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bildungsLab* (Hrsg.): Bildung

Rezensiert von Erik Weckel, 06.12.2021

Cover  bildungsLab* (Hrsg.): Bildung ISBN 978-3-89771-091-7

bildungsLab* (Hrsg.): Bildung. Ein postkoloniales Manifest. Unrast Verlag (Münster) 2021. 108 Seiten. ISBN 978-3-89771-091-7. D: 8,90 EUR, A: 9,20 EUR.
Reihe: resistance & desire - 1.

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Thema

Postkoloniale Bildung, was ist das, was könnte es sein? Impulse, viele Fragen und eine Aufforderung (in Form eines Manifestes) charakterisieren diesen Band. People of Color bringen ihre subjektiven Erfahrungen ein und stellen angebliche Selbstverständlichkeiten in pluraler Perspektive in Frage. Sie verstehen postkoloniale Bildung als „allgemeine Bildung“ mit humanistischem, feministischem, antirassistischem und emanzipatorischem Ziel. Ihr Denken „wird“ die Welt verändern.

Autorinnen

Das bildungsLab* sind migrantische Akademikerinnen* und Akademikerinnen* of Color, die im pädagogisch-kulturellen Raum tätig sind. Sie vermitteln und produzieren Theorie, diskutieren pädagogische und künstlerische Vorstellungen, Konzepte und Paradigmen. Sie kommentieren, intervenieren und publizieren im Feld der rassismus- und hegemoniekritischen Bildung und Vermittlung. Hier sind 24 von ihnen versammelt.

Aufbau

Der Band und das Manifest sind eine Eröffnung für eine geplante Schriftenreihe resistance & desire, die im Vorwort angekündigt ist. Er legt eine Sammlung vor von 25 kurzen Texten, darunter drei Gedichte, wie Blitzlichter, von 24 Autorinnen, die kritisch-emanzipatorisch utopische Entwürfe einer Schule von Morgen präsentieren. Der Band zeigt die Suche nach postkolonialer Bildung: was ist das überhaupt? Sie folgt den Wegen des Begehrens nach Spivak, stellt Fragen über Fragen, beleuchtet die Körper und Emotionen, betrachtet Orte und erfindet den Planeten neu. Die Autorinnen reflektieren Sprache und Sprechen, verhandeln marginalisierte Stimmen und Schweigen, philosophieren, betrachten das Recht und verdichten poetisch. Sie zeigen Lehren und Lernen, Methoden der Aneignung, verweisen auf Bündnisse und wieder und wieder Widerstand.

Gerahmt ist die Sammlung von den Hauptautorinnen Mai-Anh Boger und María do Mar Castro Varela, die Fragen, was „postkoloniale Bildung“ überhaupt sei und endet mit einem „Manifesto – Bildung, Rassismus, Postkolonialität“ von letzterer.

Inhalt

Im Vorwort stellt bildungslab* sich kurz vor, als kritischer Debattierraum, mit dem Ziel, utopische Entwürfe von Schule und pädagogischer Praxis zu entwerfen. bildungslab* interveniert in den hegemonialen Diskurs zu Fragen von Heterogenität, Pluralität, Marginalisierung und Diskriminierung in Bildungsinstitutionen. Inspiriert ist bildungslab von Gayatri Chakravorty Spivaks Idee von Bildung als „zwanglose Neuordnung von Begehren“. Mit diesem Manifest eröffneten die Herausgeberinnen die Reihe resistance & desire.

Mai-Anh Boger und María do Mar Castro Varela führen in die Reflexion „postkolonialer Bildung“ ein.

Lalitha Chamakalayil erzählt im zweiten Text „Geschichten – eingeschrieben in Braune Körper“. Sie erzählt aus ihrer Jugend und der immer wieder kehrenden Frage „wie ist es dort, wo du her kommst“. Sie zeigt wie in der Reaktion auf diese Fragen Mythen kreiert werden, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun haben. Chamakalayil stellt fest, dass sie diese Geschichten schon seit der Grundschule phantasiert.

Orte der Bildung neu be-gründen fragt und fordert Saphira Shure im dritten Text. Sie skizziert die historische, machtförmige Gewordenheit der Bildungsinstitutionen. Eine Befragung ihrer Praktiken birgt das Potenzial ihrer Veränderung. Es ist an der Zeit, gestern mit dieser Befragung zu beginnen.

Der vierte Text bietet eine Reflexion der lateinischen Sprache als postkoloniale Sprache – „Lateinunterricht – mein heimlicher Genosse“ – von Mai-Anh Boger. Lateinunterricht führt sofort in die herrschende symbolische Ordnung ein. „Sklave“ und „Herr“ seien die ersten Zuordnungen. Sklav_innen existieren in allen Hautfarben. Es gibt Römer und Barbaren, das Othering findet ihren frühen Ursprung. Und im Raum voller Barbaren lernten sie, wie schnell sie selbst zu Barbaren gemacht wurden.

Sabine Mohamed nimmt im fünften Text Sprache und Ästhetik in den Blick. Am Zerstören kolonialer Skulturen (Wahrzeichen), zeigt sie die Identität Kolonialer und De-kolonisierter Begehren. Die Bedeutung der Sprache, erster oder kolonialer Sprachen, auch im ästhetischen, literarischen Gebrauch, lassen sich über Diskurse afrikanischer Literaten nachzeichnen. Auch Derrida, frankophoner Jude in Algerien, merkte an, dass seine Sprache, das Französische, nie seine eigene Sprache sein werde, zumal Sprache nie jemandem Gehöre. In diesen Widersprüchen liegen Widerstandspotenziale des „Nicht-Identischen“.

Carolina Tamayo Rojas verdeutlicht im „romantischen Rausch“ des sechsten Textes, dass postkoloniale Bildung marginalisierten Stimmen Raum eröffnet zur Präsentation. Lebensweisen, die als Anders deklariert werden und als unerwünscht gelten finden Platz. Rojas benennt die Verstrickung von Kolonialität, Kapitalismus und Heterosexualität. Postkoloniale Bildung ist Schwarz, Indigen, Queer, Chicanx, Mestizx, Disabled, Verrückt, Dick, Arm, Laut und vor allem Kritisch.

Der siebte Text führt diese Gedanken fort. Shadi Kooroshy will „mit Kant gegen Kant“ argumentieren. Die kritische Lektüre kanonisierter Wissensbestände ist einer Re-Lektüre zu unterziehen. Zu entdeckende Probleme und Fragwürdigkeiten, ihre Verstrickungen sind offen zu legen, was nicht zwingend heißt, ihr Denken komplett zu verwerfen.

Der achte Text thematisiert das Sprechen oder Schweigen über Rassismus. Samia Aden (eigentlich Samia Abdullahi) zeichnet nach, was passiert, wenn „postkoloniale Bildung fehlt“. Sie handelt von Privilegien, von Dethematisierung und verlockenden Komplizenschaften. Aden zielt auf das Sichtbar machen, das Sprechen, auch das Gehört werden und von den Ängsten vor potentiellen Konsequenzen, wenn ich mich zeige.

Mansika Mansouri schreibt im neunten Text ein Plädoyer für die Rechtswissenschaft. In vier Schritten erarbeitet sie, warum postkoloniale Bildung ein notwendiger Teil der Rechtswissenschaften ist, ihre Bedeutung zwischen Rechtstheorie und Praxis, zwischen Gleichheit und Ungleichheit und Dekonstruktion und Rekonstruktion. Mansouri fordert die Anerkennung und zeigt, das postkoloniale Bildung eine Weiterentwicklung des Rechts sein könnte.

„Keine Antwort ist endgültig“ schreibt Trovania Delille in ihrem Gedicht „zur Notwendigkeit einer postkolonialen Bildung“ als zehnten Text: Fragen, Auffordern, Fühlen, Widerstand, Aufarbeitung und Alternativen.

Im elften Text beschreibt Sheila Ragunathan exemplarisch zwei Sitzungen einer politikwissenschaftlichen Veranstaltung für Lehramtstudierende an der Justus Liebig Universität Giessen: „Über das Lehren und Lernen: Auszüge aus dem Seminaralltag“. Die Autorin zeigt, wie Studierende sich mit Thesen zum Alltags- und strukturellem Rassismus schwer tun, weil sie Rassismus bis dahin nicht oder kaum wahrnahmen. Ragunathan folgert, dass es notwendig ist auf Spannungsverhältnisse aufmerksam zu machen und konkrete Gegenentwürfe zu formulieren.

Purnima Vater fordert im zwölften Text zu „Irritation von Imagination als gesellschaftlicher Transformationsprozess“ auf. Lehrende sind dominant weiß und männlich. Weiß und cis-männlich imaginiert sich die Lehre. Ein schwarzer Körper irritiert da, ein weiblicher Körper irritiert, ein beeinträchtigter Körper irritiert, ein queerer Körper irritiert, Alter irritiert. Diese Irritationen sind notwendiger Widerstand. Nicht-weiße Körper sind ein essentieller Schritt für Forschung und Lehre.

Leila Haghighat schreibt im 13. Text über „kompliziertes Lernen“. Grundlagen ihrer Gedanken sind Marx, Gramsci, Spivak, Said und Bateson.

Ein erstes „Manifest“, des Fühlens und Widerstehens, proklamiert Thu Hoài Tran im 14. Text. Emotionen sind bedeutsam und können als Widerstandskraft nutzbar werden.

Jamila Al-Yousef ist unter anderem Sängerin. Sie drückt ihre Sehnsüchte, ihr Begehren, in einem Auszug eines eigenen Liedtextes aus: Border Syndrome. „I long for touch, I long for love, I long for equality … Der 15. Text, ein Kulturereignis.

Das Begehren steht im Zentrum des 16. Textes von Natascha Khakpour. „Don't beg my pardon. You never paid me for this rose garden“ – es geht um das schöne, das gute Leben, es geht um die Rosen, die für alle blühen.

„Postkoloniale Bildung ist auf vielen Wegen unterwegs“ benennt Karima Arezo Popal-Akhzarati im 17. Text verdichtet viele Wege und damit die Komplexität der Perspektiven.

„Wi(e)der-sprechen“ heißt der 18. Text von Gülden Ediger. Es gilt, das Sprechen wieder zu lernen, gegen die alltägliche Gewalt und das Widersprechen der Gewalt. Postkoloniale Bildung ist Maulwurfsarbeit, so die Autorin. Es geht um Veränderung, um Wahrnehmung von Alternativen in der angeblichen Alternativlosigkeit, den Tag danach zu imaginieren. Postkoloniale Bildung ist ein Ringen.

Fallon Tiffany Cabral präsentiert im 19. Text Assoziationen aus einer Arbeitsmethode. „re-orientiert und post-kolonial ge-bildet – (m)ein Prozess“ fasst im Titel, was sie illustriert und collagiert zusammenbrachte. Auf den sechs Seiten eines Würfels (Methode) zentrierten sich sechs Perspektiven: Ausbrechen, Prozesse, Verdrehen, Misstrauen, Re-orientieren und Wissen teilen. Dies ist ein Ausdruck gemeinsamen Lernens.

„Unteilbar denken lernen in einer postkolonialen Bildungspraxis“ heißt denken in Allianzen und Bündnissen, wie Narmada Saraswati sie mit dem 20. Text einfordert.

Aicha Diallo sieht im 21. Text den „Körper als Subjekt der Vermittlung“. Körper von People of Color sollen in der Lehre und im Lernen sichtbarer werden, mit den Körpern ihre Erfahrungen. Die Erfahrungen der unsichtbaren sichtbar machen und damit in Wirkung bringen.

Arzu Ҫiҫek skizziert im 22. Text „vom doppelten Ursprung der Welt zur Neuerfindung des Planeten“ die Ankunft des Neuen und ihrer Verhinderung durch das Alte. Um das Neue aufzunehmen ist es mit zu denken. Postkoloniales Denken bedeutet, den Anderen mit denken. Mit Spivak gilt es für die Neuorientierung am Anderen den Raum neu zu denken. Es ist der Planet, nicht der Globus, der im Diskurs zur Rede für das Neue ersteht.

Es folgt im 23. Text durch Saboura Naqshband ein Blick auf „Orte des Lernens“. Ihr Ort war unter anderem die Moschee. Die Autorin benennt neun Ideen aus dieser Welt: zur Erziehung, zu geschwisterlichem Ratschlag, zu Wissen, Verstand, dem göttlichen Denken, zur Mäßigung, reinige dein Herz, Pluralität und Güte.

Meryem Choukri stellt im vorletzten Kapitel „Fragen über Fragen“. Auf all die Fragen gäbe es kaum Antworten, schließlich gilt es vor allem zu lernen Fragen zu stellen.

Nach den vielfältigen Beiträgen entfaltet María do Mar Castro Varela abschließend das titelgebende postkoloniale „Manifesto – Bildung, Rassismus und Postkolonialität". Es bräuchte eine Bildung, die das Begehren nach einer anti-rassistischen und gerechteren Welt weckt. Eine Bildung, die Lust macht auf Denken und Verstehen wollen. Es geht um dazugehören, um erweiterte Denkungsart, um Erinnern und Verlernen, um Kontrapunktisches Denken, um Überschreitung der Beschämung. Sie stören den Kanon, sie sind schon da. Sie wollen verändern.

Diskussion

Ein Manifest ist eine öffentliche Erklärung. Mit ihm verfolgen Manifestorinnen das Ziel stärker in die Öffentlichkeit zu treten und vor allem auch wahrgenommen zu werden. In diesem Falle, wahrgenommen werden in einer weiß-dominierten männlichen Gesellschaft, die die Erfahrungen migrantischer oder PoC-Wissenschaftlerinnen verdrängen. Genau diese Erfahrungen aber sollen ein neues Nachdenken über Bildung in pluraler Gesellschaft anstoßen. Es geht um ein Öffnen vielfach als alternativlos gepriesenen Denkens. Dafür gibt es in dem schmalen Band vielfältige Anregungen. So wird beispielsweise gezeigt, wie das „Othering“, Menschen zu Barbaren degradiert (26) – wie heute innerhalb eines Jahres in der Pandemie Menschen als Ungeimpfte zu Barbaren werden, zu Menschen 2. Klasse, deren Bürgerrechte stärker einschränkbar seien. Das Schmerzliche ist, dass ein Meistern dieser Ordnung auf Lehrende angewiesen ist, die selbst domini/a*e wurden, weil sie selbst sich sklavisch an dieser Ordnung abarbeiteten, wie Boger resümiert.

Thu Hoài Tran zeigt, dass Emotionen legitim sind. Gleichzeitig verweist sie darauf, dass Wut, Ärger oder Ängste nicht von allen Körpern akzeptiert werden oder sogar sanktioniert. Macht und Angst gehören in der politisch-gesellschaftlichen Welt jedoch eng zusammen. Macht hat für die Machthabenden viele Vorteile. Bei ihr unterworfen kann sie Angst erzeugen und soll es auch, da die Angst selbst wiederum Macht über die Geängstigten ausübt, sie erzeugt. Angsterzeugung ist ein Herrschaftsinstrument, wie Rainer Mausfeld überzeugend entfaltet  [1].

Fazit

Bildungslab* regen an, sich postkolonialer Bildung anzunehmen. Sie arbeiten nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, im Gegenteil, sie sind selbst auf der Suche nach seiner Bedeutung. Sie geben zwar viele Hinweise und Beispiele, stellen aber auch viele offene Fragen. Dies macht es leicht, sich dem Gedanken nach postkolonialer Bildung zu öffnen. Nehmen wir die Einladung an. Laden wir PoC ein, ihre Erfahrungen ins Bild zu setzen und nehmen wir diese pluralen Erfahrungen in die gebrochenen Vorstellungen von Welt und Miteinander auf. Mein Begehren ist es, bisher tendenziell ausgeblendetem Raum zu geben. Arbeiten wir mit dem Manifest.


[1]  Rainer Mausfeld (2019): Angst und Macht. Herrschaftstechniken der Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien, 2. Auflage, Frankfurt/M.

Rezension von
Erik Weckel
M.A., Politikwissenschaftler, Dozent an verschiedenen Hochschulen, u.a. an der HAWK Hildesheim in der Sozialen Arbeit, Erwachsenenbildner
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Es gibt 14 Rezensionen von Erik Weckel.

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Zitiervorschlag
Erik Weckel. Rezension vom 06.12.2021 zu: bildungsLab* (Hrsg.): Bildung. Ein postkoloniales Manifest. Unrast Verlag (Münster) 2021. ISBN 978-3-89771-091-7. Reihe: resistance & desire - 1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28868.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.


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