Thomas Gerlinger, Rolf Rosenbrock: Gesundheitspolitik
Rezensiert von Kai Mosebach, 27.06.2024

Thomas Gerlinger, Rolf Rosenbrock: Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung. Hogrefe AG (Bern) 2024. 4., überarbeitete Auflage. 580 Seiten. ISBN 978-3-456-85968-2. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 8,50 sFr.
Thema
Das umfassende und voluminöse Werk ist nicht nur eine „systematische Einführung“ in die Grundfragen und fachlichen Kontroversen einer sich am Prinzip von Public Health orientierten Gesundheitspolitik, sondern auch ein beachtenswertes Nachschlagewerk für die jüngsten Entwicklungen im deutschen Gesundheitssystem insgesamt. Mit anderen Worten, wer von Gesundheitspolitik nicht reden möchte, sollte auch vom Gesundheitssystem schweigen. Denn – so ein bekanntes Bonmont im gesundheitswissenschaftlichen Kreisen – die institutionelle und organisatorische Struktur eines Gesundheitssystems ist zu großen Teilen nichts anderes als die historisch geronnenen Folgen vorhergehender gesundheitspolitischer Entscheidungen.
Dabei werden nicht nur grundlegende Entwicklungen im deutschen Gesundheitssystem und in vielfältigen Teilsektoren beschrieben, sondern auch empirisch aufgetretene gesundheitspolitische Kontroversen und Konflikte der letzten 10 Jahre angesprochen und sogar – wenn auch nicht umfassend – Versorgungsfolgen und gesundheitspolitische Antworten auf die COVID – 19 Pandemie thematisiert. Ein eigenständiges Kapitel zur Pandemie gibt es nicht, die Beschreibung ihrer gesundheitspolitischen Bewältigung wird in die Struktur des Buches eingepasst.
Entstehungshintergrund und Autoren
Der Politik- und Gesundheitswissenschaftler Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger, Hochschullehrer für Gesundheitssystemforschung, Gesundheitspolitik und Gesundheitssoziologie am FB Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld, und das langjährige Mitglied des Sachverständigenrates für gesundheitliche Fragen der Bundesregierung unter den Gesundheitsministerinnen Andrea Fischer (1998-2001) und Ulla Schmidt (2001-2009), der Sozialökonom und Public Health-Forscher Prof. Dr. Rolf Rosenbrock (mittlerweile Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbandes) haben zehn Jahre nach der letztmaligen Veröffentlichung ihres viel gepriesenen Einführungsbuches in die Gesundheitspolitik eine überarbeitete und nochmals erweiterte Auflage vorgelegt.
Inhalte und Aufbau
Konsequent beginnt das Buch im ersten Kapitel (S. 15–33) zunächst mit einer theoretischen und interdisziplinären Grundlegung, was Gesundheitspolitik denn nun bitte sei. Da Gesundheitspolitik im Sinne der von den Autoren vertretenen emanzipatorische Public Health Forschung nicht nur die bloße Beschreibung und Zerlegung gesundheitspolitisch bedeutsamer Entscheidungen ist, hat Gesundheitspolitik neben dieser analytischen Perspektive eine zutiefst normative. Ihr Ziel besteht darin, die „gesundheitliche Lage der Bevölkerung durch die Vermeidung von Krankheit und vorzeitigen Tod sowie durch die Vermeidung oder Verringerung krankheitsbedingte Einschränkung der Lebensqualität“ (S. 15) zu verbessern. Ganz pragmatisch betrachtet ist Gesundheitspolitik damit ein normativ gesteuertes Interventionsfeld, auf dem unterschiedliche Akteure in einem mittlerweile europäisierten Politikfeld handeln (S. 18 ff.)
Freilich sind Akteure im Gesundheitswesen nicht ohne Interessen. Daher ist aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive Gesundheit immer im Spannungsfeld von verschiedenen Interessenskonflikten zu betrachten. Gesundheitspolitische Entscheidungen sind dabei niemals reine Privatsache, sondern werden beeinflusst von Akteurin des politischen Systems, des wirtschaftlichen Systems und auch von Akteuren der Gesundheits- und Krankenversorgung (S. 23 ff.). Zu den Letzteren gehören Ärzte, aber auch Pflegefachpersonal und vermittelt auch Akteure der Finanzierungsträger der Krankenversorgung, also Sozialversicherungen im Allgemeinen und Krankenkassen im Besonderen. Unter Verweis auf den US-amerikanischen Politikwissenschaftler Paul Sabatier unterstreichen Gerlinger und Rosenbrock die oft übersehene Tatsache, dass gesundheitsbezogenes und Gesundheitspolitisches Handeln nicht nur stets kontingent ist, also auch anders möglich ist. Sie weisen darauf hin, dass zur Durchsetzung von Interessen Akteure gemeinsamer Wertorientierungen in der Regel politische Koalitionen bilden, die über die Zeit recht stabil bleiben (S. 25). Dabei unterstreichen Sie zurecht, dass nicht alle Akteure über die gleiche Definitions-, Entscheidungs und Durchsetzungsmacht verfügen (S. 26 f.).
Bei dieser analytischen Perspektive bleiben sie aber nicht stehen. Das bereits genannte normative Ziel der Gesundheitspolitik ist dann erreicht (und lässt sich auch dann nur erfolgreich umsetzen), wenn die zur Verfügung stehenden Interventionsformen den objektiven wie subjektiven Bedarfen und Bedürfnissen der Nutzer des Gesundheitssystems entsprechen. Thomas Gerlinger und Rolf Rosenbrock beschreiben daher „normative Leitlinien bei der Entscheidung über Gesundheits bezogene Interventionen“ (S. 29), die freilich historisch und international sehr unterschiedlich umgesetzt und realisiert werden. Mit dem Modell des Public Health Action Cycles (PHAC) wird abschließend in diesem Kapitel ein Modell dargestellt, mit dem sich die Interventionstypen rational ins Leben setzen lassen (S. 31f).
Folglich entwickeln die beiden Gesundheitswissenschaftler im zweiten Kapitel (S. 35–75) den Begriff der Gesundheitspolitik für das sich historisch entwickelte deutsche Gesundheitssystem und skizzieren das in diesem Land herausfordernde gesundheitspolitische Problempanorama. Gesundheitspolitik in Deutschland ist nicht nur sozialversicherungsgetriebene Krankenversorgung (40 ff.), sondern – wenn auch noch etwas marginal – eine sich emanzipatorisch verstehende Präventionspolitik (S. 36 ff.). Das gesundheitliche Problempanorama ist von der Bedeutung chronischer Krankheiten im Prozess des demographischen Wandels geprägt und wird noch von den gesellschaftlichen Problem der sozial bedingten Ungleichheit von Gesundheitschancen überwölbt (50 ff.). Den gesundheitspolitischen Handlungsbedarf sehen sie begründet in der Senkung „gesundheitsrelevanter Belastungen und Stärkung gesundheitsbezogener Ressourcen“ (S. 60), die jedoch durch einen Abbau sozialbedingter gesundheitlicher Ungleichheit begleitet werden muss. Denn Mortalität, Mobilität und individuelle Gesundheitschancen sind sozial ungleich verteilt. Die gewissermaßen resümierende Grundeinschätzung der deutschen Gesundheitspolitik ist ernüchternd und herausfordernd zugleich: „Die derzeitig gesundheitspolitische Praxis trägt diesen Anforderungen insgesamt nur höchst unzureichend Rechnung.“ (S. 61)
Im weiteren Verlauf des Buches werden nun sowohl der derzeitige Stand der Prävention und Versorgung in den vielfältigen Bereichen des deutschen Gesundheitssystems beschrieben als auch im Hinblick auf ihre Ergebnisse zur Behebung und Bearbeitung der gesundheitspolitischen Herausforderungen kritisch erörtert. Das institutionelle System der Prävention und Präventionspolitik wird an den Ausgangspunkt der Beschreibung des Gesundheitssystems gestellt (Kapitel 3, S. 77–156). Diese Entscheidung ist nicht nur weise, im Hinblick auf die normative Zielsetzungen, sondern auch konsequent: ohne eine zunehmende Präventivorientierung in der Gesundheitspolitik, und zwar auf Ebene von Individuen und Gesellschaft sowie hinsichtlich des Verhaltens als auch der Verhältnisse, sind weder Ressourcensteigerungen oder Belastungssenkungen noch die Verringerung sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheiten, wie es auch das fünfte Sozialgesetzbuch (die Krankenversicherung) fordert, erreichbar. Thomas Gerlinger und Rolf Rosebrock geben einen detaillierten Überblick über dieses enorm wichtige Politikfeld, dass zweifellos den Kernbereich der Gesundheitswissenschaften und Public-Health Forschung darstellt.
Im vierten Kapitel (S. 157–199) stellen Sie das Krankenversicherungssystem da, das in Deutschland nicht nur aus der gesetzlichen Krankenversicherung sondern aus dem dualen System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und der privaten Krankenversicherung (PKV) besteht. Allzu häufig wird vergessen, dass diese duale Struktur der Finanzierung der Krankenversorgung maßgeblich auch die Versorgungsstrukturen mit prägt, insofern die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland bereits hinsichtlich der Versicherung des Lebensrisiko Krankheit und Verletzung (und daran gekoppelt auch Pflegebedürftigkeit) sozial ungleiche Versicherungschancen haben. Mehr noch: trotz Tendenzen der Angleichung von PKV und GKV existieren keine „Ansätze zu einem Finanzausgleich zwischen beiden Systemen […] Die PKV ist damit weiterhin eine Einrichtung, in der Beziehung überwiegend mittlere und hohe Einkommen ihr zumeist geringeres oder durchschnittliches Krankheitsrisiko versichern.“ (S. 199) Von einer umfassenden Solidarität im deutschen Gesundheitssystem kann man daher nicht reden. Nur innerhalb der GKV ist das Solidaritätsprinzip, die einkommensabhängige kollektive Finanzierung des medizinischen Bedarfs eines jeden Versicherten, realisiert.
Im fünften (S. 201–250) und im sechsten Kapitel (S. 251–294) widmen sich die beiden Gesundheitswissenschaftler den Versorgungsstrukturen, Bedarfen, Vergütungs- und Regulierungssystemen sowie den Herausforderungen der Qualitätssicherung in den Systemen der ambulanten und stationären Krankenversorgung. Auf den 100 Seiten gelingt es Ihnen hervorragend, sowohl die Leistungsstrukturen in den jeweiligen Bereichen, aber auch ihre zunehmenden Überschneidungen und Öffnungen dazu stellen, als auch die gesundheitspolitischen Veränderung der jeweiligen Versorgung – und Regulierungssysteme in den letzten zehn Jahren zu skizzieren. In den nachfolgenden Kapiteln zu Arzneimittelversorgung (S. 295–339), Rehabilitation (S. 341–372) und Langzeitpflege (S. 373–443) werden in ausführlicher Weise wieder die Grundstrukturen, die Bedarfe, die Leistungen, das Regulierungssystem und die Vergütungsformen der jeweiligen Sektoren dargestellt und diskutiert, welche Strukturprobleme und Qualitätsmängel in ihnen vorliegen und im Fachdiskurs erörtert werden.
Das vorletzte Kapitel (S. 445–534) zielt auf eine vertiefte Erörterung von zentralen Steuerungsproblem der Krankenversorgung im deutschen Gesundheitssystem ab. Die sechs Schlüsselkontroversen der gesundheitspolitischen Steuerung im deutschen Gesundheitssystem und der beteiligten Fachdebatte, die im Wesentlichen die zentralen Bausteine und Konfliktpunkte des gesundheitswissenschaftlich verbreiteten Reformmodells der wettbewerbsbasierten Kostendämpfung (Anm. des Rezensenten) umfassen, werden hochkompetent und in ihrem historischen Entwicklungslauf nachgezeichnet, bevor die Autoren selbst zu einer kritischen Einschätzung des Steuerungsproblems finden. Folgende Steuerungsprobleme werden dargestellt und kritisch erörtert:
- Qualitätssicherung im Gesundheitswesen (S. 445 ff.)
- Integration der Versorgungsstrukturen (S. 459 ff.)
- Wettbewerb und Risikostrukturausgleich (S. 476 ff.)
- Finanzierung und Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung (S. 485 ff.)
- Wohnortnahe Versorgung in Stadt und Land (S. 499 ff.) und
- Regulierung des Krankenversorgungssystems zwischen Staat, Verbänden und Markt (S. 512 ff.)
Im abschließenden Kapitel (S. 535–570) wird auf die Bedeutung der europäischen Integration für die deutsche Gesundheitspolitik eingegangen. Neben der Darstellung der Grundzüge des europäischen Integrationsprozesses (S. 535 ff.) sowie den supranationalen und nationalstaatlichen Kompetenzen in der Gesundheitspolitik (S: 539 ff.) werden grundlegende Mechanismen erörtert, wie die europäische Ebene sich auf die Gesundheitspolitik der Mitgliedstaaten auswirkt (S. 544 ff.). Insbesondere wird im Bereich der Prävention und öffentlichen Gesundheit (S. 553 ff.) als auch im Bereich der Krankenversorgung (559 ff.) diskutiert, welche beschränkten Kompetenzen die EU dort hat und wie sich insbesondere der europäische Binnenmarkt auf die nationalen Gesundheitssysteme auswirkt. Abschließend erörtert das Autorenpaar, ob nicht sogar mit der EU-Richtlinie zur Patientenmobilität ein europäischer Gesundheitsmarkt etabliert werden könnte, mit bislang kaum absehbaren Folgen für die nationalstaatliche Regulierung des Gesundheitssystems (S. 568 ff.). Doch zu einer unreflektierten EU-Schelte besteht kein Anlass. Denn zum einen erfolgte der Bedeutungszuwachs der europäischen Ebene für die Gestaltung der nationalen Gesundheitssysteme „keineswegs immer nur gegen den Willen der Mitgliedstaaten“ (S. 570). Zum anderen besteht „zwischen den supranationalen EU-Institutionen und den Mitgliedstaaten ein beständiger Konflikt um die Interpretation der primärrechtlich definierten Gestaltungskompetenzen“ (S. 570). Gerade auf dem Feld der Gesundheitspolitik zeigt sich hiermit, dass mit der Europäischen Union eine weitere Politikebene der gesundheitspolitischen Gestaltung nationaler Gesundheitssysteme von Bedeutung ist.
Diskussion
Es ist das Verdienst der beiden Gesundheitswissenschaftler mit dem abschließenden Exkurs auf diese gerne übersehene gesundheitspolitische Realität des europäischen Integrationsprozesses hingewiesen zu haben. Aber auch ein kleiner Hinweis sei erlaubt, der unterstreichen möchte, dass es sich hier nicht um ein simplifizierendes Lehrbuch handelt. Wer schematische Darstellungen liebt und allzu grobe Vereinfachungen der zugrunde liegenden Sachprobleme sucht, wird an diesem Buch keine Freude haben. Es ist für ein Lehrbuch sehr dicht geschrieben und kann und sollte – der Rezensent hat den Begriff bewusst gewählt – mehr als Kompendium betrachtet werden, das nicht schnell von vorne nach hinten durchgelesen werden kann (was aber auch möglich und erkenntnisfördernd ist). Mit anderen Worten: es ist keine einfache Feierabendlektüre, sondern erfordert bewusste Nervenanspannung und hohe Konzentration. Dies vorausgesetzt jedoch erfreut es den Leser und die Leserin mit einem Einblick in das deutsche Gesundheitssystem und die hiesige Gesundheitspolitik, der manchem selbst erklärten Fachpolitiker abgeht. Wärmstens zu empfehlen also.
Fazit
Den Autoren ist eine hervorragende Überarbeitung und Erweiterung ihres zurecht viel gepriesenen Lehrbuchs zur „systematischen Einführung“ in die Gesundheitspolitik (in Deutschland) gelungen. Wer Gesundheitspolitik verstehen will, wer die Entstehung und Entwicklung des deutschen Gesundheitssystems nachvollziehen möchte oder sich selbst in die gesundheitspolitischen Kontroversen einzubringen gedenkt, kommt um dieses hervorragend aufbereitete Kompendium nicht herum.
Rezension von
Kai Mosebach
Dipl.-Politologe
Dozent für Gesundheitswissenschaften, Gesundheitspolitik und Gesundheitsökonomik
Mailformular
Es gibt 3 Rezensionen von Kai Mosebach.