Andreas Anton, Alan Schink: Der Kampf um die Wahrheit
Rezensiert von Prof. Dr. René Gründer, 17.01.2022
Andreas Anton, Alan Schink: Der Kampf um die Wahrheit. Verschwörungstheorien zwischen Fake, Fiktion und Fakten. Komplett-Media GmbH (München) 2021. 336 Seiten. ISBN 978-3-8312-0584-4. D: 22,00 EUR, A: 22,60 EUR.
Thema: Unterkomplexe Deutungskämpfe um eine komplexe Wirklichkeit
Im Zentrum der Monografie von Andreas Anton und Alan Schink steht die hochaktuelle Diskussion um den angemessenen gesellschaftlichen Umgang mit so genannten Verschwörungstheorien und ihren Anhänger*innen. Dabei setzen sich die Autoren kritisch sowohl mit einer Vielzahl an Verschwörungstheorien auseinander, betrachten aber vor allem auch deren – ihrer Auffassung zufolge – unterkomplexe Würdigung im öffentlichen Diskurs kritisch.
Aus einer wissenssoziologischen Perspektive rekonstruieren Anton und Schink nicht nur das fragile Verhältnis von Verschwörungstheorie und realen Verschwörungen, sondern auch die politisch und weltanschaulich instrumentalisierbaren Zuschreibungen von ‚Verschwörungsdenken‘ bzw. den stigmatisierenden und exkludierenden Status des ‚Verschwörungstheoretikers/der Verschwörungstheoretikerin‘ in Politik und Medien.
Deutlich setzen sich die Autoren von einer ihrer Meinung nach einseitigen und pauschalisierenden Ausgrenzungs- und Abwertungsrhetorik gegenüber dem Themenfeld und seinen Vertreter*innen ab, wie es in der gegenwärtigen Literatur zur Verschwörungstheorie etwa bei Pia Lamberty und Michael Butter vorherrscht. Mithin liegt hier ein Diskussionsbeitrag vor, der klar für eine differenziertere und offenere Debatte zum Thema plädiert und an die Bedeutung eines kritischen Mediendiskurses für die demokratische Gesellschaft erinnert.
Autoren
Andreas Anton ist ein Freiburger Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene e.V. Seine Forschungsschwerpunkte liegen neben dem Thema des hier besprochenen Buches vor allem auf dem Gebiet der Exosoziologie, d.h. der gesellschaftswissenschaftlichen Erkundung der Bedeutung der Suche nach außerirdischem Leben.
Der Soziologe Alan Schink hat im Jahr 2020 zum Thema Verschwörungstheorie promoviert und seine Dissertationsschrift im Springer-Verlag dazu vorgelegt. Er arbeitet als Lehrbeauftragter an einer Salzburger Privatuniversität und ist als Achtsamkeits- und Stressreduktionstrainer tätig.
Entstehungshintergrund
Die Entstehung des Buches dürfte sowohl auf der Dissertation von Alan Schink (2020) wie auch Vorarbeiten von Andreas Anton im Rahmen des von ihm 2014 mit herausgegebenen Sammelbandes „Konspiration – Soziologie des Verschwörungsdenkens“, der seinerzeit von Alan Schink in Barbara Budrichs soziologiemagazin positiv besprochen wurde, zurückgehen. Anders als viele der heute zum Thema meinungsführend wahrgenommene Autor*innen aus dem Spektrum der positivistischen ‚Skeptikerbewegung/GWUP‘ bzw. aus der Extremismusforschung, legt der – wenn man so will – ‚Freiburger Ansatz der Verschwörungssoziologie‘ sein Augenmerk auf die Funktion des Themas für die Konstitution gesellschaftlicher Wirklichkeit und für die machtbezogene Verfestigung geltenden Wissens. Dabei wurde im Sammelband ‚Konspiration‘ von 2014 durch Michael Schetsche et al. noch explizit auf die Unterscheidung Michel Foucaults zwischen orthodoxem und heterodoxem Wirklichkeitswissen und der Relevanz von Wächterinstitutionen im Sinne des Erhalts der orthodoxen Wissensordnung Bezug genommen. Dieser theoretische Kontext fehlt im hier besprochenen Band; stattdessen werden hier stärker medientheoretische Konzepte (Framing, Filterblasen etc.) zur Analyse des Umgangs mit Verschwörungsdenken herangezogen.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in elf Kapitel. Im Anschluss an die (schwierige) Eingrenzung des Begriffes der Verschwörungstheorie wird die Geschichte des Verschwörungsdenkens knapp als ‚historische Konstante‘ seit der Antike skizziert. In sechs Kapiteln werden unterschiedliche Felder bzw. Typen von Verschwörungen sowie zugehörige Theorien rekonstruiert. Skizziert werden dabei mittlerweile klassische Ereignisse, wie die Ermordung J. F. Kennedys, die UFO-Erzählungen in den USA seit Ende des zweiten Weltkriegs, Geheimbünde der Freimaurerei und geheimdienstlich gesteuerte ‚Stay behind Armeen‘ (wie Gladio), die Verschwörungstheorien zum Einsturz des Word Trade Centers 2001, zur vorgeblichen Gedanken- und Wettermanipulation durch das amerikanische HAARP-Projekt, die Chemtrails-Erzählungen und schließlich das populäre ‚Leitfossil‘ der auf Verschwörungsdenken bezogenen medialen Abwertungsstrategien – die ‚Reptiloiden-Verschwörung‘ von David Icke und ihre Seitenlinien. Auf Seite 201 kommen die Autoren mit den Verschwörungstheorien um die Covid-19-Pandemie schließlich in der Gegenwart an und widmen sich in den abschließenden drei Kapiteln der Rolle von ‚alternativen‘ und Mainstreammedien, der Skeptikerorganisationen sowie einem Ausblick auf eine offenere bzw. differenziertere Umgangsweise mit Verschwörungsdenken und seinen Vertreter*innen.
Inhalt
Der Problemaufriss (S. 10 ff.) erfolgt über die Kritik an einer – nach Auffassung der Autoren – zu einseitigen und verengt geführten Rahmung des Topos „Verschwörungstheorie“ im Bedeutungsfeld von Extremismus, extremistischer Ideologie und Demokratiegefährdung durch die gegenwärtig vorherrschende Forschung und Presseberichterstattung dazu. Insbesondere der während der Textentstehung wechselnde Erkenntnisstand zum Ursprung der Covid-19 Pandemie (Laborthese) zeigte, wie schnell Theorien aus dem Kontext von „Verschwörungstheorie“ in offizielle Deutungen übergehen können.
In ihrer Begriffsanalyse zur Verschwörungstheorie zeigen die Autoren, dass hier insbesondere das ideologiekritische bzw. anti-idealistische Konzept von „Welt-Verschwörungen“ nach Karl Popper nur wenig zum Verständnis vieler heute virulenter Formen beiträgt(S. 27). Ebenso kritisch setzen sich die Autoren von einer psychopathologisierenden Lesart des Verschwörungsdenkens nach Richard Hofstadter (1964) ab, weil auch er den gesellschaftlichen Wahrnehmungskorridor des Phänomens in negativ-ausgrenzender Hinsicht verengt. Umso erstaunlicher erscheint es daher, dass die Autoren den, in Ihrer Hofstadter-Rezeption kritisierten Topos „paranoider Denkstil“ (S. 28 f.) am Ende ihres Werkes gar gesellschaftsanalytisch gebrauchen („Willkommen in der Paranoiagesellschaft!“, S. 268) ausweiten. Hier hätte der Begriff „Misstrauensgesellschaft“ eventuell versachlichend und weniger spektakulär gewirkt.
In ihrer eigenen Typologie von Verschwörungstheorie rekurrieren die Autoren auf die Differenz zwischen faktischer Realität von Sachverhalten und deren selektiver Einbindung in die Konstruktion sozialer Wirklichkeit. (S. 43). Folgerichtig können Verschwörungstheorien in eine Matrix mit den Dimensionen von „faktisch richtig/​faktisch falsch“ und „sozial anerkannt/​nicht anerkannt“ eingeordnet werden (S. 45). Diese Systematik kann nicht nur im historischen Kontext zur Diagnose des Überganges von einzelnen Sachverhalten zwischen den vier Feldern genutzt werden, sondern sie weist auch auf die zentrale Bedeutung des Faktors gesellschaftliche Anerkennung für die Geltung bzw. für die ‚handlungsleitende Wirkmächtigkeit‘ einer Verschwörungstheorie hin. Während sachlich falsche militärstrategische Propagandaaussagen zum vorgeblichen Besitz von Massenvernichtungswaffen im Irak aufgrund ihrer wirkmächtigen Vertreter „sozial anerkannt“ wurden, wurde eine solche Anerkennung den sachlich korrekten Hinweisen von Edward Snowden über die Massenspionage durch den NSA-Geheimdienst zunächst verwehrt. Gesellschaftlich vergleichsweise unstrittig dürfte die Einordnung von Theorien über „Chemtrails“ oder das „HAARP-Projekt“ sein, deren Grundlagen weder als faktisch zutreffend noch als hinreichend sozial anerkannt zu bewerten sind.
Als Ursache von Verschwörungsdenken machen die Autoren das grundsätzliche menschliche Bedürfnis aus, im Hintergrund unverbundener gesellschaftlicher Ereignisse eine ordnende Struktur oder Macht erkennen zu müssen. Daneben spielt hier auch die Aufdeckung realer Verschwörungen (politischer Komplotte, Kartelle und Affären) und dadurch mitbegründetes Misstrauen gegenüber intransparenten mächtigen gesellschaftlichen Akteuren und Prozessen eine zentrale Rolle. Mithin können Verschwörungstheorien nicht nur zur Zerstörung von Vertrauen in etablierte gesellschaftliche Strukturen beitragen, sondern auch eine aufklärerische Kontrollfunktion in demokratischen Gemeinwesen ausüben. Sie tun dies, indem sie die Denkmöglichkeit von gesellschaftlich negativer „Verschwörung“ im Diskurs erhalten und somit politische Aufmerksamkeit auf intransparente Entscheidungsprozesse in demokratisch nicht legitimierten Machtagglomerationen lenken (S. 57).
Von diesem Ansatz einer grundsätzlich ambivalenten Bedeutung von Verschwörungstheorie – als einerseits irrationales Ideologieelement in extremistischen Weltanschauungen (etwa der Funktion einer „jüdischen Weltverschwörung“ im Rechtsextremismus) und als andererseits aufklärerisches Element bei der Aufdeckung demokratiefeindlicher Machtstrukturen in politischen Herrschaftssystemen (etwa bei Edward Snowdens und Julian Assanges Recherchen über Geheimdienstoperationen der USA) – gehen die Analysen zu ausgewählten Verschwörungserzählungen im Hauptteil des Buches aus.
Dabei kommen die Autoren bei vielen Themen zu überaus differenzierten Einschätzungen des Verhältnisses von faktischer Realität und sozialer Anerkennung von Verschwörungstheorien ohne dabei die sozialwissenschaftlich gebotene Neutralitätsperspektive in normativer Absicht zu verlassen. Dabei gelingt es ihnen, die vielfältigen Interdependenzen von faktisch zutreffenden und mittlerweile auch sozial anerkannten Verschwörungen aufzuzeigen. Das betrifft etwa die vom Historiker Daniele Ganser aufgedeckten ‚Stay Behind Armeen‘, den Türkischen ‚Deep-State‘, False Flag Aktionen von Geheimdiensten im „Kalten Krieg“. Vor diesem Hintergrund ist die Plausibilität gegenwärtige Verschwörungsannahmen – etwa zum Hintergrund der Ereignisse von „9/11“ in den USA bei ihren Anhänger*innen als durchaus nachvollziehbar anzusehen.
Ohne an dieser Stelle vertiefend auf die Vielzahl diskutierter Verschwörungstheorien eingehen zu können, ist festzustellen, dass die Autoren durchgängig auf das Spannungsverhältnis gesellschaftlicher Legitimation bzw. Delegitimation von Verschwörungserzählungen aufmerksam machen, das von machtpolitischen Interessen stets (mit)bestimmt wird. Von Anbeginn erscheinen sowohl die Verbreitung von Verschwörungstheorien als auch deren Bekämpfung als eine Arena und Strategie von Propaganda. Mit anderen Worten: je umfassender und anerkannter eine Verschwörungserzählung, umso wahrscheinlicher ist deren Funktionalisierung im Rahmen eines international geführten Informationskrieges, bei dem außerstaatliche wie nationalstaatliche Interessengruppen jeweils eigene Interessen nach Destabilisierung gegnerischer wie Stabilisierung eigener Gesellschaftsstrukturen durchzusetzen versuchen. Ein aktuelles Beispiel wäre die Berichterstattung von RT Russia, die in Russland ‚Pro Corona-Impfung‘ aber in Deutschland eher im Sinne verschwörungstheoretischer Impfskepsis verläuft.
Daneben – und damit keineswegs unverbunden – sind die Indienstnahmen des Verschwörungsdenkens durch politisch und/oder religiöse Extremistengruppen zu verstehen, die wiederum ihrerseits zugleich als verdeckte Parteigänger (Partisanen) außerstaatlicher Akteure fungieren können.
Auf der anderen Seite ist jedoch neben der manipulativen und destruierend-verbergenden Wirkung von Verschwörungserzählungen zugleich deren aufklärerisches Potenzial im Hinblick auf die Aufdeckung realer Verschwörungssachverhalte präsent. Ohne die Zulassung des Zweifels an „offiziellen Versionen“ zur Erklärung weltgeschichtlicher Ereignisse dürfte die Geschichtsforschung beispielsweise eine wichtige Quelle für künftige Forschungsfragen an ihre Materialien und Archive verlieren.
Aufgrund der bisweilen engen Verbindungen zwischen ‚Information-Warfare‘ und der Lancierung und Verbreitung von Verschwörungstheorien im Kontext asymmetrischer Kriegsführung im 21. Jahrhundert kommt der Sphäre der Massenmedien eine entscheidende Rolle für das Zustandekommen bzw. die Verweigerung sozialer Anerkennung von Verschwörungstheorien zu. Daher widmen sich die Autoren in etwa einem Drittel ihres Buches (ab S. 209) diesen komplexen Zusammenhängen unter den Bedingungen zunehmender Konkurrenz von ‚offiziellen‘ und ‚alternativen‘ Medienangeboten im Internet. Dabei wird unter anderem die Rolle von „Faktenchecks“, Filterblasen und ‚unabhängigen‘ Medienkanälen wie „KenFM“ im Zusammenhang mit der „Infodemie“ in Begleitung der Corona-Krise ab 2020 kritisch diskutiert.
Eine selektive Informationsrezeption wird hierbei allen Diskursbeteiligten attestiert und in staatlichen wie privatwirtschschaftlichen Zensurbemühungen gegen die Verbreitung unzutreffender Informationen ein Katalysator für neues Verschwörungsdenken gesehen: „Es scheint uns naheliegend, dass sich dieses zunehmende Misstrauen staatlicher Institutionen, aber auch privater Unternehmen gegenüber der freien Zirkulation von Informationen im Internet letztlich in einer Zunahme von Verschwörungstheorien in den jeweiligen Gesellschaften widerspiegeln wird.“ (S. 226). Diese Feststellung darf gern als Aktualisierung des bekannten Böckenförde-Diktums gelesen werden, nach dem der freiheitliche Staat nicht in der Lage ist, seine eigene Voraussetzung – eine aufgeklärt-liberale Werthaltung seiner Bürgerinnen und Bürger – mit autoritativen Mitteln (wie der Zensur ‚unerwünschten‘ Denkens) durchzusetzen, ohne damit gegen seine eigenen liberalen Prinzipien zu verstoßen. Mit anderen Worten: Eine kritische Masse an Gesellschaftsmitgliedern, die – aus welchen Gründen immer – den Minimalkonsens freiheitlich-demokratischer Umgangsformen unter ihren Mitbürger*innen aktiv aufkündigt, zwingt staatlichem Handeln autoritativ-repressive und mithin illiberale Formen auf.
Vor diesem Hintergrund sind die kritischen Ausführungen zum Umgang mit Verschwörungstheorien in den Medien zu würdigen, wobei die Autoren hier klar für eine differenzierende Strategie plädieren: Hass und Hetze müssen in Demokratien als solches benannt und marginalisiert werden (S. 271), aber zugleich ist eine pauschalierende Abwertung und Zensur von abweichenden, nichthegemonialen Wirklichkeitsdeutungen zurückzuweisen. „Die Maßnahmen, die vorgeben, vor ‚gefährlichen‘ Inhalten zu schützen, können schnell selbst zu einer Gefahr für das Grundrecht der freien Meinungsäußerung werden.“ (S. 272).
Die Autoren sehen besonders das damit verbundene Menschenbild eines im Grunde unmündigen Konsumenten, dem nur noch durch Staat und Medienkonzerne paternalistisch vorselektierte Inhalte im Internet zugemutet werden könnten als entmündigend und antiaufklärerisch an (ebd.). Vielmehr plädieren Anton und Schink (S. 273 ff.) für ein Konzept „digitaler Mündigkeit“, die sich durch die Kultivierung eines „redaktionellen Selbst“ auf Basis von sieben Prinzipien nach Pörksen auszeichnet:
- Wahrheitsorientierung
- Skepsis
- Verständigungs- und Diskursorientierung
- Relevanz und Proportionalität
- Kritik und Kontrolle
- Prinzip der ethisch-moralischen Abwägung
- Prinzip der Transparenz
Neben diesen Aspekten der Medienkompetenzförderung bei den Rezipienten von Verschwörungswissen dürften auch die Hinweise zur Unterstützung Verschwörungsgläubiger zur Selbstdistanzierung von problematischen Weltbildern (S. 282) für Soziale Arbeit unmittelbar praxisrelevant sein.
Diskussion
In der Darstellung der unterschiedlichen Verschwörungstheorien scheint eine leichte Unausgewogenheit zu Gunsten der Plausibilisierung von eher in linken bzw. in sich selbst als progressiv-menschenrechtlich deutenden Milieus verbreiteten Erzählungen auf. Dies betrifft beispielsweise Theorien zu „Geheimarmeen“, die im Auftrag staatlicher Geheimdienste ihr Personal aus dem rechtsextremen Spektrum rekrutier(t)en, die „Truther-Bewegung“ zum Anschlag auf das World-Trade-Center sowie Ungereimtheiten im Kontext der Aufklärung des NSU-Terrors in Deutschland. Demgegenüber werden beispielsweise antisemitische Verschwörungstheorien aus dem Spektrum rechter Weltanschauungen vergleichsweise weniger ausgeleuchtet. Hier wird vielmehr eine direkte Brücke von den gefälschten „Protokollen der Weisen von Zion“ über den Nationalsozialismus zu den gegenwärtigen Deutungen eines vorgeblich planvollen Bevölkerungsaustausches in Europa gezogen.
Dabei werden einige, im rechten Spektrum relevante Plausibilisierungsstrategien übergangen. Das betrifft vor allem die selektive Rezeption des Werkes „Praktischer Idealismus“ (1925) vom Begründer der antinationalen Paneuropa-Idee Richard Nikoloaus Coudenhove-Kalergi, des Morgenthau-Planes (1944) zur Transformation des besiegten Deutschlands in ein deindustrialisiertes Agrarland sowie jüngst die Ausführungen des Soziologen Yascha Mounk zur Einwanderung: „In Westeuropa läuft ein Experiment, das in der Geschichte der Migration einzigartig ist: Länder, die sich als monoethnische, monokulturelle und monoreligiöse Nationen definiert haben, müssen ihre Identität wandeln. Wir wissen nicht, ob es funktioniert, wir wissen nur, dass es funktionieren muss“ (Spiegel Nr. 40, 2015, S. 126).
Diese, und weitere Elemente, wie beispielsweise die Verschwörungserzählungen um den 1899 gegründeten Männerclub „Bohemian Grove“ in dem sich seither die amerikanischen Eliten vernetzen sowie die seit 1954 jährlich stattfindenden „Bilderberg-Treffen“ zur informellen Vernetzung wirtschaftlicher, künstlerischer und politischer Globaleliten finden sich im Buch von Anton und Schink leider nicht hinreichend breit gewürdigt. Dabei dürften gerade die spätestens den 1980ern kursierenden Erzählungen zu vorgeblich satanischen Orgien im Kontext des Bohemian Grove eine der jüngeren Quellen für die Genese der Qanon-Verschwörungstheorien darstellen. Und die Teilnahme von nachfolgend wirkmächtigen Parlamentariern (auch des Deutschen Bundestages) an den klandestinen Absprachen im demokratisch nicht legitimierten Bilderberg-Kreis sind auch außerhalb aller „Verschwörungs-Szenen“ ein demokratietheoretisch ambivalent diskutiertes Phänomen.
Dieser Hinweis soll keine Kritik an einem – im Buch nicht getätigten und ohnehin uneinlösbaren – Vollständigkeitsanspruch der Autoren sein. Im Hinblick auf das Anliegen der Autoren, die macht- und gesellschaftskritischen Potenziale von Verschwörungsdenken herauszustellen, ist diese Gewichtung nachvollziehbar und konsequent. Das dafür auf der anderen Seite die im Mainstream-Diskurs zur pauschalen Delegitimation allen Verschwörungsdenkens regelmäßig zitierten rechtsextremen bzw. antisemitischen Verschwörungserzählungen vergleichsweise kursorisch abgehandelt werden bzw. in ihrer immanenten Plausibilisierungsstruktur für ideologische Weltanschauungen von den Autoren nicht im selben Maße „ernst genommen“ wurden, wie die zu ihrem Ansatz ‚passenderen‘ Verschwörungserzählungen, ist dennoch etwas schade.
Weiterhin hätte eine vertiefte Auseinandersetzung mit Fragestellungen der ‚Powerstructure-Research‘ der Argumentationslinie des Buches gut getan, die politisch-medialen Strategien der pauschalen Ausgrenzung von Verschwörungsannahmen zur Absicherung von Herrschaftsstrukturen kritisch zu hinterfragen. Denn ein kritisch-reflexiver Umgang mit alternativen Erklärungsansätzen für uneindeutige oder hinterfragbare Ereignisse und intransparente Macht- und Entscheidungsstrukturen in unserer komplexen Gesellschaft dürfte sich in Zukunft als Prüfstein für deren Liberalität erweisen. Eine Grundhaltung der Ambiguitätstoleranz gegenüber nichthegemonialen bzw. heterodoxen Weltsichten sollte in einer Gesellschaft, die sich in Fragen ethnokultureller und sexueller Identitäten als offen, pluralistisch und divers versteht in allen Bereichen selbstverständlich sein, in denen diese ‚abweichenden‘ Weltsichten nicht die Substanz des freiheitlichen und demokratischen Zusammenlebens gefährden.
Anstatt von Verschwörungstheorie oder Verschwörungsdenken sollte man künftig vielleicht präziser von einer aufgeklärten, die Denkmöglichkeit von Verschwörungshandlungen und strategischer öffentlicher Kommunikation antizipierenden Grundhaltung sprechen, die klar im Spektrum einer mündigen, politisch wachsam-interessierten und letztlich liberalen Bürgerlichkeit zu verorten wäre.
Fazit
In Ihrem Buch „Der Kampf um die Wahrheit“ liefern die Soziologen Andreas Anton und Alan Schink nicht nur einen aktuellen und überaus gut lesbaren Reader zum Thema ‚Verschwörungstheorie‘, sondern zugleich ein für die sozialarbeiterische Beratungsarbeit überaus relevanten Beitrag zum Thema Medienkompetenz und Umgang mit heterodoxen Weltanschauungen. Das gesellschaftspolitische Plädoyer der Autoren für einen vorsichtigen und differenzierenden Umgang im Hinblick auf eine leichtfertige Zuschreibung von ‚Verschwörungsdenken‘ und der pauschalen Stigmatisierung seiner Anhänger*innen dürfte der heute stark ideologiekritisch geführten Diskussion zu dem Themenfeld neue und bedenkenswerte Argumente zuführen. „Da (…) reale Verschwörungen eine erhebliche Bedrohung für die Demokratie darstellen, sind Verschwörungstheorien (…) nicht nur eine Herausforderung, sondern auf der anderen Seite auch ein legitimer und sogar wichtiger Bestandteil offener Gesellschaften.“ Im Umgang damit fordern die Autoren eine Rückbesinnung auf die Leitwerte pluralistisch-offener Gesellschaften ein: Toleranz, Verständigungsorientierung, Transparenz und das Vertrauen auf die Mündigkeit und das Urteilsvermögen der Bürgerinnen und Bürger (S. 287). Es bleibt sehr zu hoffen, dass dieser Appell in der Flut polarisierend-radikalisierender Lagerbildungsprozesse in unserer Gesellschaft im Kontext der aktuellen pandemischen Krise nicht ungehört verhallen möge.
Literatur
Anton, Andreas; Schetsche, Michael u. Walter, Michael K. (Hrsg.) (2014): Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens. Wiesbaden: Springer VS. Böckenförde
Ernst-Wolfgang (1967): Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: Karl Doehring (Hrsg.): Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag. Stuttgart: Kohlhammer, S. 75–94
Butter, Michael (2021): “Verschwörungstheorien: Eine Einführung.” Aus Politik und Zeitgeschichte 71.35–36 (2021): 4–11. Print
Coudenhove-Kalergi, Richard Nikolaus (1925): Praktischer Idealismus. Adel – Technik – Pazifismus. Wien/Leipzig: Paneuropaverlag
Ganser, Daniele (2005): NATO's secret armies: Operation Gladio and terrorism in Western Europe. London (u.a.): Cass
Gensing, Patrick (2021): Russland und das Impfen. Widersprüchliche Propaganda. in: Tagesschau online. URL: https://www.tagesschau.de/faktenfinder/​russland-staatssender-impfungen-101.html, Zugriff: 10.01.2022
Lamberty, Pia (2020): Verschwörungsmythen als Radikalisierungsbeschleuniger: eine psychologische Betrachung. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin
Mounk, Yascha (2015): „Einzigartiges Experiment“ (Interview). In: Der Spiegel. Nr. 40, 2015, S. 126. (online nicht mehr verfügbar)
Popper, Karl Raimund (1980): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (6. Aufl.). Tübingen: Francke
Schink, Alan (2020): Verschwörungstheorie und Konspiration: Ethnographische Untersuchungen zur Konspirationskultur. Wiesbaden: Springer Fachmedien
Schink, A. (2014). Rezension zu „Anton/​Schetsche/​Walter (Hrsg.): Konspiration„: Soziologie des Verschwörungsdenkens. [Rezension des Buches Konspiration: Soziologie des Verschwörungsdenkens, hrsg. Von A. Anton, M. Schetsche, & M. K. Walter]. Soziologiemagazin: publizieren statt archivieren, 7(1), 87–94. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-431890
Schmitt, Carl (2017): Theorie des Partisanen: Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen (8. u. korr. Aufl.). Berlin: Duncker & Humblot.
Rezension von
Prof. Dr. René Gründer
Duale Hochschule Baden-Württemberg Heidenheim, Fachbereich Sozialwesen. Homepage: https://www.heidenheim.dhbw.de/dhbw-heidenheim/ansprechpersonen/prof-dr-rene-gruender
Website
Mailformular
Es gibt 15 Rezensionen von René Gründer.
Zitiervorschlag
René Gründer. Rezension vom 17.01.2022 zu:
Andreas Anton, Alan Schink: Der Kampf um die Wahrheit. Verschwörungstheorien zwischen Fake, Fiktion und Fakten. Komplett-Media GmbH
(München) 2021.
ISBN 978-3-8312-0584-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28876.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.