Christoph Mattes: Schuldenberatung und Schuldenprävention als Soziale Arbeit
Rezensiert von Dr. Dieter Korczak, 24.01.2022
Christoph Mattes: Schuldenberatung und Schuldenprävention als Soziale Arbeit. Grundwissen und Handlungskonzepte. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2021. 185 Seiten. ISBN 978-3-17-034793-9. 29,00 EUR.
Thema
Seit den 1980er-Jahren ist die Überschuldung von Privathaushalten ein zunehmendes soziales Problem in Deutschland geworden. Die Politik hat darauf 1989 mit der Vergabe des Gutachtens „Überschuldungssituation und Schuldnerberatung in der Bundesrepublik Deutschland“ an die Forschergruppe Korczak&Pfefferkorn reagiert. Ulf Groth hat 1984 den ersten praktischen Leitfaden zur Schuldnerberatung für die Sozialarbeit vorgelegt. Christoph Mattes, Dozent für Soziale Arbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz, hat sich dem Thema aus der heutigen Sicht gewidmet. Sein zentrales Anliegen ist, den genuin sozialarbeiterischen Gehalt von Schuldenberatung zu explorieren. Und dies ist: „Ungleichheit zu bekämpfen und Bedingungen für einen gelingenden Alltag und eine gesellschaftliche Teilhabe zu schaffen.“ (S. 10).
Aufbau
Das Buch ist vor allem für Studierende, Weiterbildungsteilnehmende sowie für in die Beratungsarbeit mit Überschuldeten neu einsteigende Kolleg*innen gedacht. Es hat einen modularen Aufbau.
Nach einer kurzen Einführung zum Angebot an Schuldenberatung in Deutschland, Österreich und der Schweiz und einer ersten Standortbestimmung schließt ein längeres Kapitel zu theoretischen Grundlagen der Verschuldung an. Im Mittelteil wird über Professionalisierung und Beratungsansätze der Schuldenberatung referiert und es werden Hintergründe, Kennzahlen und Befunde zur Schuldenberatung geliefert. Das Buch schließt mit Ausführungen zur Schuldenprävention und zur Erfordernis der Evaluation von Präventionsaktivitäten.
Inhalt
Mattes sieht Schuldenberatung multi-dimensional:
- Sie bekämpft als Antwort auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse negative Folgen der privaten Verschuldung;
- Sie ist dadurch Teil eines gesellschaftlichen Fortschrittskonzeptes;
- Sie erbringt wichtige Dienstleistungen für viele andere Bereiche der Sozialen Arbeit;
- Sie übt eine sozialpolitische Funktion beim Schutz und eine volkswirtschaftliche Funktion bei der Integration von Überschuldeten aus.
Im Kapitel 3 zu den theoretischen Grundlagen der Verschuldung bezieht sich Mattes im Wesentlichen auf Vorarbeiten von Korczak (2001, 2003), in denen die Differenzierung von Verschuldung und Überschuldung herausgearbeitet wurde. Zur Entstehung von Verschuldung und Schuldenberatung verweist Mattes auf das grundlegende Werk von Graeber (2014). Für die Moderne zeichnet er die Entwicklung von der Armenfürsorge über den Konsumentenschutz zur Schuldenberatung nach. Das Kapitel schließt mit seinen Definitionen von Überschuldung und Schuldenberatung: „Schuldenberatung ist ein auf die Bewältigung von Verschuldung ausgerichtetes Hilfsangebot der Sozialen Arbeit, das auf der Grundlage der Lebenslage und den Ressourcen der Betroffenen ausgerichtete Beratungsansätze neben der Erarbeitung von Lösungen auch Schuldenpräventionsangebote, Expert*innenberatung und Dienstleistungen zur Entschuldung anbietet.“ (S. 51).
Zum Thema Professionalisierung der Schuldenberatung stellt Mattes zunächst die Entwicklung des Begriffs ausgehend vom Ganzheitlichkeitskonzept, wie es Groth geprägt hat, dar sowie das Konzept Soziale Schuldnerberatung der AG SBV und die Kriterien guter Schuldenberatung der BAG-SB. Als Fazit formuliert er als Maxime professioneller Schuldenberatung die Befähigung und Förderung verschuldeter Menschen, die Einbeziehung der Betroffenen und die Beeinflussung der politischen Diskussion durch Schuldenberatung.
Strukturell vorgegebene Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens sind für ihn bei der Entstehung von Überschuldung zentraler als individuelle Faktoren. Daraus ergeben sich für ihn die durch Schuldenprävention zu bearbeitenden Risiko- und Schutzfaktoren. Als Fazit konstatiert er: „Die Bedingungen, unter denen Verschuldung entsteht und deren Normgültigkeit der Rückzahlungsverpflichtung durchgesetzt wird, sind nicht zufällig entstanden, sondern wurden politisch in bewussten Entscheidungsprozessen geschaffen.“ (S. 86).
Im Folgekapitel wird ein Überblick über die Größenordnung und Entwicklung ausgewählter Kennzahlen und Befunde zur Verschuldung geliefert, um dann auf verschiedene Beratungsansätze einzugehen. In der Schuldenberatung stelle sich generell das Dilemma von professioneller Prozessgestaltung und angemessenem Einsatz von Expert*innenwissen. Das kann durch systemische Beratung, lösungsorientierte Beratung oder hypnosystemische Beratung aufgelöst werden. Die verschiedenen Ansätze werden gründlich, ausführlich und nachvollziehbar erläutert. Für Mattes handelt es sich bei Schuldenberatung in der Sozialen Arbeit immer „um eine Co-Existenz von Expert*innenberatung und reflexiver Beratung“ (S. 129).
Zahlreiche Untersuchungen haben in der Vergangenheit belegt, dass Schuldenprävention sowohl auf verhaltensorientierte wie verhältnisorientierte Prävention ausgerichtet sein muss. „Die relevanten Handlungsfelder und Adressat*innen beziehen sich auf alle gesellschaftlichen Ebenen und den darin tätigen Akteur*innen und Stakeholdern.“ (S. 154). Handlungsebenen sind Politik, Gemeinwesen, Hilfesystem und Institutionen, Gruppen, Individuen. Handlungsfelder sind politische Einflussnahmen, Sozialraum und Lebenswelt, Peers und Einzelhilfe.
Mattes plädiert dafür, Präventionsmaßnahmen unbedingt einer Wirkungsevaluation anhand der Parametern Input, Output, Outcome und Impact zu unterziehen. Auch wenn die Durchführung von Evaluationen oft schwierig sei, sind sie für ihn dennoch zwingend Bestandteil professioneller Sozialer Arbeit.
Das Buch schließt mit einem kurzen Ausblick auf die zu lösenden Herausforderungen der Schuldenberatung. Dazu gehört die konsequente Umsetzung von Schuldenberatung angesichts neuer oder veränderter Verfahrensabläufe. Die Evaluation der Wirkung sozialarbeiterisch geprägter Beratungsangebote müsse vorangetrieben werden. Es werde auch weiterhin um die fachliche Deutungshoheit in diesem Bereich gehen (Schuldenberatung versus Finanzwirtschaft). „Unklar ist auch, wie die Schuldenberatung sich durch Digitalisierung weiterentwickeln kann.“ (S. 173).
Diskussion
Das Buch ist eine sehr gute, aktualisierte und komprimierte Reflexion der Schuldenberatung aus sozialarbeiterischer Sicht. Es gefällt durch den modularen Aufbau. Wissenschaftliche Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte werden stringent berücksichtigt, wie aus der fast 200 Titel umfassenden Literaturliste hervorgeht. Für das Verständnis wesentliche Daten und Konzepte sind in 18 Abbildungen und 10 Tabellen sehr anschaulich dargestellt. Grundannahmen, Reflexionen, Leitfragen und Fazite werden im Text durch entsprechende Symbole illustriert und strukturieren den Text zusätzlich in hervorragender Weise. Nicht nur der Aufbau und die Darstellung des Buches sind gut, sondern Mattes greift auch nahezu alle wesentlichen Aspekte in diesem thematischen Feld auf und verknüpft theoretische Konzepte mit Anleitungen zu praktischer Beratungsarbeit und Präventionsansätzen. Das Buch ist im besten Sinne ein sehr gelungenes Studienhandbuch.
Aus Sicht des Rezensenten sind jedoch zwei Dinge kritisch anzumerken:
- Als Ergebnis seiner Erörterung der Begriffe Verschuldung und Überschuldung kommt Mattes zu dem Schluss, dass „der Begriff der Überschuldung mehr laientheoretische Relevanz besitzt, als er der professionelle Beratung dienlich ist.“ (S. 38). Er verwendet daher in dem Band die Bezeichnung kritische Verschuldung anstelle von Überschuldung. Der Rezensent hält diese Argumentation angesichts der nationalen und internationalen Diskussion und Verwendung des Begriffs der Überschuldung (over-indebtedness) nicht für überzeugend. Letztlich ist eine kritische Verschuldung im Falle einer Überschuldung, das heißt der Unfähigkeit, Zahlungsforderungen zu begleichen sowie der finanziellen und psycho-sozialen Destabilisierung, immer gegeben.
- Zum Zweiten begründet Mattes nicht die Verwendung der Bezeichnung Schuldenberatung statt Schuldnerberatung, obwohl im deutschen Sprachraum bis heute die Bezeichnung Schuldnerberatung vorherrschend ist. Der zentrale Berufsfachverband heißt in Deutschland seit seiner Gründung Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung e.V. Aus einer persönlichen Information des Autors ist dem Rezensenten bekannt, dass die Bezeichnung Schuldenberatung präferiert wird, da damit unabhängig vom Geschlecht alle Menschen angesprochen werden und der Fokus von dem/der Schuldner*in auf Menschen mit Schulden gelegt wird. Gerade da der Band als Studienbuch angelegt ist, hätte die Diskussion der Begriffsverwendung aufgenommen werden sollen.
Fazit
Warum wird Schuldenberatung als Soziale Arbeit betrachtet? Mattes beantwortet diese Frage wie folgt: „Schuldenberatung zeichnet sich heute als sozialpolitisch geprägtes Handlungsfeld aus, in dem Sozialarbeitende strukturell, präventiv und einzelfallbezogen tätig sind und sich trotz thematischer Unschärfen der Profession Soziale Arbeit verpflichtet sehen.“ (S. 172). In seiner Publikation behandelt er das aktuelle Arbeitsfeld der Schuldenberatung thematisch und didaktisch gut strukturiert und aufbereitet. Es werden sowohl theoretische Konzepte und quantitative Daten von Ver- und Überschuldung als auch Beratungs- und Präventionsansätze vorgestellt. Das Buch ist daher für Lehre und Selbst- bzw. Weiterbildungsstudium gleichermaßen sehr gut geeignet.
Rezension von
Dr. Dieter Korczak
Soziologe, Präsident des European Consumer Debt Network, Mitglied der Financial Services User Group der Europäischen Union
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Es gibt 18 Rezensionen von Dieter Korczak.
Zitiervorschlag
Dieter Korczak. Rezension vom 24.01.2022 zu:
Christoph Mattes: Schuldenberatung und Schuldenprävention als Soziale Arbeit. Grundwissen und Handlungskonzepte. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2021.
ISBN 978-3-17-034793-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28902.php, Datum des Zugriffs 10.11.2024.
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