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Judith Conrads: Das Geschlecht bin ich

Rezensiert von Anne Rauber, 10.12.2021

Cover Judith Conrads: Das Geschlecht bin ich ISBN 978-3-658-30890-2

Judith Conrads: Das Geschlecht bin ich. Vergeschlechtlichte Subjektwerdung Jugendlicher. Springer VS (Wiesbaden) 2020. 258 Seiten. ISBN 978-3-658-30890-2. D: 44,99 EUR, A: 46,25 EUR, CH: 50,00 sFr.
Reihe: Geschlecht & Gesellschaft - Band 76.

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Thema

Wie ist es möglich, dass eine zunehmende Akzeptanz geschlechtlicher und sexueller Vielfalt zu beobachten ist, die beispielsweise auch anhand gesetzlicher Neuerungen wie den im Jahr 2018 eingeführten Geschlechtseintrag divers im Personenstandregister auszumachen ist, oder von einer vermeintlichen Gleichheitsnorm der Geschlechter ausgegangen wird, die Frauen in Führungspositionen oder Väter in Elternzeit als Beispiele einer Abkehr von hierarchischen Geschlechterverhältnissen vermuten lassen – und gleichzeitig strukturelle geschlechtsbasierte Ungleichheiten wie der Gender Pay- und Gender Care-Gap oder die machtvolle Einteilung in die heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit als anhaltend und nahezu unverändert betrachtet werden können? Und wie gestalten und bewältigen speziell junge Menschen diese Ambivalenz, Paradoxie, Widersprüchlichkeit im Spannungsfeld Geschlecht und Gesellschaft, wo doch genau die Jugendphase prädestiniert für das „Ausloten von Potenzialen und die Entwicklung von individuellen Lebens- und Selbstentwürfen“ (S. 3) ist? Diese Fragen stellen den Ausgangspunkt der vorliegenden Publikation „Das Geschlecht bin ich. Vergeschlechtlichte Subjektwerdung Jugendlicher“ von Judith Conrads dar. Anhand von Gruppendiskussionen mit Jugendlichen fragt die Autorin, wie und unter welchen Bedingungen junge Menschen zu vergeschlechtlichten Subjekten geformt werden und unter welchen Bedingungen sie sich selbst zu vergeschlechtlichten Subjekten formen. Für die Suche nach Antworten dieser Forschungsfragen nimmt Conrads eine empirisch-dekonstruktivistische Forschungsperspektive ein und leistet damit einen Beitrag zu dem relativ jungen Forschungsfeld der empirischen Subjektivierungsforschung.

Autorin

Die Autorin ist Professorin für Soziologie an der katho – Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Münster mit u.a. den Forschungsschwerpunkten Geschlechter- und Jugendsoziologie, Subjektivierungsforschung sowie postkoloniale und intersektionale Perspektiven.

Entstehungshintergrund

Es handelt sich bei dieser Publikation um die an der Ruhr-Universität-Bochum angenommene Dissertationsschrift.

Aufbau und Inhalt

Die Publikation ist in insgesamt 6 Kapitel aufgeteilt und umfasst 258 Seiten. Nach der Einleitung (Kap. 1), die das Erkenntnisinteresse, die theoretische Verortung und Fragestellung sowie den empirischen Kontext des Geschlechtertauschtages im Rahmen der schulischen Mottowoche umfasst, setzt sich die Autorin zunächst mit den Perspektiven auf Geschlecht in der sozialwissenschaftlichen Forschung auseinander (Kap. 2). Die Autorin zeichnet hier die Traditionslinien sowie Brennpunkte sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung nach. Als einen zentralen, aktuellen Brennpunkt arbeitet die Autorin die vorherrschende Geschlechterordnung im kapitalistischen bzw. neoliberalen System heraus. Diese ist u.a. von einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der ungleichen Verteilung von Care-Arbeit geprägt, das die Individualisierung von Verantwortung und die Optimierung sowie Flexibilisierung des Selbst als zentrale Orientierungsfolien mit einer gleichzeitigen Verstärkung der geschlechterbezogenen Ungleichheiten mit sich bringt. Des Weiteren setzt sich die Autorin in diesem Kapitel mit Jugend im Fokus sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung auseinander. Die Autorin konstatiert hier, dass die Auseinandersetzung des Themenkomplex Jugend und Geschlecht entweder anhand von Herstellungsprozessen heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit oder aber den machtvollen Auswirkungen für davon ‚abweichenden‘ Jugendlichen stattfindet. Die Frage jedoch, wie Jugendliche einer dekonstruktivistischen Forschungsperspektive folgend, „sich selbst (überhaupt erst) als vergeschlechtlichte Subjekte formen und wahrnehmen“ (S. 22), stellt dabei ein Desiderat dar. Anschließend nimmt die Autorin die theoretische Einbettung der poststrukturalistischen Perspektive auf Geschlecht und Subjektwerdung im Rekurs aus u.a. Butler und Foucault vor (Kap. 3) und stellt daraufhin die methodologische und methodische Vorgehensweise der Grounded-Theory-Methodology, die Verknüpfung des Gruppendiskussionsverfahrens mit einem dekonstruktivistischen Ansatz sowie das Sample und den Erhebungskontext des Mottotags Geschlechtertausch dar (Kap. 4). Die analytische Darstellung der Ergebnisse der Studie, die Erzählungen und das Maßnehmen der Jugendlichen rund um Geschlecht und Selbst, ist das Herzstück der Publikation (Kap. 5). Das zentrale Ergebnis der Gruppendiskussionen mit Jugendlichen lässt sich nach Conrads plakativ mit dem Satz: „Geschlecht ist, was ihr draus macht“ (S. 81) fassen. Nach Conrads ist Geschlecht für die Jugendlichen zu etwas geworden, was sie individuell und flexibel gestalten und formen können. Conrads unterteilt die zentralen Ergebnisse der Studie in drei Erzählungen bzw. in einen Mechanismus des Maßnehmens. Alle vier Dimensionen werden als (Fremd- und Selbst-)Techniken der Subjektivierung betrachtet. Mit der (1) Erzählung der geschlechtlichen Flexibilität ist gemeint, dass für die eigene Geschlechtlichkeit der Jugendlichen nicht die Materialität des Körpers entscheidend ist, die im bisherigen Alltagsverständnis als kongruent und konstant galt, sondern das diese als modifizier- und flexibel gestaltbar verstanden wird. Das, was die Jugendlichen in Bezug auf Geschlecht empfinden, ist demnach für sie bedeutsamer, als die körperliche Geschlechtlichkeit. Conrads bezeichnet dies als eine Verschiebung des Geschlechtskerns ins Innere des Individuums, „was mit der Annahme einer individuellen Gestaltbarkeit von Geschlecht verbunden ist“ (S. 82). Die (2) Erzählung der geschlechtlichen Selbstbestimmung umfasst die Beobachtung, dass für die Jugendlichen die individuelle Gestaltbarkeit von Geschlecht und eine freiwillige und autonome Entscheidung darüber, wie Geschlecht und Sexualität empfunden, gelebt und ausgehandelt wird, von zentraler Bedeutung ist. Indem den Jugendlichen eine Vielzahl von Geschlechterentwürfen- und Seinsweisen in der Gesellschaft präsentiert werden, wird auch die eigene Geschlechtlichkeit als das individuelle und selbstbestimmte Ergreifen von Wahl- und Handlungsmöglichkeiten verstanden, das Conrads als Gender Acency fasst. Die (3) Erzählung der geschlechtlichen Subjektwerdung bezeichnet, dass die Verschiebung des Geschlechtskerns ins Innere (1) damit einhergeht, dass das Selbst für den festen und kohärenten Kern der Individuen steht, den es aufzuspüren und zu verwirklichen gilt. Für die Jugendlichen steht das Ausleben und Gestalten der eigenen Geschlechtlichkeit mit dem eigenen Selbst in Verbindung. Unabhängig davon also, wie die eigene Geschlechtlichkeit ausgestaltet und empfunden wird, diese richtet sich am innersten und unveränderlichen Kern des Individuums aus. Das (4) vergeschlechtlichte Maßnehmen drückt aus, dass die Erzählungen (1-3) zwar verdeutlichen, dass die Jugendlichen das Ausleben und Gestalten ihrer eigenen Geschlechtlichkeit als selbstbestimmt, autonom und flexibel wahrnehmen und dabei auch die Vielfalt von Geschlecht in einem gewissen Rahmen denk- und lebbar ist – jedoch verhandeln die Jugendlichen in den Gruppendiskussionen auch, wie und wodurch dieser Rahmen der denk- und lebbaren, also intelligiblen Geschlechtlichkeit gesteckt ist. Mit dem geschlechtlichen Maßnehmen wird genau dieses Abwägen und Austarieren von anerkannter und abgewerteter Geschlechtlichkeit der Jugendlichen gefasst. Abschließend fasst Conrads die vier Dimensionen im theoretischen Modell der geschlechtlichen Selbstregulierung zusammen und diskutiert die Ergebnisse der vergeschlechtlichten Subjektwerdung als geschlechtliche Selbstregulierung (Kap. 6).

Diskussion

Es handelt sich bei der hier vorliegenden Publikation um eine sehr präzise Analyse der vergeschlechtlichten Subjektwerdung von Jugendlichen. Conrads leistet durch ihre Publikation einen wichtigen Beitrag im Feld der empirischen Geschlechterforschung und hier speziell im jungen Arbeitsfeld der empirischen Subjektivierungsforschung. An dieser Stelle hätte sich die Rezensentin durchaus noch eine ausführlichere methodologische Begründung und Herleitung der Verknüpfung des dekonstruktivistischen Ansatzes mit dem Gruppendiskussionsverfahren gewünscht. Einer dekonstruktivistischen Perspektive liegt auch die Kritik zugrunde, dass u.a. durch empirische Sozialforschung und dem Erheben und Analysieren geteilter Sinn- und Erfahrungshorizonte, das Subjekt im Fokus der Betrachtung steht und damit vorherrschende Gegebenheiten produziert und reproduziert werden. Die empirische Subjektivierungsforschung bedient sich ja aber genau an den Methoden der empirischen Sozialforschung, wo sie diese in ihrem methodologischen Bezugsrahmen ja eigentlich kritisieren. Offen bleibt die Frage, worin genau die Potenziale, aber auch Reibungspunkte in der Verknüpfung dieser Ansätze liegen. Äußerst relevant ist die vorliegende Studie in Bezug auf die Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Jugend und Geschlecht. Der Fokus auf Jugend stellt in der empirischen Geschlechterforschung – und der Fokus auf Geschlecht in der empirischen Jugendforschung – nach wie vor ein Desiderat dar. Durch die Schnittstelle aus Geschlechter- und Jugendforschung und hier insbesondere dem jugendspezifischen Erhebungskontext des Mottotages Geschlechtertausch, leistet Conrads durch ihre Studie also gleich in Bezug auf zwei Disziplinen einen wichtigen Beitrag.

Fazit

Bei der vorliegenden Publikation von Judith Conrads handelt es sich um eine sehr fundierte Analyse zum Umgang mit Geschlechtlichkeit von Jugendlichen in einer empirisch-dekonstruktivistischen Perspektive. Für Forscher_innen, die sich insbesondere an der Schnittstelle von (empirischer) Geschlechter- und Jugendforschung befinden, ist dieses Buch sehr zu empfehlen. Eine klare Empfehlung auch für all diejenigen, die auf der Suche nach einem gelungenen Beispiel empirischer Geschlechterforschung sind und hier durch den innovativen Erhebungskontext des Geschlechtertauschtags in der Mottowoche, sehr gute und fundierte Einblicke sowohl für die eigene Forschungspraxis- als auch Analyse erhalten werden.

Rezension von
Anne Rauber
M. A., wissenschaftliche Mitarbeiterin FH Münster, FB Sozialwesen, Promovendin, Forschungsgebiet Jugend- und Geschlechtersoziologie
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Es gibt 1 Rezension von Anne Rauber.

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ISSN 2190-9245