Maik Wunder (Hrsg.): Digitalisierung und Soziale Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Bernhard Irrgang, 11.07.2023

Maik Wunder (Hrsg.): Digitalisierung und Soziale Arbeit. Transformationen und Herausforderungen. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2021. 272 Seiten. ISBN 978-3-7815-2473-6. D: 21,90 EUR, A: 22,60 EUR.
Thema
Digitalisierung hat mittlerweile sämtliche gesellschaftlichen Funktionsbereiche erreicht und ist aus den lebensweltlichen Vollzügen kaum mehr wegzudenken. Technische Artefakte vernetzen sich immer stärker und bilden unter anderem einen (unsichtbaren) Hintergrund, mit dem menschliche Handlungen auf vielfältige Weise implizit und explizit verwoben sind. Der Band nimmt einen kritischen Blick auf (mögliche) Transformationen und Herausforderungen, die sich für die soziale Arbeit angesichts des sozio-technischen Wandels ergeben. Hierbei gewinnen alte Fragen wie z.B. die nach sozialer Ungleichheit neue Konturen. Zugleich erscheinen am Fragehorizont neuartige Problemkonstellationen wie die Substituierung von menschlichem professionellen Handeln durch Big Data. Die im Band versammelten Beiträge versuchen, mit ihren Fragestellungen eine Brücke zu schlagen zwischen Theorie und Praxis bzw. zwischen Disziplinen und Profession (S. 9 f.).
Herausgeber
Dr. Maik Wunder, geb. 1977, ist seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrgebiet Bildung und Differenz der Fernuniversität in Hagen. Ab dem Wintersemester 2021/22 Professor für Mediatisierung und Digitalisierung im Feld der sozialen Arbeit an der Katholischen Hochschule NRW Abteilung Aachen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Beschäftigung mit materiellen Aspekten des digitalen, Post-Humanismus sowie die Digitalisierung von pädagogischen Feldern.
Entstehungshintergrund
Anders als viele Sammelbände ist dieses Werk systematisch aufgebaut und thematisch durchkomponiert. Man kann es daher wie ein polyperspektivisch aufgebautes Sachbuch lesen.
Aufbau
Digitalisierung erscheint im Diskurs als eine Art Heilslehre, die Menschen, das Zusammenleben untereinander und die gesellschaftlichen Organisationen usw. besser macht. Daneben existiert ein nicht so lautstarker Gegen-Diskurs, der von technikskeptischen Positionen getragen ist. Die Herausforderungen des Themenfelds soziale Arbeit durch Digitalisierung werden in fünf Themenblöcken diskutiert. Sie betreffen:
- Fragen nach einer möglichen Veränderung der sozialen Arbeit durch Digitalisierung;
- Fragestellungen zur sozialarbeiterischen Profession im Kontext der Digitalisierung;
- die Frage nach den sozial Arbeitenden und ihren Handlungsfeldern;
- Aspekte der Digitalisierung in der sozialarbeiterischen Ausbildung; und
- Fragen der Forschung zur Digitalisierung im Feld der sozialen Arbeit (S. 10–12).
Inhalt
Themenfeld I beschäftigt sich mit Digitalisierung und Veränderung der sozialen Arbeit. Bisherige Orientierungen sind geprägt durch grundlegende Technikskepsis oder aber zunehmend, als reflexartiger Innovationsimpuls zu verstehen. Erst in Ansätzen entwickelt sich eine eigenständige Theoriebildung und Empirie in der sozialen Arbeit zu Fragen der Digitalität (S. 17). Für die Erschließung der Bedeutung und der Implikationen des Digitalen im Kontext sozialer Arbeit geht es für die Autoren des Bandes entgegen der verbreiteten Innovations-Rhetorik sowohl auf der Ebene der praktischen Ausgestaltung in Professions- und Organisations-Kontexten als auch in der Forschung zumeist um grundsätzlich bekannte Themen, die sich allerdings in neuen Ausprägungen, qualitativen Verschiebungen oder auch erweiterten Dimensionierungen zeigen (S. 26). Ein weiterer Beitrag führt drei unterschiedliche Zugänge zur Erfassung von Digitalisierung an, denen gemeinsam ist, dass sie nicht technikdeterministisch argumentieren, sondern gesellschaftliche, soziale oder kulturelle Kräfte als fundamental für Digitalisierungsprozesse ansehen (S. 31). Dabei wird insbesondere auf Nassehis Theorie der digitalen Gesellschaft mit ihren neuen Medien, ihrem Verwaltungsapparat und digitalen Infrastrukturen hingewiesen (S. 33). Charakteristisch ist eine Quantifizierung des Sozialen (S. 36), die den Anschein von Objektivität in der Soziologie erzeugt (S. 39). Tatsächlich können digitale Daten in der sozialen Arbeit als eine Art Fremdbeobachtung bei der Begutachtung der eigenen Tätigkeit helfen, welche weitere Professionalisierung unterstützt, wenn eine gewisse methodische Distanz bei der Datenerhebung berücksichtigt wird (S. 40). Dabei können Stalders Ansätze einer Kultur der Digitalität helfen (S. 41), wenn digitale Kultur als Experimentierraum für die Beurteilung der eigenen Tätigkeit herangezogen wird (S. 45). Berücksichtigt werden sollte, dass die immaterielle Arbeitskraft der Mittelklasse sich perspektivisch potenziell durch digitale Arrangements ersetzen lässt. Damit droht ihr das gleiche Schicksal wie der Arbeiterklasse, deren mechanische Arbeitskräfte durch Maschinen ersetzt wurden. Grundlegend stellt die Diagnose von Stalder an die soziale Arbeit die Frage, ob sie durch den Einsatz digitaler Technologie Teil einer neoliberalen Architektur sein möchte (S. 47).
Ein weiterer Aspekt dieses Themenfelds ist das Verhältnis von Digitalisierung und Mediatisierung. Digitalisierungstrends betreffen den Zugang zur Digitalisierung, das Nutzungsverhalten in digitalen Welten, die digitale Kompetenz und die Offenheit gegenüber Digitalisierung (S. 53). Vor dem Hintergrund der digitalen Transformation der Lebenswelt der Klientel und des professionellen Handelns geht es in der Debatte um medienpädagogische Haltungen um die Frage nach einer dritten Option zwischen reflexionsloser Medieneuphorie und einer apriorischen bzw. bewahrpädagogischen Medien-Ablehnung (S. 55). Digitalisierung ist dabei kein vorbildloser, quasi ahistorischer Prozess, sondern vielmehr ein weiteres Stadium im dynamischen Prozess der Mediatisierung und dem Kontext weiterer Metaprozesse zu sehen ist (S. 57). Durch Medien kam es bereits in der Vergangenheit zu kommunikativer Bedeutungserzeugung, wobei durch virtuelle Kommunikation eine Entgrenzung stattfindet (S. 58 f.). Für die soziale Arbeit ergibt sich dabei die Möglichkeit von online Beratung für ihre Adressaten, wobei eine Entgrenzung der Beratungspraxis zu konstatieren ist (S. 61 f.). Eine weitere Perspektive betrifft die Bedeutung sozialpädagogischer Orte im digitalen Raum (S. 68). Insgesamt ist in diesem Themenfeld Digitalisierung in der sozialen Arbeit als Herausforderung für die disziplinäre Theorie der Arbeit sowie das organisationale Entscheiden ihrer Praxis ernst zu nehmen und für Letzteres vorzuschlagen, Digitalisierung als ergebnisoffenen Gestaltungsspielraum zu bestimmen (S. 89).
Themenfeld II beschäftigt sich mit Digitalisierung und sozialarbeiterischer Profession. Die Digitalisierung der Arbeit schreitet in den letzten Jahren stark voran und hat mittlerweile auch das Feld sozialer Dienstleistungen erreicht. Dabei gibt es auf Seiten der Beschäftigten nicht selten Vorbehalte und Ängste gegenüber den neuen Technologien im Hinblick auf eine zunehmende Rationalisierung von Arbeitsinhalten und Arbeitsplätzen. Allerdings belegen die Ergebnisse explorativer Studien eine starke Verbreitung digitaler Technologien in den sozialen Berufen vom Feld der sozialen Arbeit bis zur Altenpflege, wobei die Technologien insbesondere bei administrativen und weniger bei der Arbeit mit den Klienten zum Einsatz kommen. Dabei zeigt sich entgegen der weitverbreiteten Skepsis eine deutliche Akzeptanz bei der Digitalisierung durch die Beschäftigten im Feld der sozialen Dienste (S. 97). Nicht zu übersehen ist ein schneller Wandel auch in der an Gemeinwesen orientierten Arbeit hin zu mehr digitalen Anwendungen und Online-Kommunikation. In diesem Zusammenhang ist es vielmehr angeraten, im Dialog zwischen Leitung, Träger und den Fachkräften unter Berücksichtigung ihrer Erfahrungen und Einschätzungen Erwartungshorizonte mit den realen Gegebenheiten und Möglichkeiten abzugleichen, anhand derer Digitalisierungsstrategien entwickelt werden, welche langfristig und nachhaltig umsetzbar sind (S. 120 f.).
Algorithmische Systeme der Entscheidungsfindung stellen dabei zunehmend eine wichtige Technologie im täglichen Leben dar und finden sich in immer mehr gesellschaftlichen Anwendungskontexten. Zugleich lösen diese Systeme im Speziellen sowie Informations- und Kommunikationstechnologie im Allgemeinen ein Unbehagen im professionellen Handlungskontext aus: sie stehen im Verdacht, zur Deprofessionalisierung sozialarbeiterischen Handelns beizutragen (S. 122). Berücksichtigt man aber Abbotts Theorie der professionellen Logik, einer essenziellen Logik professioneller Praxis, welche aus Diagnose, inference und Behandlung besteht, kommt man zu einem anderen Ergebnis. Kommt es innerhalb der professionellen Urteilsbildung sozialer Arbeit zum Technikeinsatz, so ist es hilfreich, sich die Orte dieses Technikeinsatzes unter Rückbezug auf Abbotts Theorie zu reflektieren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass gerade die in der sozialen Arbeit eingesetzten algorithmischen Systeme im Bereich der Diagnostik angesiedelt sind, d.h. in dem Bereich professioneller Logik, in welchem professionsrelevante Informationen zunächst zusammengetragen und mit Blick auf das professionsinterne Klassifikationssystem zu einem Fall zusammengefasst werden (S. 126–129). Daher sollte das grundlegende Unbehagen und die Skepsis gegenüber den IuK-Technologien in der sozialen Arbeit kritisch hinterfragt werden. Erforderlich ist eine intensive Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen algorithmischer und statistischer Verfahren im professionellen Handlungskontext (S. 133).
Themenfeld III beschäftigt sich mit Digitalisierung und Adressat*innen von sozialer Arbeit. Zunächst geht es um Digitalisierung als Projektionsfläche für Sehnsüchte und Ängste in Narrativen von wohnungslosen Menschen. Dabei sollte darauf achtgegeben werden, dass keine digitale Spaltung zwischen wohnungslosen und nicht wohnungslosen Menschen aufkommt. Andererseits sollten Narrative über Digitalisierung keine Projektionsflächen erzeugen, die spezifische Ängste und Sehnsüchte im Hinblick auf Überwachung, Strafverfolgung und Vertreibung von wohnungslosen Menschen konstruieren oder forcieren, wobei sich andererseits bei Befragten mit digitaler Kommunikation Utopien einer besseren Gesellschaft verbinden, in der sie nicht als Wohnungslose stigmatisiert werden, sondern eine Kommunikation auf Augenhöhe gewährleistet und Autonomie erreichbar wird (S. 143). Dabei muss vor allem die Heterogenität wohnungslose Menschen berücksichtigt werden (S. 145). Ängste betreffen Überwachung und Datendiebstahl, weitere Ausgrenzung, Standortbestimmung und Verdrängung sowie Strafverfolgung (S. 146–150), Sehnsüchte, die Wohnungssuche, Autonomie, den Wunsch, als Mensch wahrgenommen zu werden (S. 150–153), also eine deutliche Ambivalenz angesichts von Potenzialen. Chancen für den Einsatz digitaler Technologien für die soziale Arbeit bestehen im Feld von social Entrepreneurship unter Einsatz von digitalen Lerntechnologien, virtuellem Kontext, New Work und Selbstkontrollmechanismen (S. 157). Häufig wird Digitalisierung aus der Perspektive der Sozialwissenschaft und bedauerlicherweise auch in der sozialen Arbeit eher kritisch begleitet. Dies scheint nahezulegen, dass Digitalisierung lediglich Teilhabechancen verwehrt und die Arbeit von Sozialarbeiter*innen erschwert. Denkt man soziale Arbeit aber neu, so erscheinen Alternativen. Zwar werden Mitglieder und Aktivisten sozialer Bewegungen wie Fridays for Future oder Occupy Wall Street ihre Arbeit als erfüllende Tätigkeit erleben, werden aber doch insofern nicht gestaltend, als sie immer jeweils nur etwas ändern können, wenn andere etwas tun, die Verantwortung in der Gesellschaft tragen. Die Gefahr dabei ist, dass Unmut, Unzufriedenheit und Kapitalismuskritik in neue Deutungsmuster mit klaren Feindbildern übertragen werden (S. 169). Die Fallstudie zur Digitalisierung und Steigerung der Medienkompetenz in der Kita erweist sich als facettenreicher Proporz, der nicht nur durchaus kontroverse Debatten auszulösen vermag, sondern auch ein vielschichtiges und komplexes Themenfeld offenbart. Neben Strukturvorhersagen und Rahmenbedingungen ergeben sich auch Aspekte von Organisation und Management sowie Nutzungspraxen und die Frage nach Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien. Zugleich berührt das Thema Digitalisierung in der Kita, gerade wo es um die Anwendung digitaler Medien geht, die unmittelbare pädagogische Arbeit und zeigt, wie sehr grundlegende Fragen von Erziehung und Bildung mit Haltungen und Erwartungen zusammenhängen (S. 186 f.).
Themenfeld IV beschäftigt sich mit Digitalisierung und sozialarbeiterischer Ausbildung. Die steigenden Kompetenzanforderungen in professionellen Kontexten sozialer Berufe stellt auch eine zunehmende Herausforderung an Ausbildungsprofile und Lehre dar. Die Notwendigkeit des Erwerbs neuer Kompetenzen zur Ausbildung einer umfassenden Digitalität und Data Literacy, also dem verständigen Umgang mit Daten und deren Interpretation, und anderen digitalen Kompetenzen, stellt zum einen eine besondere Herausforderung an die Ausbildungsprofile der Hochschulen dar, zum anderen jedoch auch an die eigenen Kompetenzen Lehrender sowie des wissenschaftlichen Nachwuchses (S. 201). Die Digitalisierung in Kindertagesstätten eröffnet zusätzliche Perspektiven von Lehrkräften an (Berufs-) Fachschulen für Sozialpädagogik. Erzieher*innen obliegt die Aufgabe, Kinder an einen verantwortungsbewussten Umgang mit digitalen Medien heranzuführen. Letztere zeigen jedoch häufig Beharrungs- und Bewahrtendenzen in den Bereichen Digitalisierung und digitaler Mediennutzung (S. 215). Dabei hat eine Untersuchung zur Praxis gezeigt, dass der pädagogischen Begleitung der kindlichen digitalen Mediennutzung durch die Erzieher*innen eine besonders hohe Bedeutung zugeschrieben wird (S. 221).
Themenfeld V beschäftigt sich mit Digitalisierung und Forschung zu sozialer Arbeit. Hier finden sich Untersuchung zur Digitalisierung in der stationären Kinder- und Jugendhilfe, z.B. zum Forschungsstand zu digitalen Medien im Heim, eine Studie zur automatisierten Analyse eines Onlineforums für Angehörige von Inhaftierten und zur historischen Biografie-Forschung im Kontext von sozialer Arbeit. Ergebnisse und Ansätze dieses Teils der Arbeit sind sehr divergent und zeigen, dass Forschung in diesem Feld wohl im Wesentlichen noch am Anfang steht.
Diskussion
Vorliegendes Buch präsentiert in polyperspektivischer Darstellung ein Forschungsfeld im Entstehen zum Thema Digitalisierung der Gesellschaft im Bereich der Arbeitswelt in methodisch durchdachter Form. Der abwägende Bewertungsansatz wird konsequent durchgehalten, durch Einzelfragen untermauert und entsprechende Beispiele belegt.
Fazit
Die von Maik Wunder herausgegebene polyperspektivische und transdisziplinäre Untersuchung der Folgen von Digitalisierung und Mediatisierung auf die Ausgestaltung sozialer Arbeit überzeugt durch ihre differenzierte Beurteilung und der trotz der vielen Autor:innen durchgehaltenen abgewogenen Urteilsbildung in einem kontrovers bewerteten Diskussionsfeld. Diese Vorgehensweise ermöglicht eine Reihe von Ansätzen der Technikgestaltung in einem kulturell-gesellschaftlichen Kontext der Einführung einer neuen Basistechnologie, der Digitalisierung. Ein sehr empfehlenswertes Buch.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. Bernhard Irrgang
Der Rezensent lehrte Technikphilosophie und angewandte Ethik an der TU Dresden
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Es gibt 19 Rezensionen von Bernhard Irrgang.
Zitiervorschlag
Bernhard Irrgang. Rezension vom 11.07.2023 zu:
Maik Wunder (Hrsg.): Digitalisierung und Soziale Arbeit. Transformationen und Herausforderungen. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2021.
ISBN 978-3-7815-2473-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28923.php, Datum des Zugriffs 08.12.2023.
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