Cornelia Rehle, Stephanie Schmitt-Bosslet et al.: Inklusion "am seidenen Faden"
Rezensiert von Prof. i.R. Manfred Baberg, 17.10.2022

Cornelia Rehle, Stephanie Schmitt-Bosslet, Ramona Häberlein-Klumpner: Inklusion "am seidenen Faden" Bildungsverläufe von zehn Jugendlichen mit Beeinträchtigungen. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2021. 208 Seiten. ISBN 978-3-7815-2477-4. D: 18,90 EUR, A: 19,50 EUR.
Verfasserinnen und Entstehungshintergrund
Die Verfasserinnen Cornelia Rehle, Stefanie Schmidt-Bosslett und Ramona Häberlein-Klumpner arbeiten als Wissenschaftlerinnen am Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und -didaktik der Universität Augsburg. Dort wurde ein „Forum für inklusive Strukturen in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen“ (FISS) und die Idee entwickelt, Kinder mit Beeinträchtigungen in der Grundschule zu begleiten. Auf dieser Vorarbeit beruht die vorliegende Langzeitstudie „Inklusion am seidenen Faden“. Die 2005 begonnene Arbeit führte 2009 zur ersten Publikation „Inklusive Schule – Lehren und Lernen mittendrin“, die mit dem vorliegenden Band fortgesetzt wird, der untersucht, wie inklusiv die Schullaufbahn von zehn Jugendlichen mit Benachteiligungen über 15 Jahre verlaufen ist.
Aufbau und Inhalt
Der Band ist in sieben Kapitel gegliedert. In den beiden ersten werden wesentliche Erkenntnisse der früheren Studie zusammengefasst und die Prinzipien von Inklusion dargestellt. In den folgenden Kapiteln werden die Fragestellung der aktuellen Studie, das methodische Vorgehen und die Ergebnisse der Befragungen von Eltern und Schüler*innen dargestellt. In den beiden abschließenden Kapiteln werden die Ergebnisse zusammenfassend analysiert und alternative Perspektiven entwickelt.
1 Inklusive Schule – Leben und Lernen mittendrin. Eine Fortsetzungsgeschichte
Im 2009 erschienenen Vorläufer des jetzigen Bandes wurden zahlreiche „Stolpersteine“ für die schulische Inklusion festgestellt. Die Schüler*innen mussten zum Teil schon nach der dritten Klasse und häufiger noch am Ende der Grundschulzeit die Regelschule verlassen. Nur den intensiven Bemühungen der „Pioniereltern“ war ein wenigstens teilweises Gelingen der Inklusion zu verdanken.
Die zentrale Erkenntnis des ersten Bandes war deswegen „Inklusion hängt am seidenen Faden“ (21), die dann zum Titel des aktuellen Bandes wurde.
2 Inklusion – worum es geht
Ein wesentliches Element von Inklusion ist die Partizipation – für Kinder und Jugendliche das Mitwirken und Mitbestimmen an Planungen und Entscheidungen, die ihre Lebenswelt betreffen. Sie muss auch die einzigartigen Stärken und Talente von Menschen mit Beeinträchtigungen berücksichtigen (24).
Menschenrechte und Menschenwürde bedeuten, die elementaren Bedürfnisse nach Geborgenheit, Zugehörigkeit, Anerkennung und Selbstbestimmung umzusetzen. Auch wenn Menschen nicht durch Körperkraft, Intelligenz und Leistungsfähigkeit beeindrucken können, sind sie Menschen, deren Würde anerkannt werden muss.
3 Entwicklung der Fragestellung und methodische Überlegungen
Da die Zusammenarbeit mit den Familien im Jahre 2005 begonnen hat, konnten die Entwicklungen für eine Zeitspanne von 15 Jahren verfolgt werden. Von den zehn beteiligten Jugendlichen konnten sieben direkt befragt werden, eine weitere Befragung wurde digital durchgeführt, zwei Jugendliche konnten nicht mehr befragt werden. Die Autorinnen führten die Befragung von Jugendlichen und Eltern getrennt durch, um die unterschiedlichen Perspektiven der Betroffenen zu erfassen.
4 Kategorien der Fallstudien
Für die Analyse der Fallstudien greifen die Autorinnen auf die Dimensionen „Soziale Eingebundenheit“, „Autonomie und Identität“ sowie „Kompetenzerfahrung“ zurück. Sie halten diese deswegen für besonders geeignet, den Erfolg von Inklusion zu überprüfen, weil sie für alle Menschen gleichermaßen anthropologische Gültigkeit besitzen.
5 Zehn Fallbeispiele – Zehn Lebenswege
Die zehn Fallbeispiele werden durch Interviews mit Eltern und Jugendlichen ausführlich beschrieben und anschließend zusammenfassend analysiert. Diese Analyse bildet auch den Schwerpunkt der inhaltlichen Zusammenfassung dieser Rezension. Mit dem folgenden Zitat einer interviewten Jugendlichen soll jedoch verdeutlicht werden, dass die Befragten einen wesentlichen Beitrag zur Analyse geleistet haben: „Inklusion ist für mich, dass ich mich so entwickeln kann, wie es meinen Begabungen und Interessen gemäß ist – und dass ich dafür Anerkennung erfahre. Anerkennung und Achtung, besser gesagt, Beachtung für mein Dasein“ (97).
6 Inklusion „am seidenen Faden“: Zusammenfassende Analyse
Einleitend stellen die Verfasserinnen fest, dass die durchgeführten Interviews die Einschätzung von Feuser bestätigen, dass Behinderung vorwiegend durch die Gesellschaft und nicht durch persönliche Beeinträchtigungen erfolgt. Dies gilt für alle Dimensionen und Brennpunkte.
Soziale Einbettung beschränkt sich in vielen Fällen auf die Familie. Die mit der Adoleszenz üblicherweise verbundene Loslösung vom Elternhaus wird für die interessierten Jugendlichen häufig durch geringere Kontakte zu nicht behinderten Altersgenoss*innen und durch mühsame Suche nach Wohnmöglichkeiten beschränkt.
In den Interviews haben sich die Jugendlichen zwar überwiegend als kompetent erlebt, jedoch häufig defizitorientierte Rückmeldungen über ihre schulischen und beruflichen Leistungen erfahren. Auch die Autonomie wird durch zahlreiche Abhängigkeiten von Lehrpersonen, Therapeut*innen und Vorgesetzten eingeschränkt. Sie beschränkt sich deswegen häufig auf alltägliche Dinge wie die Verwendung des Taschengeldes oder den Kauf von Kleidung.
Partizipation stellt für eine der interviewten vor allem Anerkennung für ihre eigenen Begabungen dar. Im Sinne Krauthausens sind soziale Gerechtigkeit und Gleichheit die zentralen Elemente von Inklusion, die auch für die Jugendlichen in der interviewten Gruppe ein starkes Bedürfnis darstellen.
Die Interviews haben ergeben, dass sich Barrieren der Inklusionsprozesse auf der Makroebene (Schulsystem, Berufsausbildung) ansiedeln lassen – ebenso Ausgrenzungstendenzen durch abwertende Diagnostik (148).
Gelingensfaktoren zeigen sich vor allem auf personaler Ebene (fachlich kompetente und engagierte Lehrpersonen und Assistent*innen sowie starke Eltern).
Trotz der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention und der Schulgesetzänderung in Bayern im Jahre 2011 kann man – so die Aussage von betroffenen Eltern – nur von „Inklusion light“ sprechen, weil zwar Kinder mit körperlichen Beeinträchtigungen und nur geringer Lernbeeinträchtigung eine Chance haben, nicht jedoch Kinder mit geistigen Beeinträchtigungen deutlich unter dem Niveau der anderen Kinder (149).
„Inklusion light“ wird durch das Elternwahlrecht unterstützt, das die Eltern für ein Scheitern ihrer Kinder insbesondere in weiterführenden Schulen verantwortlich macht, weil sie eine falsche Entscheidung getroffen hätten, nicht jedoch die mangelhafte Änderung des Schulsystems in diesem Bereich.
Die schulische und berufliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen (auch von solchen mit Beeinträchtigungen) hängt nicht nur von Begabungen im engeren Sinne, sondern auch von „co-kognitiven“ Persönlichkeitsmerkmalen wie Leidenschaft, Mut, Empathie und Visionen ab, die in der Literatur auch mit sozialem Kapital und Faktoren der Resilienz in Verbindung gebracht werden. Obwohl die Verfasserinnen die co-kognitiven Merkmale nicht explizit in ihre Interviews aufgenommen haben, konnten sie doch zahlreiche Hinweise hierfür finden, wenn die Jugendlichen Mut zeigen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und Empathie für Kleinkinder und ältere Menschen zeigen.
Co-kognitive Kompetenzen sollten auch in der Schule gefördert werden. Hinz spricht in diesem Zusammenhang von „person-centered-planning“. Nach Boban/Hinz bezeichnet Zukunftsplanung „…einen Ansatz, der den betroffenen Menschen als aktiv teilhabenden in den Mittelpunkt stellt und ausgehend von seinen Visionen und Träumen konkrete nächste Schritte ableitet“ (178). Auch Aufbau von Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit spielen eine wichtige Rolle.
In ihrem Fazit bestätigten die Verfasserinnen die Diagnose, dass Inklusion weiterhin „am seidenen Faden“ hängt. Vor allem die Übergänge innerhalb des Schulsystems (Lehrerwechsel, Klassenwechsel, Schulwechsel) stellen zum Teil unüberwindliche Hindernisse dar. Nur durch die Arbeit inklusionsfreundlicher Akteur*innen lassen sich positive Effekte erzielen, die bei den interviewten Jugendlichen im Unterschied zu Befragungen von Absolvent*innen von Förderschulen festzustellen waren. Letztere zeigen häufig eine entmutigte Haltung und führen ihre geringen Lebenserwartungen auf die Selbstverschuldung von schulischem Versagen zurück.
7 Paradigmenwechsel: Alles ist wie es ist, aber es könnte auch anders sein
Die Analyse der Verfasserinnen hat ergeben, dass der vor zwölf Jahren geforderte Paradigmenwechsel nicht in ausreichendem Maße stattgefunden hat. Notwendig ist ein humanistisch fundiertes Menschenbild, das zuerst den intakten Menschen und nicht vor allem die Behinderung sieht (184). Die Utopie einer inklusiven Gesellschaft könnte wie folgt aussehen: jede Schule muss sich auf die individuellen Bedürfnisse einstellen und das Leistungssystem an jedes Kind angepasst werden – nicht umgekehrt die Kinder an das System. Dazu müssen die sonderpädagogischen Ressourcen der Förderschule in die Regelschulen integriert werden. Wichtig ist hier die Doppelbesetzung von Inklusionsklassen anstelle einer nur stundenweisen Unterstützung durch sonderpädagogische Förderung. Individuelle und sonderpädagogische Förderung muss im alltäglichen Unterricht verbunden werden. Eine gute Voraussetzung hierfür ist das 2013 in Österreich abgeschaffte Studium der Sonderpädagogik und seine Integration als verpflichtender Teil des Studiums einer „Inklusionspädagogik“ für alle Primar- und Sekundarschullehrer*innen.
Inklusive Schulen müssen „lernende Schulen“ werden, die sich durch Selbstevaluation permanent weiterentwickeln. Neben der Förderung individueller Haltungen und Kompetenzen müssen auch die strukturellen Bedingungen wie Klassen, Lerngruppen, Standort und Öffentlichkeit permanent weiterentwickelt werden.
An die Stelle reduzierter Curricula für Menschen mit Lern- oder geistiger Beeinträchtigung tritt zunehmend das Bemühen, sie Unterrichtsgegenstände selbstständig ausprobieren zu lassen und dadurch ihre Potenziale und Interessen weiterzuentwickeln. Ein wichtiges Hilfsmittel kann hierbei die „leichte Sprache“ sein. Für die berufliche Ausbildung gilt dies ebenso wie für die schulische. Der Wunsch nach Eigenständigkeit gilt auch für selbstständiges Wohnen. Inklusive WGs können hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten.
Abschließend verweisen die Verfasserinnen auf die Notwendigkeit gesellschaftlichen Engagements, um Inklusion voranzutreiben. Die im Band interviewten „Pioniereltern“ haben hierzu wichtige Anstöße gegeben.
Diskussion
Die zehn Berichte der Eltern und der Schüler*innen zeigen, dass Inklusion nur funktionieren kann, wenn sowohl in der Schule als auch in der Berufsausbildung und im Arbeitsbereich die Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass die individuellen Fähigkeiten und Interessen angemessen berücksichtigt werden. Ihre durchgängige Erfahrung ist, dass sie vielfach nicht ernst genommen werden. Dies führt zu teils chaotischen Entwicklungen sowohl in der schulischen als auch in der beruflichen Laufbahn.
Von der angemessenen Berücksichtigung individueller Fähigkeiten der Kinder profitieren nicht nur solche mit diagnostizierten Beeinträchtigungen, sondern vor allem auch sozial benachteiligte Schüler*innen, die im Sinne von Klassismus im deutschen Schulsystem nicht angemessen gefördert werden. Die zahlreichen Anregungen des vorliegenden Bandes können hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten. Dies gilt auch für die notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen, die nicht nur in Bayern mit besonders gering entwickelter Inklusion, sondern bundesweit erforderlich sind.
Fazit
Die zahlreichen Anregungen des Bandes leisten einen wichtigen Beitrag für die Verbesserung von Inklusion auf gesellschaftlicher, organisatorischer und persönlicher Ebene. Er kann deswegen sowohl Fachkräften als auch Eltern und politisch Engagierten empfohlen werden.
Rezension von
Prof. i.R. Manfred Baberg
Hochschule Emden/Leer, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Arbeitsgebiete u.a. Behindertenarbeit und Integrationspädagogik in den Studiengängen Soziale Arbeit/Sozialpädagogik und Integrative Frühpädagogik
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