Stefan Bollinger, Reiner Zilkenat (Hrsg.): Zweimal Deutschland
Rezensiert von Hendrik Küpper, 04.03.2022

Stefan Bollinger, Reiner Zilkenat (Hrsg.): Zweimal Deutschland. Soziale Politik in zwei deutschen Staaten - Herausforderungen, Gemeinsamkeiten, getrennte Wege : Konferenzband zum gleichnamigen öffentlichen Symposium am 4. November 2019 im Kulturgut Berlin-Marzahn.
edition bodoni
(Neuruppin) 2020.
521 Seiten.
ISBN 978-3-947913-08-4.
D: 22,00 EUR,
A: 22,70 EUR,
CH: 20,00 sFr.
Reihe: Zwischen Revolution und Kapitulation - Band 4. .
Thema
Die Publikation vergleicht umfangreich die Entstehung und Entwicklung von BRD und DDR und beleuchtet Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Herausforderungen in der Geschichte, der Gegenwart und Zukunft. Eröffnet wird also eine komparative Perspektive auf zwei Staaten auf deutschem Boden, die besonders die Sozialpolitik in den Fokus rückt.
Herausgeber
Die Herausgeber setzen sich zusammen aus Stefan Bollinger und Reiner Zilkenat. Reiner Zilkenat ist als Historiker und Politikwissenschaftler Vorstandsmitglied des Berlin-Brandenburger Bildungswerks e.V. sowie Mitglied des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Stefan Bollinger ist ebenfalls Politikwissenschaftler und Historiker und darüber hinaus abgewickelter Hochschullehrer, Mitglied der Historischen Kommission beim Parteivorstand der Partei Die Linke, stellvertretender Vorsitzender der Helle Panke e.V. – RLS Berlin sowie Mitglied der Leibniz-Sozietät. Die in dem Band schreibenden Autorinnen und Autoren bilden zudem ein breites Spektrum ab, das sich aus namhaften, kritischen und durch unterschiedliche Sozialisationseinflüsse geprägte Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und Journalismus zusammensetzt.
Entstehungshintergrund
Der Band ist im Anschluss an ein öffentliches Symposium zum Thema „Zweimal Deutschland – Soziale Politik in zwei deutschen Staaten – Herausforderungen, Gemeinsamkeiten, getrennte Wege“ entstanden, das auf Einladung des Berlin-Brandenburger Bildungswerkes e.V., des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung e.V. und der Helle Panke e.V. am 4. November 2019 im KulturGut Berlin-Marzahn stattfand. Ziel des Symposiums war es, im Jubiläums-Doppeljahr deutsch-deutscher Staatengründung 2019/2020 dem Mainstream-Diskurs eine alternative und kritische Auseinandersetzung gegenüberzustellen. Die vorliegende Publikation versammelt die Konferenzbeiträge in sich und enthält darüber hinaus auch Beiträge von weiteren Autor*innen, die für das Anliegen des Symposiums und des Bands gewonnen werden konnten. Die Beiträge des Symposiums wurden zudem auch aufgezeichnet.
Aufbau und Inhalt
Aufbau und Inhalt des Konferenzbands folgen zwei zusammenhängenden Zielen: Einerseits soll „der Bogen vom Kalten Krieg über die Neuformierung der beiden Gesellschaften bis hin zu den neuen Herausforderungen“ (S. 16) entlang wichtiger historischer Knotenpunkte geschlagen werden. Und andererseits liegt dem dabei der Impetus zugrunde, dass diese Auseinandersetzung kritisch erfolgen und dabei den öffentlichen Mainstream mindestens ergänzen, wenn nicht, dann sogar zurechtrücken soll. In anderen Worten geht der Band der Frage nach, wie präzise das Narrativ einer „friedlichen Revolution“ ist und ob die daran immer wieder erinnernden Feiern nicht wichtige Fakten und Perspektiven außen vor lassen.
Hierzu gliedert sich die Publikation nach der Einleitung und einem abgedruckten Grußwort von Dagmar Pohle, die zum Zeitpunkt des Symposiums Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Marzahn war, in fünf Kapitel. Das erste Kapitel widmet sich den Staatsgründungen beider deutscher Staaten und nimmt dabei deren Entwicklungswege in den Blick. Hier wird auch gezeigt und daran erinnert, dass die Spaltung Deutschlands vom Westen ausging. Im zweiten Kapitel wird das sozialistische Ideal mit dem Fokus auf Sozialpolitik vor dem Hintergrund der realen Gegebenheiten und Bedingungen kritisch reflektiert. Klaus Steinitz beginnt seinen Aufsatz daher auch mit der These, dass die „in der 40-jährigen DDR-Entwicklung vorliegenden Erfahrungen beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft und deren Scheitern“ als „unverzichtbare Erkenntnisgrundlagen für die Gestaltung einer lebens- und zukunftsfähigen Alternative zum Kapitalismus angesehen werden“ können. (S. 147) Dem schließt sich ein Kapitel zur sozialen Marktwirtschaft an, in dem Holger Czitrich-Stahl sehr präzise darauf verweist, dass der Begriff in der Ära Adenauer mystifiziert wurde, unterschiedliche politische Kräfte etwas sehr unterschiedliches unter dem Begriff verstanden haben und „heute unter dem Begriff propagiert wird, […] was Erhard und die ‚Freiburger Schule‘ eigentlich wollten.“ (S. 172) Zudem beschäftigt sich Frank Deppe mit der sozialen Marktwirtschaft und dem Sozialstaat im Kontext der Arbeiterbewegung und Thomas Goes beleuchtet die Rolle und Ausrichtung der IG Metall. Während das vierte Kapitel Schwächen und Leistungen der DDR mit denen der BRD vergleicht, schließt der Band mit einer Reflexion des Falls des Realsozialismus. In diesem fünften Kapitel gehen die verschiedenen Autor*innen wie Daniela Dahn und Yana Milev auch auf Chancen und Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft ein. Ebenfalls in dem Band befindet sich darüber hinaus eine Chronik ausgewählter Entscheidungen deutscher Sozialpolitik in den Jahren 1875–2019.
Diskussion
Auch über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sind die Unterschiede zwischen Ost und West politisch noch immer in besonderem Maße relevant und ihre Gründe werden kontrovers diskutiert. Der Band stellt dabei in dreifacher Hinsicht eine Bereicherung des Diskurses dar: Erstens bereichert er den öffentlichen Diskurs um die kritische Perspektive zahlreicher Forschungsgebiete, die ansonsten viel zu wenig berücksichtigt werden. Auch wenn man nicht alle Thesen und Schlüsse des Bandes teilt, so bleibt anzuerkennen, dass es den Autor*innen gelingt, eine faktenbasierte, detailreich recherchierte und schlüssige gesamtdeutsche Geschichte mit sozialpolitischem Fokus jenseits des Mainstreams zu rekonstruieren, die im Jubiläumsjahr wie auch sonst zu kurz kommt. Zweitens werden Erinnerungen und Ereignisse rekonstruiert und beleuchtet, die gerade jüngeren Leser*innen kaum bekannt sein dürften. Und drittens schließlich gelingt es den Herausgeber*innen und Autor*innen in dem Band, durch einen überzeugenden Rückgriff in die Geschichte auch die Gegenwart zu beleuchten und über eine Welt jenseits des Kapitalismus hinaus nachzudenken.
Fazit
Alles in allem rekonstruiert der von Stefan Bollinger und Reiner Zilkenat herausgegebene Band „Zweimal Deutschland. Soziale Politik in zwei deutschen Staaten – Herausforderungen, Gemeinsamkeiten, getrennte Wege“ die gesamtdeutsche Geschichte mit sozialpolitischem Fokus detailreich, mit zahlreichen Fakten belegt und schlüssig und führt damit eine wichtige kritische Perspektive in die ansonsten euphorische Rückschau auf die deutsche Einheit ein. Wer sich ein umfassendes Bild von der Entstehung und Entwicklung von BRD und DDR machen möchte, wird um diesen Band ebenso wenig herumkommen, wie jene, die sich für die nach wie vor bestehenden Unterschiede in Ost und West interessieren. Dabei könnte die Lektüre der Publikation schon allein aus Gründen der Multiperspektivität in der Rückschau auf die deutsche Einheit empfohlen werden, die ohne den Band kaum gegeben wäre.
Rezension von
Hendrik Küpper
M.Ed., Redakteur der Zeitschrift perspektivends – Zeitschrift für Gesellschaftsanalyse und Reformpolitik
Mailformular
Es gibt 1 Rezension von Hendrik Küpper.