Maika Böhm, Elisa Kopitzke et al. (Hrsg.): Praxishandbuch Sexuelle Bildung im Erwachsenenalter
Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 11.03.2022

Maika Böhm, Elisa Kopitzke, Frank Herrath, Uwe Sielert (Hrsg.): Praxishandbuch Sexuelle Bildung im Erwachsenenalter. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 671 Seiten. ISBN 978-3-7799-6163-5.
Siehe auch Replik oder Kommentar am Ende der Rezension
Thema
Die vorliegende Publikation thematisiert das Sexualverhalten Erwachsener und Notwendigkeiten und Möglichkeiten sowohl formeller als auch informeller Sexueller Bildung. Darüber hinaus werden Weiterbildungskonzepte für Fachkräfte verschiedener Disziplinen vorgestellt.
Herausgeber*innen
Maika Böhm, Prof. Dr., ist Professorin für Sexualwissenschaft und Familienplanung an der Hochschule Merseburg. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der sexuellen Sozialisationsprozesse im Jugend- und jungen Erwachsenenalter, Sexualität und digitale Medien sowie Familienplanung und Elternschaft.
Elisa Kopitzke, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pädagogik, Abteilung Sexualpädagogik, an der Universität Kiel und freiberufliche systemische Paar- und Sexualtherapeutin.
Frank Herrath, Dr., ist Dozent für Sexualwissenschaft und Mitbegründer des Instituts für Sexualpädagogik.
Uwe Sielert, Prof. Dr., ist Professor für Sozialpädagogik an der Universität Kiel mit den Arbeitsschwerpunkten Sozialpädagogik der Vielfalt, Sexual- und Geschlechterpädagogik.
Der Band entstand unter Mitarbeit von Eva Kubitza, die im Innenteil als Mitarbeiterin benannt ist. Kubitza, M.A., ist Grundschulpädagogin und Sexualwissenschaftlerin und forscht und lehrt an der Hochschule Merseburg.
Aufbau und Inhalt
Der vorliegende Sammelband besteht aus insgesamt 43 Beiträgen, die in sieben Kapitel mit jeweils vier bis neun Aufsätzen gegliedert sind. Nach der Einleitung schließen sich die Kapitel wie folgt an:
- Zugänge zu Sexualität und sexueller Bildung im Erwachsenenalter
- Qualifizierungswege für die sexuelle Bildung Erwachsener
- Handlungsfelder sexueller Erwachsenenbildung
- Sexualkulturen und sexuelle Szenen
- Sexuelle Erwachsenenbildung in, mit und durch Medien
- Interkulturelle Perspektiven sexueller Bildung
- Ausblick
Ein Autor*innenverzeichnis beschließt den Band.
Inhaltsbeschreibung
Nach den Veröffentlichungen von Julia Sparmann [1] und Ralf Pampel [2] ist die Sexuelle Bildung für Erwachsene stärker in den Blickpunkt der Forschung und des pädagogischen Interesses gerückt. Klar und Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes ist, dass auch Erwachsene sich mit ihrem Körper und seinen Veränderungen, mit Geschlecht und Sexualität auseinandersetzen, sexuelle Erfahrungen im positiven und im negativen Sinne machen, sich entsprechend bilden und Bildungs- und Unterstützungsangebote benötigen können. Dass Sexuelle Bildung „ein Leben lang“ anhält, machen die vier Herausgeber*innen – allesamt ausgewiesen im Feld Sexueller Bildung – in ihrer Einleitung deutlich. Der Band resultiere aus dem sich zunehmend abzeichnenden Bedarf und biete eine erste Bestandsaufnahme.
Das sich anschließende erste Kapitel ermöglicht Lesenden einen Zugang. Uwe Sielert eröffnet es mit einem Überblick über einige der Herausforderungen, mit denen Menschen in ihrer „zweiten Lebenshälfte“ im Hinblick auf ihre Sexualität konfrontiert sein können. Die sich anschließenden Aufsätze von Konrad Weller und von Silja Matthiesen & Susanne Cerwenka unterlegen die Aussagen empirisch. Sie geben entlang der deutschen Studienlage einen Überblick über die sexuellen und partnerschaftlichen Erfahrungen Erwachsener. Deutlich wird, dass Erfahrungen wie „Sex an ungewöhnlichen Orten“ eine größere Verbreitung haben als populär mitunter angenommen wird; punktuell zeigen sich im zeitlichen Verlauf auch Veränderungen und erscheinen Jüngere als „probierfreudiger“. Die weiteren Aufsätze dieses Kapitels greifen Fragen reproduktiver Selbstbestimmung (u.a. gewollte und ungewollte Schwangerschaft) und interkulturelle bzw. intersektionale Fragen auf.
Das zweite Kapitel zielt insbesondere auf formale Bildungsmöglichkeiten für Fachkräfte. In insgesamt acht Aufsätzen wird danach gefragt, welche Kompetenzen Sexualpädagog*innen, Erzieher*innen, Lehrkräfte, Studierende sozialer Berufe und Mediziner*innen benötigen und bisher erhalten. Ersichtlich werden dabei insbesondere Potenziale, die gesellschaftlich langsam in den Blick kommen. Hingegen sind kontinuierliche implementierte Angebote rar. In den Aufsätzen wird einerseits deutlich, dass die sexualpädagogischen Bildungsangebote im Hinblick auf die Zielgruppen der aus- und fortzubildenden Studierenden bzw. Fachkräfte bedeutsam sind, andererseits Bildung und Reflexion der Fachkräfte selbst befeuern. Aushandlungen, ob Sexuelle Bildung auch Bestandteil von Angeboten zur Prävention sein müsse und ob die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), die ein zentraler Motor für angepasste Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik ist, auch für die Sexuelle Bildung Erwachsener zuständig ist, runden dieses Kapitel ab.
Kapitel 3 widmet sich beispielhaft einigen Handlungsfeldern Sexueller Bildung für Erwachsene, wobei jeweils zunächst die spezifische Zielgruppe umrissen wird, um dann entlang der aufscheinenden Bedarfe Ansatzpunkte für Sexuelle Bildung zu skizzieren. Im Kapitel kommen lesbische bzw. queere Frauen* sowie schwule (und bisexuelle) Männer als Zielgruppen mit besonderen Bedarfen in den Blick, darüber hinaus werden Bildungsangebote allgemein für Frauen* bzw. für Männer vorgestellt. Auch die Zielgruppen behinderte Menschen sowie Senior*innen werden adressiert, um in weiteren Beiträgen Möglichkeiten nachzugehen, Sexuelle Bildung in Beratungssettings, in die therapeutische forensische Arbeit zur Gewaltminimierung sowie in die Sozialpädagogische Familienhilfe einzubinden. Die Aufsätze sind jeweils recht praxisnah gestaltet, sodass Notwendigkeit und Möglichkeit der Integration Sexueller Bildung plastisch deutlich werden; zuweilen wird der entsprechende handlungsorientierte rote Faden aber durch theoretische Exkurse gerissen.
Spezifischen Subkulturen, Praxisfeldern und Orten wendet sich Kapitel vier zu. Hier werden etwa Sexshops und Sexspielzeuge im Hinblick auf ihren Bildungsgehalt thematisiert, darüber hinaus spezifische Zielgruppen – BDSMler*innen und Sexarbeiter*innen – hinsichtlich ihrer Bildungsbedarfe vorgestellt. In Bezug auf Sexarbeiter*innen macht Undine de Rivière deutlich, dass nicht nur sie Bildungsbedarfe haben, sondern welchen Wissenstransfer und welche weitere Bildungsarbeit sie in Bezug auf ihre Freier (und wenigen Freierinnen) leisten. Robin Bauer zeigt für BDSM, dass dieser einerseits subkulturell zu verstehen ist – mit entsprechendem Selbstverständnis und Bildungsgehalt, der subkulturell anzutreffen ist –, andererseits in gesellschaftlicher Breite als Erfahrungsraum für alle. Daraus resultierten unterschiedliche Bildungsbedarfe. Lorenz Böllinger beschließt das Kapitel mit einem auf Substanz- bzw. Drogenkonsum fokussierten Beitrag und plädiert für eine gemeinsame Betrachtung der Themenfelder Sexualität und Drogen.
Kapitel 5 wendet sich der Bedeutung verschiedener Medien für die Erwachsenenbildung zu. Dabei sind sowohl Internet und Soziale Medien im Hinblick auf ihren Informationsgehalt und sexuelle Kommunikationsformen im Blick als auch Sexroboter, Rapmusik und – ganz klassisch – Film und Fernsehen. Die Aufsätze skizzieren dabei jeweils die Besonderheiten der medialen Formate und fokussieren auf die Nutzungsformen. Deutlich wird, dass Erwachsenenbildung auch oder gerade hinsichtlich Sexualität zentral über Medien erfolgt – und Ausprobieren, Empowerment, aber auch Unsicherheiten resultieren können.
Das sechste Kapitel nimmt den interkulturellen und intersektionalen Aspekt des ersten Kapitels wieder auf. Hier ist – wie unter der Überschrift zu erwarten – Flucht und Migration im Blick, ebenso die Bedeutung verschiedener Religionen. Die weiteren beiden Aufsätze weiten das Feld: So vergleicht Jörg Nitschke die Bedingungen Sexueller Bildung zwischen Schweden und Serbien und wenden sich Angelika Wirtz et al. jungen Menschen in prekären Lebenssituationen zu.
Das den Band beschließende Kapitel Ausblick reflektiert mögliche Zukünfte – und plädiert für die weitere Etablierung von Angeboten der Sexuellen Bildung für Erwachsene.
Diskussion
Das „Praxishandbuch Sexuelle Bildung im Erwachsenenalter“ versammelt Beiträge von Praktiker*innen und Wissenschaftler*innen aus dem Feld der Sexuellen Bildung, die jeweils fokussierte Einblicke in ausgewählte Themenfelder gewähren. Deutlich wird, wie facettenreich das Themenfeld der Sexuellen Bildung für Erwachsene ist. In den Beiträgen werden Zugänge sowohl zu den Inhalten der Sexuellen Bildung mit Erwachsenen als auch zu methodischen Herangehensweisen an die entsprechenden Zielgruppen gelegt.
Die Vielschichtigkeit und der Facettenreichtum des Themas sind Stärke und Herausforderung zugleich: Die Herausgeber*innen haben hier eine gute Auswahl getroffen, um die thematische Breite abzubilden. Bei der Lektüre kann es aber hilfreich sein, sich über das Inhaltsverzeichnis einen Überblick zu verschaffen und sich dann – den eigenen Interessen gemäß – einen Weg durch die Beiträge zu bahnen. Das ist möglich, da die Kapitel und Beiträge jeweils für sich selbst funktionieren.
Aus sexualwissenschaftlicher Perspektive wird die Fortentwicklung des Themas Sexuelle Bildung Erwachsener interessant sein: Einerseits passiert hier derzeit viel, gerade beraterisch und pädagogisch. Andererseits stehen sexualwissenschaftliche Konzepte und Begriffe mit diesem sich etablierenden Feld in Frage. So sind die Begriffe Sexualerziehung, Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung im Rahmen der Konzeption entsprechender Angebote für Kinder und Jugendliche entstanden. Das Konzept der Sexuellen Bildung will dabei auch Erwachsene im Blick haben, gleichzeitig Partizipation und Freiwilligkeit zentral setzen. Gerade im Hinblick auf Angebote im forensischen Bereich, der Sozialpädagogischen Familienhilfen, im Kontext von Behinderteneinrichtungen sowie im Kontext Flucht (etwa in Erstaufnahmeeinrichtungen) kann nicht – oder nur begrenzt – von freiwilligen Angeboten und Möglichkeiten der Partizipation gesprochen werden. Hier scheint es inhaltlich mehr um „Sexualerziehung“ im klassischen Sinn zu gehen. Das wird noch zu reflektieren sein – nicht nur begrifflich, sondern insbesondere ethisch.
Fazit
Endlich liegt ein Überblicksband zu Sexueller Bildung im Erwachsenenalter vor. Er eröffnet das Themenfeld grundlegend und rückt relevante Themen der spezifisch auf Erwachsene zielenden Bildungsarbeit in den Blick. Es ist ihm ein breites Publikum zu wünschen – einerseits von Fachkräften aus der Bildungsarbeit, andererseits von Interessierten, die das Themenfeld der Sexuellen Bildung für Erwachsene wahrnehmen und voranbringen wollen.
[1] Sparmann, Julia (2015): Körperorientierte Ansätze für die Sexuelle Bildung junger Frauen: Eine interdisziplinäre Einführung. Gießen: Psychosozial-Verlag./Sparmann, Julia (2018): Lustvoll körperwärts: Körperorientierte Methoden für die Sexuelle Bildung von Frauen. Gießen: Psychosozial-Verlag.
[2] Pampel, Ralf (2019): Wir reden zu wenig! Angebote zur sexuellen Bildung Erwachsener. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
Website
Mailformular
Es gibt 65 Rezensionen von Heinz-Jürgen Voß.