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Bernd Heyl: Namibische Gedenk- und Erinnerungsorte

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 19.10.2021

Cover Bernd Heyl: Namibische Gedenk- und Erinnerungsorte ISBN 978-3-95558-306-4

Bernd Heyl: Namibische Gedenk- und Erinnerungsorte. Postkolonialer Reisebegleiter in die deutsche Kolonialgeschichte. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2021. 284 Seiten. ISBN 978-3-95558-306-4. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.

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Was sucht der Reisende?

Diese Frage stellte der französische Naturforscher und Philosoph Jacques Brosse (1922 – 2008), indem er in seinem Werk darüber Ausschau hielt, was den homo touristicus bewegt, reisend über den eigenen Gartenzaun zu schauen. Es sind Ereignisse, die Menschen immer schon veranlassten, zu reisen und darüber zu berichten: Die Odyssee, das Gilgameschepos, den Weg nach Indien, nach den Amazona, ins All bis hin zur virtuellen Reiseliteratur – meist ist Reisen weniger Abenteuer als vielmehr Suche nach etwas: Nach dem Heiligen Gral, nach Glück, Wohlbefinden, Erkenntnis, Abwechslung … (Jacques Brosse, Was sucht der Reisende? In: UNESCO-Kurier 4/1987, S. 4ff). Es sind die historischen Gestalten, wie z.B. der bekannteste arabische Reisende Ibn Battuta (1304 – 1368), der französische Schriftsteller Charles Baudelaire (1821 – 1867), der erkannte, dass die wahren Reisenden jene wären, die um des Reisens willen reisten; merkwürdig auch jene, die ihre Reiseziele auswählen, um einen Eintrag in das Guinness-Buch der Rekorde zu erlangen; tragisch und gefährlich auch diejenigen, die als illegale Flüchtlinge unterwegs sind (Gattii Fabrizio, Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa,2009, www.socialnet.de/rezensionen/9328.php).

Entstehungshintergrund und Autor

Die Welttourismusorganisation (WTO) der Vereinten Nationen hat errechnet, dass aktuell weltweit mehr als 1,6 Mrd. Menschen als Touristen unterwegs sind. Es wird darauf hingewiesen, dass die Folgen und Wirkungen des Tourismus sowohl positiv, als auch negativ sein können: Positiv, weil kulturelle und interkulturelle Begegnungen ein besseres Kennenlernen der Menschen ermöglichen, als auch ökonomische Entwicklung bieten; negativ freilich auch, weil sich Vorurteile bilden und sogar festigen können. Die florentinische Psychiaterin Graziella Magherini hat herausgefunden, dass touristische Eindrücke Stereotypen verstärken können. Sie nennt dieses Phänomen „Stendal-Syndrom“ und weist darauf hin: „Die längste Reise ist und bleibt die Reise im Kopf“ (Roi Malkin, Wegbereiter des modernen Tourismus, in: UNESCO-Kurier 7-8/1999, S. 20f).

Der Pädagoge und Historiker Bernd Heyl mischt sich kulturell und politisch ein in die vielfältigen, differenzierten lokalen und globalen Entwicklungen. Mit dem Stichwort – „Erinnerung ist Ich- und Weltanschauung“ – hat er sich z.B. mit intellektuellen Vermächtnissen auseinandergesetzt (Bernd Heyl, u.a., Hrsg., Ernest Jouhy – Zur Aktualisierung eines leidenschaftlichen Pädagogen, 2017). Er legt einen Reisebegleiter vor, mit dem er das Motto aufgreift: „Man sieht nur, was man weiß“. Diese goethesche Erkenntnis wird auch herangezogen, wenn es darum geht, Ereignisse, Betrachtungen und Begegnungen bei touristischen Unternehmungen möglichst objektiv, realistisch, wissend anzuschauen. Es sind Gedenk- und Erinnerungsorte, in denen Geschichte in den vielfältigen Facetten bewusst gemacht wird (Annette Eberle, Pädagogik und Gedenkkultur, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/7630.php). Die intellektuelle Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte beginnt gerade erst. Es sind nicht nur Fragen zum kolonialen und gewaltsamen Erwerb von Kulturgütern – und Forderungen nach Restitution – sondern auch Auseinandersetzungen darüber, wie die deutschen (und europäischen) Kolonialherren mit den unterdrückten Völkern in den ehemaligen Kolonialgebieten umgegangen sind. Berichte darüber finden wir darüber nicht nur in der immerhin mittlerweile sich entwickelnden literarischen und wissenschaftlichen Analysen und Erzählungen, sondern auch „vor Ort“ – in Namibia, dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika. Namibia als Reiseland besuchen mittlerweile rund 1,5 Millionen Touristen, davon ca. 150.000 aus Deutschland. Sie halten sich bei organisierten oder individuell geplanten Reisen durchschnittlich 18 bis 19 Tage im Land auf. Es sind Rundreisen, Erlebnistouren, Landschafts- und Wildtiererkundungen, die neue Eindrücke und Erfahrungen vermitteln wollen. Viel seltener werden dabei geschichtliche und politische Entwicklungen angesprochen. Dem will Bernd Heyl mit seinem postkolonialen Reisebegleiter abhelfen.

Aufbau und Inhalt

Das Handbuch nimmt Fragen auf wie: „Wohin geht die Reise?“, und beantwortet sie mit „Als ihr kamt, waren wir schon da…“, nämlich aus der Sicht der Namibier während der Kolonialzeit. Es werden Informationen und Reflexion über die deutschen (und europäischen) Motive angestellt, „ein junges Deutschland (zu) gründen“. Diese kurze Kolonialgeschichte vermittelt nachdenkenswerte und wichtige Argumente (siehe dazu auch: Wolfgang Reinhard, Kleine Geschichte des Kolonialismus, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/6390.php). Die Referentin Helga Roth von der Bildungsgesellschaft lea der GEW/Hessen vermittelt mit ihrem Beitrag „Das Bild vom Anderen oder: The Colonising Camera“ Informationen über die staatlich verordneten, manipulativ gemachten Ansichten der Kolonialisten über die Kolonisierten. Heyls weiterer Text „Mühselig und beladen das Heil suchen…“ setzt sich auseinander mit der Arbeit und Praxis der Missionierung durch die Rheinische Mission. Weiterhin wird mit dem Slogan „Kolonisieren heißt transportieren“ der Bau, Ausbau und Praxis des Schienennetzes dargestellt, darauf hinweisend, dass auch heute noch unkritisch die Eisenbahn als „zivilisatorische Tat der europäischen Kolonisatoren glorifiziert“ wird, verschweigend, dass die Bahnlinien in erster Linie dazu dienten, die unruhigen, widerständigen Kräfte und Freiheitsbewegungen der einheimischen Völker durch militärische Macht und Kontrolle zu unterdrücken. Im Hauptteil des Reisebegleiters werden Erinnerungsorte vorgestellt, die Touristen bei ihren Rundreisen durch Namibia passieren. Es sind Städte wie die Hauptstadt Windhoek, in der „schmucke Kolonialgebäude“ und „architektonische Reminiszenzen aus der Kolonialzeit“ zu besichtigen sind, aber zahlreiche Stätten, wie etwa die „Kaiserliche Landvermessung“, die „Alte Feste“, das „Reiterdenkmal“, der „Tintenpalast“, Straßennamen …, eher unbeachtet und geschichtsverleugnend stehen; die Bauten der „Rehobother Baster; Gibeon und die Massaker der deutschen Kolonialisten; das Schloss Duwisib; die Missionsstation Keetmanshoop; das Siedlungsgebiet Warmbad; Bethanien; Lüderitz; Swakopmund; Otjimbingwe; Omaruru; Namutoni; der Etosha-Park; der Otjikotosee; Tsumeb; Grootfontein; der „Caprivi-Zipfel“; der Waterberg; Okahandja.

Diskussion

Als Bernd Heyl und Helga Roth im März 2021 erneut gezielt die verschiedenen vergessenen, in der nationalen und internationalen Erinnerung eher vernachlässigten kolonialen Orte aufsuchten, spürten sie einen „Wind of Change“. Das Selbstbewusstsein der Namibier wächst, die Suche nach den kulturellen Wurzeln intensiviert sich. Der Bau eines National- und Kunstmuseums verdeutlicht, dass die Afrikaner/​innen die kolonialen und neokolonialen Abhängigkeiten und Dominanzen abschütteln wollen. Die bilateralen Verhandlungen zwischen Namibia und Deutschland zu Fragen nach kolonialer Schuld, Entschuldigung, Entschädigung und Restitution zeigen und fordern auf zu „Antirassismus, solidarischem Erinnern und eine auf das Verstehen des Anderen zielende nachhaltige Gedenk- und Erinnerungskultur“. Es gilt bei der Frage, wie wir geworden sind, was und wie wir sind, sich der historischen Verantwortung bewusst zu sein und diese für die gegenwärtig und zukünftig Lebenden zu erhalten (vgl. dazu auch: Jos Schnurer, Wie die Deutschen zu den Fremden kamen. Aspekte der Freire-Pädagogik, Nr. 18/2002, Paulo Freire Verlag, Oldenburg).

Fazit

Eine echte, ehrliche und verständige Erinnerungskultur darf sich nicht gerieren in: „Wir Lebenden waren ja nicht beteiligt an den kolonialen Unterdrückungs- und Gräueltaten“; vielmehr kommt es darauf an zu begreifen, dass „Wissen um und Verständnis von historischen Vorgängen sowie das Gefühl der Betroffenheit“ wachgehalten werden muss. Der postkoloniale Reisebegleiter „Namibische Gedenk- und Erinnerungsorte“ ist ein handhabbares Handbuch für alle, die reisen – ob nach Namibia, oder anderswo hin! Im angehängten Glossar definiert der Autor Begrifflichkeiten und Stichworte. Das Literaturverzeichnis verweist auf weiterführende und ergänzende Literatur.

Dr. Jos Schnurer

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1672 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 19.10.2021 zu: Bernd Heyl: Namibische Gedenk- und Erinnerungsorte. Postkolonialer Reisebegleiter in die deutsche Kolonialgeschichte. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2021. ISBN 978-3-95558-306-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28885.php, Datum des Zugriffs 08.11.2024.


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