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Sibylle Janert, André Zirnsak et al.: Autismus beziehungsorientiert behandeln

Rezensiert von Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner, 24.03.2022

Cover Sibylle Janert, André Zirnsak et al.: Autismus beziehungsorientiert behandeln ISBN 978-3-497-03065-1

Sibylle Janert, André Zirnsak, Stephanie Hohndorf, Ilaria Acerbi: Autismus beziehungsorientiert behandeln. Handbuch zur DIRFloortime-Methode. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2021. 270 Seiten. ISBN 978-3-497-03065-1. D: 33,00 EUR, A: 34,00 EUR.

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Thema

Wie kann man Kinder mit autistischen oder autistisch-­ähnlichen Verhaltensweisen in ihrer Entwicklung fördern? Der Antwort auf diese Frage hat sich der sog. DIRFloortime-Ansatz verschrieben, eine Spieltherapie, die mit positiver Emotionalität und einfachen interaktiven Spieleinheiten arbeitet. Das Buch führt in die Entwicklungskonzepte des Ansatzes und Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit ein. (aus dem Klappentext).

AutorInnen

Sibylle Janert, Ruhpolding, Psychologin mit Fortbildung an der Tavistock Clinic, London und als DIRFloortime-Expert Trainerin, ist in eigener Praxis als Coach mit autistischen Kindern und ihren Familien tätig sowie in der Fortbildung im deutsch- und englischsprachigen Raum.

André Zirnsak, Dipl.-Heilpäd. (FH), ist in eigener Praxis in Berlin als Spieltherapeut, Supervisor und Coach mit langjähriger Erfahrung in der Arbeit mit autistischen Kindern und ihren Familien sowie in der Fortbildung tätig.

Stephanie Hohndorf, Dipl.-Psych., Systemische (Kinder- und Jugendlichen-)Therapeutin (SG), ist am Autismus Institut Lübeck tätig.

Ilaria Acerbi, Heilpädagogin M.A., Berlin, arbeitet mit Kindern und Jugendlichen im Autismus-Spektrum.

Aufbau und Inhalt

Im ersten Kapitel (Janert) wird in drei ausführlichen (sehr erfolgreich verlaufenden) Fallbeispielen zum Thema hingeführt. Janert bezieht sich auf die Stärken der elterlichen Fähigkeiten (das „intuitive parenting“) und auf das Vertrauen, die positiven Seiten des Kindes zu sehen und nicht auf das Problemverhalten fokussiert zu sein. Sie betont, das Kind als Individuum zu sehen, das seinen eigenen Entwicklungsweg geht. Sie spricht von autismus-ähnlichem Verhalten, da die Diagnose kontraproduktiv sein könne und bei den Eltern dann ihre eigenen Fantasien und Ängste im Vordergrund stehen und sich im Verhalten äußern.

Kapitel 2 (Zirnsak) betont die Bedeutung einer spielerischen Haltung, bei den Fachkräften und dann auch bei den Eltern und sonstigen Bezugspersonen.

Die folgenden 3 Kapitel erklären die 3 Buchstaben DIR der DIRFloortime-Methode, abgeleitet aus dem englischen „Developmental Individual-difference Relationship-based“.

In Kapitel 3 geht es um die Entwicklung. Orientiert an Greenspan und Wieder, die ab Geburt aufeinander aufbauende funktionale emotionale Entwicklungsebenen als Grundlage einer gesunden Entwicklung mit in jeder Ebene enthaltenen Entwicklungskapazitäten definieren, beschreibt Zirnsak sechs zentrale Ebenen, aufeinander aufbauend bis ins Vorschulalter, sowie drei weitere als Entwicklungsaufgaben bis ins Jugendalter, die nicht mehr zwingend aufeinander aufbauen.

Acerbi beschäftigt sich in Kapitel 4 mit dem „I“, mit individuellen Unterschieden, mit Stärken, emotionale Vorlieben, Ressourcen und Entwicklungshindernissen. Sie bespricht individuelle Unterschiede (Hypo- und Hypersensibilität) in den sensorischen Systemen (auditiv, taktil, visuell, propriozeptiv, vestibulär, gustatorisch, olfaktorisch, viszeral), aber auch Unterschiede in der sprachlichen Entwicklung, in der motorischen Entwicklung, im Muskeltonus, in der motorischen Handlungsplanung und -koordination sowie den feinmotorischen Fertigkeiten. Sie regt viele „detektivische“ Fragen zur genauen Erfassung an, um ein sensomotorisches Profil zu erstellen (festgehalten als individuelles Profil in einem Beobachtungsbogen).

Im nächsten Kapitel geht es um das „R“ (Relationship) (Janert). Sie bespricht das Thema unter vielen Gesichtspunkten und beginnt mit der Bedeutung emotionaler Beziehungen für die Entwicklung, thematisiert Beziehungsabbrüche (auch durch das Handy der Eltern), die Geburt und die erste Beziehung, die Bedeutung von Beziehungen für die Sprachentwicklung. Sie betont, dass Beziehung ein Geben und Nehmen bedeutet.

In einem kurzen Kapitel betont Zirnsak nochmal die Bedeutung des Kinderspiels als Grundlage für eine gesunde Entwicklung.

In Kapitel 7 stellt Hohndorf den für die DIRFloortime-Methode entwickelten Beobachtungsbogen zur Unterstützung der Diagnostik genauer vor.

Im bei weitem längsten Kapitel (über 60 Seiten) geht Zirnsak ausgiebig auf die Praxis ein. Die Darstellung ist für jedes angesprochene Thema und jeden Begriff gleich: Zuerst wird kurz besprochen, um was es geht, um im Anschluss zu zeigen, wie man es umsetzt. Zuerst geht es um eine grundsätzliche Herangehensweise (z.B. „Beobachten, abwarten, staunen“, „der Führung des Kindes folgen“ oder „spielerisch herausfordern und Hindernisse einbauen“), im Weiteren werden zentrale „Griffe und Kniffe“ entlang der in Kapitel 3 besprochenen Entwicklungsebenen vorgestellt. Die Themen werden durch ausführliche Falldarstellungen verdeutlicht.

In Kapitel 9 setzt sich Janert mit der Forschung auseinander. Sie zeigt auf, dass das menschliche Gehirn ein soziales Gehirn ist. Sie kritisiert dabei streng verhaltenstherapeutische Methoden wie ABA, die lange als einzige evidenzbasierte Methode zur Therapie autistischer Kinder galt, und zitiert neuere Studien, die dies zunehmend infrage stellen. Sie unterstreicht die Bedeutung der DIRFloortime-Methode als beziehungsorientierte Methode und beschreibt ausführlich eine amerikanische Studie zur Wirksamkeit. Kritisch sieht sie die Diagnostik von Autismus mit Hilfe von ADOS.

Abschließend geht Zirnsak noch kurz auf eine grundlegende Annahme des DIRFloortime Modells ein: der Affekt-Diathese-Theorie.

Diskussion

Als ich das Buch in die Hand nahm, war ich sofort positiv von dem Titelbild angesprochen, das einen fröhlichen Jungen mit offenem Blickkontakt beim Spiel mit einer erwachsenen Person zeigt. Dies weckt Erwartungen.

Ich kenne den Ansatz von Greenspan und Wieder seit der Erstveröffentlichung auf Deutsch 2001 und habe die Anregungen (z.B. Bodenzeit, Schließen von Kommunikationskreisen) aufgenommen für die Arbeit mit den Kindern und in der Beratung der Eltern.

Deshalb finde ich es gut, dass diese Form der Arbeit mehr Beachtung findet als vor 20 Jahren. Ich finde es schade, dass, obwohl es DIRFloortime heißt, der Begriff der Bodenzeit nur einmal im Buch vorkommt. Ich habe „Bodenzeit“ immer im übertragenen Sinn gesehen, als Zeit, in dem man/frau z.B. den Anregungen des Kindes folgt.

Es wird überzeugend angeregt, nicht danach zu suchen, was einem Kind fehlt, sondern sich aktiv dafür zu interessieren und sich darauf einzulassen, wie das Kind die Welt erlebt, und seine sensorische und mental-emotionale Kapazitäten zu fördern. In der Arbeit mit DIRFloortime möchte man kein Verhalten, auch nicht eine Stereotypie abgewöhnen, sondern seine Bedeutung für das Kind nachvollziehen.

Die Fallbeispiele zeigen eindrücklich die Angst der heutigen Eltern vor der Diagnose Autismus. Die Suche im Internet vergrößert die Verunsicherung, das Verhalten des eigenen Kindes wird ängstlich beobachtet und isolierten Verhaltensweisen (z.B. Wedeln mit der Hand, mangelnder Blickkontakt) wird zu große Bedeutung zugeschrieben.

Einige Kritikpunkte sollen angesprochen werden: Mir fehlen, vor allem im Kapitel „R“, Hinweise und Anregungen aus der Bindungstheorie. Das Ainsworth´sche Feinfühligkeitskonzept, die Autonomie-Bindung-Balance, der Kreis der Sicherheit sowie Mentalisierung und Reflexionsfähigkeit im Sinne Fonagys sind hierbei durchaus relevant.

Um den Beobachtungsbogen, der einen Beurteilungsbogen darstellt, bewerten zu können, fehlen Aussagen zur Beobachterübereinstimmung. So verwundert es nicht, wenn Hohndorf schreibt, dass sie bei einem Fallbeispiel sehr gespannt war, ob die Einschätzung anhand des Beobachtungsbogens mit dem intuitiven Gesamteindruck übereinstimmt und es dies tatsächlich tat (S. 202). Es erstaunt, dass es für Janert „eine eindrückliche Erfahrung“ war, „wie ungeheuer viel Zeit die Vor- und Nachbereitung“ einer Studie einnehmen (S. 293). Aussagekräftige wissenschaftliche Studien bedürfen einer sorgfältigen Planung, Durchführung und Auswertung und dürfen sich nicht nur auf Pilotstudien beschränken.

Ich hätte mir zudem gewünscht, dass Fragen der interdisziplinären Zusammenarbeit mehr besprochen werden. Das Buch wirbt für die DIRFloortime-Methode als „die“ Methode. An dieser Stelle möchte ich Zirnsak zitieren: „Ich würde kühn behaupten, dass uns ein wenig mehr Demut dann und wann ganz gut bekommen würde“ (S 70). Für die interdisziplinäre Frühförderstelle, die diese Kinder betreut, ist die Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen im Rahmen der Komplexleistung von entscheidender Bedeutung.

Es ist zu wünschen und zu hoffen, dass viele Kinder so zuversichtlich in die Zukunft blicken können wie der Junge auf dem Umschlagbild.

Zielgruppen

PsychologInnen, (Kinder-)PsychotherapeutInnen und -PsychiaterInnen, PädiaterInnen, (Sozial-, Heil-)PädagogInnen, ErgotherapeutInnen, LogopädInnen.

Fazit

Das Buch vermittelt als Handbuch die Theorie und Praxis der DIRFloortime-Methode ausführlich und gut nachvollziehbar. Es ist trotz meiner kritischen Punkte ein gutes und wichtiges Buch mit vielen Anregungen für die praktische Arbeit.

Rezension von
Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner
ehem. Leiter der Interdisziplinären Frühförderstellen in Dorfen, Erding und Markt Schwaben im Einrichtungsverbund Steinhöring
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Es gibt 198 Rezensionen von Lothar Unzner.

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ISSN 2190-9245