
Was die Aufgabe der panoptischen Irrenhausarchitektur (Jetter, 1981) und den Stand der Umsetzung sog. ‚nicht-repressiver’ Architektur in Neubauten des Maßregelvollzugs betrifft, hieß es in den 1970er Jahren bei Mannoni (1973, S. 63) u.a. skeptisch: „Der Versuch, aus solch einer Realität ein therapeutisches Mittel zu machen, ist zwar lobenswert, jedoch sollte man nicht den trügerischen, scheinhaften Charakter der Anstalt herunterspielen“. Konkrete Untersuchungen [1] der Innen- und Außenwirkung forensisch-psychiatrischer Neubauten liegen in Deutschland u.a. für vier Maßregelvollzugkliniken der 1980er Jahre vor und betreffen dabei
- das LWL-Therapiezentrum Marsberg ‚Bilstein’ (Westfalen-Lippe),
- die Abteilung Forensische Psychiatrie der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik Berlin,
- die Abteilung für Forensische Psychiatrie der LVR-Klinik Düren (Rheinland),
- die Forensisch-psychiatrische Klinik Bezirkskrankenhaus Straubing (Bayern).
Die aktuelle Untersuchung kommt 40 Jahre später und betrifft
- das Maßregelvollzugszentrum Niedersachsen Moringen (Niedersachsen) und
- die Klinik für Forensische Psychiatrie Stadtroda (Thüringen).
Zusammenfassend heißt es: „Die in der Klinik für Forensische Psychiatrie Stadtroda vorgefundenen materialen Gegebenheiten präsentieren sich durchaus anders als die im MRVZN [2] Moringen. Der Unterschied ist manchmal marginal, manchmal gravierend.“ Zu prüfen war für die Autorin dabei der Eindruck „als gebe es sowohl eine materielle als auch eine immaterielle Grenze zwischen dem Maßregelvollzug und der Umwelt, zwischen dem psychisch kranken Patienten und der Welt“, als werde „der psychisch Kranke […] in einer abgegrenzten Position ‚verortet’“, als „existiere eine eigene Welt in der Welt“ mit dem Effekt, „Einschluss führe zum Ausschluss und stelle folglich einen Trugschluss im Hinblick auf die Zweck- und Zielsetzung des psychiatrischen Maßregelvollzugs dar“ (S. 272).
Für den Diskussionskontext relevant ist hinsichtlich der sozialpsychiatrischen Bedeutung baulich-räumlicher Bedingungen,
- dass Mühlich & Mühlich-von Staden (1982) in Folge der Psychiatrie-Enquête eine zukunftsweisende Studie über Bedürfnisse und Wünsche psychiatrischer Langzeitpatienten erarbeiteten,
- gefolgt von einer Reflexion architektonischer Planung für forensische Bedarfe mit dem Fazit: „Einerseits wissen wir von dem speziellen Gebiet der Psychiatrie – von der Forensik – dass die Gesichtspunkte von Sicherung und Sicherheit nach außen und im Inneren verständlicherweise im Fokus stehen und das räumliche Arrangement mitbestimmen. Andererseits fragen wir, ob damit im wörtlichen Sinne zwangsläufig ein Verzicht auf räumliche Qualitäten verbunden sein muss, von dem die ungebrachten abhängigen Menschen und die Mitarbeiterteams täglich gleichermaßen betroffen sind“ (Mühlich & Mühlich-von Staden, 2016, S. 197).
Autorin
Die Angabe im Buch und auf der Verlags-Homepage lauten: „Silke Penning-Schulz ist Ass. iur und promovierte mit dieser interdisziplinären, empirischen Arbeit zum Dr. iur. Sie ist in leitender Position im Gesundheits- und Sozialwesen tätig.“ Sie selbst konkretisiert in ihrem LinkedIn-Eintrag zur Funktion: „Stellv. Leitung der Abteilung Gesundheit im Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern“.
Entstehungshintergrund
Es handelt sich um einen detailliert dokumentierenden Feldforschungsbericht im Rahmen eines Promotionsvorhabens: „Zielplanung der Untersuchung ist, die gebaute und gestaltete Umwelt des psychiatrischen Maßregelvollzugs als potentiellen Therapiefaktor, d.h. als gesundheitsfördernde Ressource zu demonstrieren oder als Krankheitserreger zu demontieren und dadurch die Behauptung zu stärken, es handele sich dabei um einen maßgeblichen Einflussfaktor in einer multiprofessionellen Therapie im psychiatrischen Maßregelvollzug. Die Untersuchung betont dabei die Interdisziplinarität des Themas und ist mehrdimensional angelegt, d.h. sie verbindet Theorie und empirische Sozialforschung in Form von meinen sich insgesamt über mehrere Monate erstreckenden Beobachtungen vor Ort in scheinbar idealtypischen, weil maximal divergenten Maßregelvollzugseinrichtungen. Die Auswahl der Einrichtungen exponiert zwei aus architektonischer Sicht antagonistische Institutionen“ in Moringen (Niedersachsen) und Stadtroda (Thüringen). „Vor dem Hintergrund dieser beiden Institutionen ist die Untersuchung als explorative, exemplarische Fallstudie im Feld zu verstehen. Merkmale und Merkmalzusammenhänge sollen lediglich aufgedeckt, bedeutsame Einflussfaktoren für Besserung und Sicherung identifiziert werden und zu weiteren Forschungen Anlass geben. Detaillierte Beziehungen zwischen Merkmalen und Verhalten verallgemeinerungsfähig zu bestimmen, muss zukünftigen Untersuchungen überlassen bleiben. Dementsprechend handelt es sich bei dieser Arbeit um eine qualitative und nicht um eine quantitative“ (S. 36, 39).
Aufbau
Wie aus dem Inhaltsverzeichnis (siehe Link oben) ersichtlich, arbeitet die Autorin ihre Forschungsfragen systematisch ab: Denn „recht ignorant“ blieben Planer, Politiker, Architekten, Klinikträger „hinsichtlich der Frage, wie man es machen kann und machen soll unter den Vorgaben von Behandlung, Therapie, Resozialisierung. Wie kann die Architektur dazu beitragen, dass gut behandelt wird, dass Patienten im Maßregelvollzug gut lernen, größere innere Freiheit entwickeln und sich gesellschaftlich reintegrieren können?“ (Fabricius, 2021, S. 11).
Hierfür entwickelt Penning-Schulz auf der Grundlage von 2 Ausgangsthesen mehrere Prämissen normativer Orientierung, um anschließend peu à peu interdisziplinäre Hypothesen zu entwickeln und auf der Grundlage beobachtbarer und dokumentierter Fakten sukzessive zu prüfen: „Sie rezipiert architekturpsychologische und -soziologische Forschung und unterfüttert die so entstehenden Hypothesen durch eine Feldstudie zweier ganz unterschiedlicher Kliniken. Diese Untersuchung wird durch Fotografie wesentlich unterstützt, vieles der Untersuchungsergebnisse wird [durch die Bilddokumente aus dem Alltag der Maßregelvollzugseinrichtungen] belegt, anschaulich und prägt sich besser ein“ (Fabricius, 2021, S. 11–12).
Inhalt
Was sich sowohl im Inhaltsverzeichnis als auch der obigen Skizze – als Stand der Forschung, Ziel, Methodik, Gang der Untersuchung – trocken und theoretisch liest, fängt gänzlich anders an … und fängt gerade fachfremde LeserInnen ein: Penning-Schulz startet mit „fotografischen Impressionen“ aus beiden Kliniken. Es entsteht ein prägnanter Eindruck, eine von Zitaten unterlegte Bildvorstellung der klinischen Vollzugswirklichkeit(en). Ihre Ausgangsthesen lauten dabei:
A1 Die Architektur im psychiatrischen Maßregelvollzug ist ein signifikanter salutogenetischer Faktor.
A2 Je neuer die Maßregelvollzugseinrichtung, desto zweck- und zielorientierter ist die architektonische Gestaltung des Vollzugs.
Die nachfolgenden normativen Orientierungen referieren einerseits die bundes- und ländergesetzlichen Grundlagen einer „Forensikarchitektur im rechtlichen Diskurs“, entfalten darin andererseits zugleich die forschungsstrategisch wesentlichen Grundsätze und Gestaltungsprinzipien des Maßregelvollzugs.
Die anschließende Reflexion der Forensikarchitektur(en) untersucht 10 interdisziplinäre Hypothesen bezüglich der Aspekte
- Territorialitätsprinzip (klare räumliche und damit auch soziale Ordnungsstrukturen),
- Privatheit (Abgrenzungen nach Außen und im Inneren mit individuellen und sozialen Schwerpunkten),
- Umweltkontrolle (Ausgestaltung und ‚Aneignung’ von Lebensräumen, also Handlungsfreiräumen),
- personal space (Distanzzonen und Raum-/Mobiliararrangements zur Regulierung interpersoneller Distanzen),
- Dichte (objektiv vorhandene soziale Komponenten der Innen- und Außendichte in ihrer subjektiv erlebbaren Weite),
- Ortsbindung (vertraute Raumstrukturen/Wohnverhältnisse zur intrapsychischen Verankerung in der räumlichen/sozialen Lebenswelt),
- Sinnesreize (architektonischer Umgang mit Sinnesreizen als regulative Gegenmittel),
- Sicherheit (objektive gegebene und subjektiv erlebbare intramurale Sicherheit),
- Freizeitumwelt (erholungsfördernde, stimulierende Freiräume),
- Architekturpsychoanalyse (Balance gegenpoliger Ich-Funktionen, Regulation von Selbst und Welt, von Ich und Anderen, von Grenzsetzung und -öffnung),
- Architektursoziologie (eindeutig nutzerorientierte, Heterarchie [3] symbolisierende, dienende, nicht-herrschende Architektur).
Dabei verwendet die Autorin in ihrer empirischen Felduntersuchung spezielle Themenleitfäden i. S. von Begehungs- und Beobachtungsleitlinien mit differenzierten Fragestellungen und Items sowie strukturierten Ratingskalen zur Prüfung der normativen Orientierung wie der interdisziplinären Hypothesen. Sowohl diese Instrumente als auch ein thematisches Glossar werden im Anhang detailliert wiedergegeben.
Aus einer solchen, mit 134 Farbfotos nicht ‚illustrierten’, sondern konkretisierten Untersuchung und Dokumentation resultiert keine (ver)einfache(nde), keine schematisierende oder typisierende Bilanz, kein Punktwert auf einer Skala. Die Quintessenz der Ergebnisse referiert Penning-Schulz sorgfältig abwägend auf immerhin 11 Seiten „Zusammenfassung“, dies einerseits in Bezug auf die beiden Maßregelvollzugskliniken in Moringen und Stadtroda, andererseits in Bezug auf Bedarfe der Architektur solcher Institutionen vor dem Hintergrund der rechtlichen, funktionalen, therapeutischen Bedingungen und An-/Forderungen. Dazu heißt es in den Schlussfolgerungen:
„Konkret: Es ist zu postulieren, dass die multidisziplinären, insbesondere auch architekturpsychologischen Erkenntnisse bei Bau und Gestaltung Berücksichtigung erlangen sollten, dabei aber auch ins Verhältnis gesetzt werden müssen – zum Krankheitsbild und zur Straftat“ (S. 287).
(Ein Beckmesser mag einwenden, dass man dies auch vor einem solch aufwändigen Projekt hätte formulieren können – nun aber ist diese Forderung empirisch fundiert, en détail gesichert und nicht ‚nur’ theoretisch (und idealistisch) begründet.) Was die konkreten Ergebnisse, die institutionellen Fakten betrifft, finden sich diese in einem 7-seitigen Fazit aggregiert. Im Abgleich der beiden Kliniken hinsichtlich der Fragestellung, ob und inwiefern „Maßregelvollzugsarchitektur tatsächlich besserungsfähig“ sein könne, stellt die Autorin fest:
„Das Gesamtsystem des MRVZN Moringen mit seinem komplexen zentralen und dezentralen, gleichsam sektorübergreifenden wie sozialräumlichen Angebotsspektrum baulicher Gestaltung schneidet bei diesem Praxistest deutlich besser ab als dasjenige der Klinik für Forensische Psychiatrie Stadtroda. Der maßgebliche Unterschied besteht in einer gelebten transmuralen Ausrichtung in Moringen, die wesentlich von den Bauelementen gefördert wird. Diese steht einem primär intramuralen Ansatz in Stadtroda gegenüber, der zwar gesetzlich zu erwarten war, theoretisch aber die Chance erhielt, aufgelöst zu werden, was allerdings vielfach an der materialen Wirklichkeit scheiterte“ (S. 272–273).
Einzelne, hier nur punktuell herausgegriffene, Aspekte dieser differenzierten Beobachtung, empirischen Faktenerhebung, theoretischen Analyse und perspektivischen Einordnung lauten dann u.a.:
„Betrachtet man nun die ‚Außenhaut’ der beiden Anstalten genauer, so ist auch hier der Unterschied evident. In Stadtroda signalisieren allgegenwärtige Mauern und Videokameras ebenso wie immer verschlossene Türen und gefühlt minimal existente Fenster Undurchlässigkeit und Intransparenz. Bei der anderen Einrichtung fungieren Mauern, Zäune, Hecken, Pforten als abgrenzende Elemente, als Maßnahme der äußeren Sicherheit. Typisches Krankenhausdesign ist auch dies nicht; dennoch, sie trennen sanfter, geben sich geschlossen und gleichsam offener – reichen die Hand, wo es geht, adaptieren Sicherung, balancieren zwischen innen und außen, zwischen Selbst und Welt. Diese architektonische Gestaltung plädiert für den Patienten und nicht gegen ihn, so wirkt es auf mich“ (S. 273).
„Daher also der weitere vergleichende Blick ins Innere beider Maßregelvollzugseinrichtungen: Im MRVZN Moringen gibt es zahlreiche, in der Klinik für Forensische Psychiatrie Stadtroda nahezu keine uneinsehbaren Bereiche, versteckte Nischen, dunkle Ecken. Dies führt zu der Vermutung, dass sich, legte man die Prospect-Refuge-Theorie [4] zugrunde, die Patienten im MRVZN Moringen infolge der Unübersichtlichkeiten unsicher und die in der Klinik für Forensische Psychiatrie Stadtroda sicherer fühlen müssten […]. Augenscheinlich war dies nicht. Eher hatte ich den Eindruck, die bauliche Struktur im MRVZN Moringen lässt zu, dass man (Patient, Personal, Besucher) einfach auch mal nur Ich sein darf, ohne sich ständig beobachtet, kontrolliert zu fühlen“ (S. 274).
„Bei der arealen Binnendifferenzierung zeigen sich in beiden Maßregelvollzugseinrichtungen Gemeinsamkeiten, haben sie doch eine bauliche und gestalterische Trennung von Therapie-, Arbeit-, Freizeit- und Wohnraum im Fokus […]. Allerdings ist in der Realität zweifelsohne ein Unterschied zwischen den beiden Anstalten erkennbar, da das jeweilige Angebots- und Chancen-Portfolio sehr voneinander abweicht. Moringen z.B. bietet zum Thema Belastungserprobung durch Arbeit sowohl arbeits- bzw. ergotherapeutische Angebote als auch Möglichkeiten zur schulischen und beruflichen Bildung an, hier ist eine Ausbildung ebenso wie bezahlte Arbeit intramural (i.d.R. im Vollzug als Heimarbeit bezeichnet) und auch extramural möglich. Das Spektrum im MRVZN Moringen ist eindeutig differenzierter, vielfältiger, ggf. auch zeitintensiver und damit, so hatte ich den Eindruck, auf jeden Fall ressourcenorientierter. Vergleichbares konnte ich auch im Hinblick auf die Range zur Freizeitgestaltung beobachten. Dies hat natürlich mit der Größe der Einrichtung zu tun, ist aber auf jeden Fall ein im Hinblick auf die durchaus längere bis lange Verweildauer der psychisch kranken Patienten Faktor mit großem Gewicht für die Genesungsprozesse, aber auch für eine positive Grundeinstellung und Verbundenheit“ (S. 275).
Diskussion
Die Forschungsstudie besticht durch ihren konkreten, ergebnisoffenen und interdisziplinären Ansatz. Durchgeführt von einer feldkompetenten, jedoch nicht therapeutisch involvierten Untersucherin leistet (sich) diese eine Balance zwischen
- humanistisch aufgeklärter Parteilichkeit,
- hinreichend distanzierter (nicht-teilnehmender) Beobachtung durch das heranzoomende Objektiv der Kamera und
- persönlichem Statement.
Wenngleich eben diese subjektive Anmutung und das Ich der Untersucherin gegen das (pseudo-)objektive Credo wissenschaftlichen Arbeitens ‚verstoßen’, macht just dieses Bekenntnis zu einem persönlichen Interesse, macht dieses Offenlegen einer fachlichen Haltung (und rehabilitativen Behandlungsidee) eine wesentliche Ergänzung des ansonsten konsequent und standardisiert durchgeführten Analyserasters aus. So, wie die fotografierte „Hauskatze des MRVZN Moringen“ auf Seite 45 nicht nur „Besucher und Insasse zugleich“ war, sondern auch intramurales Milieu avisiert und Atmosphäre evoziert, gewissermaßen ‚Stimmung macht’, werden die faktischen Befunde und detailliert kompilierten Tatsachen erst in ihrer subjektiven Anmutung erlebnisnah und bedeutsam. So eigenständig dieser ob seiner wissenschaftlichen Unkonventionalität offensichtlich durchdachte und transparent kommunizierte Ansatz war und ist, so sehr macht er diesen Forschungs(zu)gang erst möglich … und dessen Charme aus.
Was die – mit den unterkühlten Statement des Buchtitels kaum annoncierte – Thematik des Forschungsreaders betrifft, mag dieses im Spannungsfeld von Recht: Psychiatrie: Täter, von Freiheitsentzug (‚Sicherung’): Behandlung (‚Besserung’): Subjektivität sehr speziell, ja, randständig erscheinen. Doch ermisst sich – so Margalit (1999) – die Aufgeklärtheit einer „anständigen“ Gesellschaft daran, wie sie mit devianten Außenseitern umgeht, ob und wie sie eine „Politik der Würde“ verwirklicht. Hierzu ist die Studie von Penning-Schulz ein schlaglichtartiger Ist-Befund jenseits von idealistischen Verheißungen oder taktierendem Politikersprech.
Zugleich ist diese Auseinandersetzung mit den Hardware-Realitäten der Behandlung, mit dem von Baillon (1988) ideologiekritisch als «monumensonge» [5], als Baulüge, ja, als monumentales Fantasma etikettierten Bauprogramm der forensischen Psychiatrie(n) notwendig, überfällig, unvermeidlich … und dies
- sowohl unter Gesichtspunkten einer sozialpsychiatrisch ausgerichteten, einer behandlungsethisch indizierten, einer ganzheitlich verfassten Behandlung psychisch gestörter TäterInnen in der freiheitsentziehenden Unterbringung als auch
- im interdisziplinären Brückenschlag einer in praxi ebenso rechtsdogmatisch wie pragmatisch determinierten, sprich, mitunter kruden Unterbringungswirklichkeit.
Die Vision der Autorin lautet: „Weitere Untersuchungen bieten sich an zu prüfen, welche theoretischen Modelle des ‚nach außen sicher weil liberal, nach innen liberal und dennoch sicher’ mit den besonderen – insbesondere sensitiven und ressourcenorientierten Übergängen von ‚sicher zu liberal’ denkbar und ggf. operationalisierbar sind, um in der Terminologie der Ja-Nein-Skala ein eindeutiges JA zu erzielen. Hilfreich ist dabei sicher auch die Frage, welche sektoralen Ausgestaltungen der Forensikarchirektur halb eines primär zentralen Klinikbereiches wie an dieser Stelle vorrangig untersucht, den Besserungsgedanken – bei immer wieder zu prüfendem Gefährdungspotential des Patienten und bei angenommener konstanter Risikobereitschaft der Allgemeinheit – vertiefen können“ (S. 289). Als Praktiker innerhalb der forensischen Institution läge mir (UK) zusätzlich näher, eine entscheidungs- und handlungsstrategische Untersuchung zu initiieren, wie forensische Behandler im laufenden Alltagsgeschäft systemisch befähigt werden können, eine aversiv stimulierende Architektur [6] unter Berücksichtigung der intervenierenden – und fachfremden – institutionellen Vorgaben (Brandschutz, Materialökologie [7], Finanzen, Sicherheit, Bau-/Farbkonzept, Belastbarkeit, Pflegebedarf) so zu diskutieren und zu verändern, dass sie nicht nur funktional, sondern auch milieutherapeutisch unterstützend wirksam werden. Kein Zweifel also: Die Veröffentlichung von Penning-Schulz ist ein wesentlicher, beispielhafter und ermutigender Anstoß in diese Richtung…
Nicht unerwähnt bleiben soll (und muss) die – für Vollzugseinrichtungen eher unübliche – Kooperation und Offenheit der Trägerbehörden und Betriebsleitungen beider Maßregelvollzugkliniken: Sie haben nicht nur eine kritische Beurteilung ihres Baukonzepts und Klinikprogramms, sondern eben auch einen sonst allenfalls Insidern vorbehaltenen Blick hinter die Mauern (und dessen fotografischen Beleg) ermöglicht.
Das so unscheinbar-bescheiden daherkommende Buch ist nicht nur gut recherchierter, vielseitiger, differenzierter, anschaulicher und praxisnaher Forschungseinblick in den baulich-lebensweltlichen Maßregelvollzugsalltag. Der Überblick über die damit verbundenen interdisziplinären Diskurse (von Architekten, Juristen, Medizinern, Psychologen…) wird zudem durch Zitat- und Fotoschnipsel angereichert, dabei sorgsam eben auch
- mit einschlägigem Literaturverzeichnis (24 Seiten),
- mit Überblicken über die Thesen und die Rating-Skalen samt Beurteilungskriterien,
- mit Abdruck der „komparativen Auswertung“ beider Kliniken im „Praxistest“,
- mit einem thematischen Glossar (samt Quellenangaben),
- mit expliziten Themen- und Beobachtungsleitfäden
vervollständigt bzw. in seinen Ergebnissen nachvollziehbar legitimiert.
Fazit
Vorgelegt wird ein Feldforschungsprojekt zur Architektur zweier exemplarischer Maßregelvollzugskliniken. Das interdisziplinär ausgerichtete Projekt ‚screent’ und analysiert die (bauliche) Innenwelt der forensischen Psychiatrie hinsichtlich deren Effekte auf die subjektive Erlebnisverarbeitung von Patienten und MitarbeiterInnen, auf die Behandlungsqualität und die sozialen Ausschluss- bzw. Reintegrationsbedingungen. Dabei werden die standardisierten Analyseraster objektiver Wirklichkeiten und deren hypothesengeleitete Auswertung durch vielfältige Fotodokumente anschaulich ‚bebildert’ und in separaten Beschreibungen subjektiver Eindrücke der Autorin ‚animiert’. Das undogmatische Projekt ist nicht nur innovativ, verdienstvoll und beispielhaft – es stellt exemplarische Ausgangspunkte für einerseits zukünftige Bau- und Umbauplanungen, für andererseits weitere Institutionsbeforschung innerhalb forensisch-psychiatrischer Kliniksysteme zur Verfügung. Zugleich ist es – denn „der Stacheldraht der Sicherung verdirbt den Genesungsprozess“ – ein entschiedenes Credo für ein rehabilitatives Engagement, für eine gesellschaftliche Wiedereingliederung der TäterInnen.
Literatur
Baillon, G. 1988. Monumensonge. In vie sociale et traitement, 34 (2), S. 18–21.
Fabricius, D. 2021. Vorwort 2. In Penning-Schulz (2021) a.a.O., S. 11–12.
Jetter, D. 1981. Wiener Irrenhausprojekte. In Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie, 49 (1), S. 43–52.
Knesch, G. 1990. Die Bauanlage und ihr Umgriff. In Landbauamt Landshut (Hrsg.). 1990. Bezirkskrankenhaus Straubing – Forensisch-psychiatrische Klinik. Baudokumentation (S. 6–9). Landshut: Hausler.
Kobbé, U. 1996. Die äußere Reform des Maßregelvollzugs: Neubauten der forensischen Psychiatrie. In Kobbé, U. 1996. Zwischen gefährlichem Irresein und gefahrvollem Irrtum. Eine theoretisch-textkritische Analyse und empirisch-explorative Untersuchung (S. 108–123). Lengerich: Pabst.
Kobbé, U. 2014. »… welche zubenannt ist ›die bunte Kuh‹« – Arbeit mit therapie-ambivalenten Patientinnen als work in progress: ein Werkstattbericht. Vortragstranskript. 29. Forensische Herbsttagung. München: LMU, 09.-11.10.2014. Open-access-Publ.: https://www.researchgate.net/publication/343725642.
Margalit, A. 1999. Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung. Frankfurt am Main: Fischer.
Mühlich, W. & Mühlich-von Staden, C. 1982. Ein Bett ist keine Wohnung. Bedürfnisse und Wünsche psychiatrischer Langzeitpatienten. Arbeits- und Ergebnisbericht einer Studie im Auftrag des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. Rehburg-Loccum: Psychiatrie-Verlag.
Mühlich, W. & Mühlich-von Staden, C. 2016. Räume, die mithelfen. In Saimeh, N. (Hrsg.). 2016. Straftäter behandeln. Therapie, Intervention und Prognose in der Forensischen Psychiatrie. Eickelborner Schriftenreihe zur Forensischen Psychiatrie (S. 187–199). Berlin: MWV.
Zwoch, F. 1987a. Neubau für die Abteilung Forensische Psychiatrie Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, Berlin. In Bauwelt, 78 (22), S. 781–792.
Zwoch, F. 1987b. Abteilung für Forensische Psychiatrie der Landesklinik Düren. In Bauwelt, 78 (22), S. 797–802.
[1] Knesch (1990), Kobbé (1996), Zwoch (1987a; b)
[2] MRVZN = Maßregelvollzugszentrum Niedersachsen
[3] Heterarchie = Organisationsform, in der Organisationseinheiten gleichberechtigt nebeneinander stehen
[4] Die umweltbezogene Prospect-Refuge-Theorie von Appleton besagt, dass Menschen ihre räumliche Umgebung dahingehend explorieren (prospect) und darin bevorzugen, dass diese Überblick und Schutzmöglichkeiten (refuge) bietet.
[5] monumensonge = franz. Neologismus, zusammengesetzt aus monument (Monument, Denkmal, Wahrzeichen), mensonge (Lüge, Unwahrheit, Falschheit), songe (Traum, Vorstellung, Fantasma).
[6] vgl. exemplarisch Kobbé (2014, S. 5–6)
[7] Energieeffizienz, Nachhaltigkeit, Innenraumklima
Rezension von
Dr. Ulrich Kobbé
Klinischer und
Rechtspsychologe, forensischer Psychotherapeut, Supervisor und Gutachter
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