Adrian Jitschin: Das Leben des jungen Norbert Elias
Rezensiert von Matthias Meitzler, 12.04.2022

Adrian Jitschin: Das Leben des jungen Norbert Elias. Mit E-Book inside. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 634 Seiten. ISBN 978-3-7799-6504-6. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR.
Thema
Norbert Elias (1897-1990) gilt fraglos als Klassiker der Soziologie, an dessen Name niemand vorbeikommt, der sich mit dieser Disziplin näher auseinandersetzt. Besonders große Bekanntheit genießt sein zweibändiges Hauptwerk „Über den Prozess der Zivilisation“, in dem Elias seine Theorie der Wechselwirkungen zwischen personeller und gesellschaftlicher Entwicklung anhand eines umfangreichen Quellenstudiums entfaltet. Nachdem die erstmals 1939 publizierte Arbeit in der wissenschaftlichen Fachwelt lange Zeit kaum beachtet wurde und ihr Autor eine „akademische Schattenexistenz“ (12) fristete, brachte ihm erst die Jahrzehnte später erschienene Neuausgabe eine breite Leserschaft ein. Seither erwies sich die Elias’sche Zivilisationstheorie als einflussreiches Konzept, dem nicht nur die Soziologie, sondern auch angrenzende Disziplinen wichtige Impulse verdanken und in dessen Geist Elias noch viele weitere Schriften zu diversen gesellschaftlichen Themen vorgelegt hat (einen Großteil davon erst nach seinem 70. Lebensjahr). Mit der Frage, inwieweit Elias‘ Denken und Werk durch vorausgegangene biografische Erlebnisse beeinflusst wurden, befasst sich das hier zu besprechende Buch von Adrian Jitschin. Dessen bewusste Fokussierung auf Elias‘ erste Lebenshälfte hat den Effekt, dass der Protagonist nicht als der soziologischer ‚Star‘ porträtiert wird, als der er heute bekannt ist, sondern als ein in der Wissenschaft unbeschriebenes Blatt, als jemand, der entgegen dem elterlichen Wunsch weder ein solides Beschäftigungsverhältnis einging, noch eine Familie gründete, der immer wieder Rückschläge erdulden musste, über weite Strecken ohne Aussicht auf eine akademische Karriere lebte – und der doch nie die Hoffnung aufgegeben hat.
Autor
Jitischin hat Soziologie und Sozialgeschichte an der Universität Marburg studiert. In seiner Doktorarbeit beschäftigte er sich mit der Geschichte des indischen Versicherungssystems. Seit 2013 ist er Leiter des Regionalzentrums Frankfurt der Fernuniversität Hagen. Er ist außerdem im Vorstand der Norbert-Elias-Stiftung.
Entstehungshintergrund
Die Publikation ist das Ergebnis umfangreicher, circa zehn Jahre andauernder Recherchen des Autors. Im Zuge einer Schlesien-Reise, auf der er seine eigene Familiengeschichte ergründete, reifte die Motivation, zugleich Näheres über die schlesischen Wurzeln von Elias in Erfahrung zu bringen. In den Archiven stieß er auf einige Unstimmigkeiten zwischen dem, was an Dokumenten erhalten war, und dem, was bisher über Elias publiziert wurde. Einen ersten biografischen Abriss legte Jitschin 2012 der Norbert-Elias-Stiftung vor, die seinen Text ein Jahr später veröffentlichte und ihn bei weiteren Ausarbeitungen unterstützte. Hierfür nahm er auch Kontakt zu noch lebenden Verwandten von Elias auf – die nichts von dessen akademischer Berühmtheit wussten.
Aufbau und Inhalt
Der über 600 Seiten starke Band orientiert sich – wie für eine Biografie üblich – an einzelnen Lebensstationen seines Hauptakteurs. Er ist in vier größere Blöcke gegliedert:
Heranwachsen (1897-1919)
Elias wird am 22. Juni 1897 im schlesischen Breslau als einziges Kind wohlhabender Eltern jüdischer Herkunft geboren. Er wächst in behüteten Verhältnissen auf, wird von Gouvernanten umsorgt und erhält – bevor er im Alter von neun Jahren erstmals eine Schule betritt – Privatunterricht durch einen Hauslehrer. Neben einer chronologischen Schilderung der Breslauer Kindheits- und Jugendjahre zeichnet der Autor ein umfassendes Porträt der Familie Elias, indem er einzelne Verwandte und deren biografischen Hintergründe vorstellt. Auf diese Weise wird ersichtlich, inwieweit das Fundament für Elias‘ spätere soziologische Theorie zum Teil bereits in seiner Kindheit angelegt ist und welche primärsozialisatorischen Einflüsse hierfür eine Rolle spielen. Leser*innen erhalten obendrein Einblicke in die Sozialstruktur Breslaus zur Zeit des Kaiserreichs.
Einen ersten biografischen Bruch stellt der Kriegsbeginn 1914 dar. Elias‘ Eintritt ins Militär erfolgt nicht, wie zur damaligen Zeit verbreitet, aus Kriegsbegeisterung und einer patriotischen Grundhaltung heraus, sondern ist einem ganz und gar pragmatischem Motiv geschuldet: Hierdurch kann er das Abitur um ein Jahr vorziehen und die Schule früher verlassen. Während des Ersten Weltkrieges ist Elias in der Artillerie tätig, eine Kriegsverletzung (Beinbruch) bringt ihn ins Lazarett, derweil seine Schulfreunde sterben. Gesonderte Aufmerksamkeit erhalten in diesem Abschnitt die einschneidenden Auswirkungen des Krieges auf Elias‘ Seelenleben – ein Punkt, über den er mehr als ein halbes Jahrhundert lang nicht in der Öffentlichkeit sprach.
Studieren (1919-1924)
Anschließend werden die Nachkriegsjahre beschrieben, in denen Elias zu studieren beginnt: zunächst Medizin, dann Philosophie. Währenddessen engagiert er sich im jüdischen Wanderbund Blau-Weiß. Wenngleich er das (vor allem auf den väterlichen Wunsch hin) aufgenommene Studium der Medizin nicht zu Ende führt – kurz nach dem Physikum bricht er ab –, erweist es sich für sein späteres Wirken als prägend. So hebt er in seinen Texten immer wieder hervor, dass soziale und naturwissenschaftliche Vorgänge nicht voneinander zu trennen seien und zusammen gedacht werden müssen. Seine philosophische Dissertation verfasst er im Geiste des Neukantianismus. Von dieser Arbeit (mit dem Titel ‚Idee und Individuum‘) sowie von der neukantianischen Prämisse des (ahistorischen) a priori distanziert er sich wenig später. Indem die Philosophie auf das vereinzelte Individuum konzentriert sei, lasse sie längerfristige historische Entwicklungen und zwischenmenschliche Abhängigkeiten außer Acht. Wie sehr der einzelne Mensch vom Gesellschaftsgefüge abhängig ist und wie machtlos er ihm gegenübersteht, erfährt Elias während des Krieges am eigenen Leib. Seine frühe Kritik am homo clausus, d.h. an der Idee eines hermetisch abgeriegelten Menschen, ebnet ihm schließlich den Weg hin zur Soziologie und ist für sein weiteres Denken und Arbeiten von großer Bedeutung. Zunächst ist er jedoch gezwungen, seine akademischen Tätigkeiten für zwei Jahre ruhen zu lassen und in einer Eisenwarenfabrik zu arbeiten. Aufgrund der Wirtschaftskrise und der daraus resultierenden Inflation geht das familiäre Vermögen verloren und seine Eltern können ihn nicht mehr unterstützen. Obwohl ihn dies von seinen akademischen Zielen entfernt, stellt sich die Zeit in der Fabrik (ebenso wie die als Soldat) in der Nachbetrachtung insofern als biografisch wertvoll heraus, als er dem wissenschaftlichen Elfenbeinturm für eine Weile entkommen kann.
Nachdem „[d]as unmittelbare finanzielle Übel (…) abgewandt“ (233) ist, zieht es Elias nach Heidelberg, wo er bereits 1919 ein Gastsemester verbracht hat und er sich nun endgültig der Soziologie zuwenden kann. Er freundet sich mit dem nur vier Jahre älteren Privatdozenten Karl Mannheim an und kommt dadurch auch mit dem Kultursoziologen Alfred Weber in Kontakt, dem jüngeren Bruder des zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbenen Max Weber. Letzterer hatte einst den ‚Heidelberger Salon‘ gegründet – ein im wöchentlichen Turnus stattfindender Gesprächskreis aus Heidelberger Intellektuellen, der nun von seiner Witwe Marianne Weber fortgesetzt wird. Als auch Elias daran teilnimmt und mit einem Vortrag auf positive Resonanz stößt, sind die Voraussetzungen erfüllt, um sich bei A. Weber zu habilitieren. Weil dieser jedoch noch vier weitere Habilitanden hat, die vor Elias an der Reihe sind, hätte letzterer eine mehrjährige Wartezeit in Kauf nehmen müssen. Stattdessen entscheidet er sich, dem inzwischen nach Frankfurt berufenen Mannheim zu folgen und seine Habilitation bei ihm abzulegen.
Lehren (1925-1933)
An der Universität Frankfurt nimmt Elias 1930 seine soziologische Lehrtätigkeit auf, wird Mannheims Assistent und verfasst seine Habilitationsschrift „Der höfische Mensch“ (1969 veröffentlicht als ‚Die Höfische Gesellschaft‘). Das Habilitationsverfahren kann indes nicht mehr beendet werden, denn vor der noch ausstehenden Antrittsvorlesung kommen die Nationalsozialisten an die Macht, Juden wird die Arbeit an deutschen Universitäten untersagt und die Soziologie verliert ihre institutionelle Grundlage. Elias‘ Karriere ist damit ein vorläufiges Ende gesetzt.
Fliehen (1933-1940)
Angesichts dieser gravierenden Veränderungen beschließt Elias, Deutschland zu verlassen. Er flieht zunächst nach Frankreich, zwei Jahre später gelangt er nach England. Von nun an verbringt er viel Zeit im Lesesaal des British Museums, wo er Benimmbücher aus verschiedenen historischen Epochen studiert und schließlich seine Arbeit „Über den Prozess der Zivilisation“ verfasst. Wie Kollegen (unter ihnen z.B. Sigmund Freud, Johan Huizinga, Stefan Zweig, Karl Mannheim, Klaus und Thomas Mann) und Rezensenten auf die Zusendung der fertigen Exemplare reagieren, erfährt man auf den letzten Seiten. Auch werden Eindrücke von Elias‘ damaliger Situation vermittelt: „Er war nun ein Mann von 43 Jahren. Seine akademische Karriere lag in Trümmern. Finanziell hatte er nichts erreicht, privat hatte er nicht der Hoffnung seiner Eltern auf Enkel entsprechen können.“ (533). Das Buch endet mit einem Brief, den Elias zu Beginn des Jahres 1941 an seine Eltern schreibt. Seit Längerem hat er vergeblich versucht, sie mithilfe von ausreichendem Einkommen zu sich nach England zu holen.
Diskussion
Der Band besticht vor allem durch seinen bemerkenswerten Detailreichtum. Seite für Seite, Kapitel für Kapitel offenbart sich die Akribie, mit der der Autor recherchiert hat. Seine Beschreibungen, Seitenblicke und Analysen werden von vielen Originalzitaten sowie Dokumenten in Form von abgedruckten Briefen, Tagebuchauszügen, Urkunden, Zeitungsausschnitten und Fotografien ergänzt. Das verleiht dem Buch ein besonderes Maß an Anschaulichkeit und lässt die Lektüre schon beinahe wie einen Gang durch ein Archiv erscheinen.
Elias tritt dabei nicht lediglich als öffentliche Person auf, sondern man erhält auch den einen oder anderen Einblick in sein Privatleben. Berichtet wird etwa von „verschiedene[n] Begegnungen mit jungen Frauen, die intime Beziehungen nahelegen“, ohne dass hieraus feste Partnerschaften oder gar noch mehr entstanden wäre. „Eine Rolle als Familienernährer und Patriarch strebte Elias sicher nicht an. Das widersprach all seinen Idealen und seiner intellektuellen Neugier.“ (241). Auch sein Umgang mit seiner Homosexualität vor dem Hintergrund seiner bürgerlichen Existenz wird thematisiert.
Das Buch bietet mehr als eine ausführliche Charakterisierung einer einzelnen Person. Indem es auch zahlreiche Weggefährt*innen (Familienangehörige, Freund*innen, intellektuelle Bekanntschaften usw.) sowie die jeweiligen politischen Verhältnisse und gesellschaftsrelevante Großereignisse in den Blick nimmt, gelingt es dem Verfasser, plastisch und zugleich differenziert nachzuzeichnen, wie all dies das Werden des ,Menschenwissenschaftlers‘ Norbert Elias begünstigt hat. Ganz im Elias’schen Sinne wird zum einen deutlich, dass sich das Leben eines Menschen letztlich genauso entwickelt wie Gesellschaft: ungeplant. Zum anderen zeigt sich, dass ein wissenschaftliches Werk nie das alleinige Produkt eines Einzelnen darstellt, sondern immer auch auf dessen figurative Verstrickungen zurückgeht. „Wer Elias verstehen will, muss die Strömungen seiner Zeit verstehen, die Art, wie Andere die Wissenschaften vom Menschen interpretierten und wie er sich von ihnen abgrenzte.“ (13). Dazu gehört nicht zuletzt die enge Verzahnung zwischen seiner Biografie und der Geschichte seines Faches. In der Zeit, als sich Elias der Soziologie zuwandte, stand diese noch an ihren Anfängen; ihre weitere Entwicklung war höchst ungewiss. Sie „musste sich erst als neue Wissenschaft gegen andere Disziplinen, die über Menschen forschten, etablieren. Ihre bis dahin prägenden Vordenker […] hatten nie Professuren für Soziologie erhalten. Sie hatten sich entweder mit niedrigeren akademischen Titeln begnügen oder ihre akademische Karriere auf Lehrstühlen anderer Disziplinen bestreiten müssen. […] Selbst in den Kreisen der Soziologen war zu dieser Zeit umstritten, ob man den Status einer selbständigen Wissenschaft anstreben sollte oder sich als gemeinsames Forschungsparadigma anderer Disziplinen sehen solle“ (283).
Der Band schließt biografische Lücken und räumt überdies mit einigen Missverständnissen auf. Er liefert somit keineswegs bloß alten Wein in neuen Schläuchen, sondern ergänzt das schon Bekannte um weitere Aspekte. Für eilige Leser*innen, die sich in möglichst kurzer Zeit einen möglichst kompakten Überblick über Elias‘ Lebensgeschichte verschaffen wollen, mag die Lektüre schon wegen ihres enormen Umfangs und den zahlreichen, sich über etliche Seiten erstreckenden Vertiefungen eine Überforderung darstellen. Wer sich also nicht lange mit Details aufhalten möchte, der ist mit übersichtlicheren, auf die wesentlichen Zusammenhänge reduzierten Abhandlungen besser beraten. Möchte man über ein solches biografisches Grundgerüst hinaus jedoch genauer verstehen, welche Sozialisationsagent*innen, Figurationen, Ereignisse und Entscheidungen Elias zu jener Forscherpersönlichkeit gemacht haben, die er gewesen ist, dann stellt sich Jitschins Arbeit als unverzichtbar heraus.
Fazit
Wie wird ,man‘ Norbert Elias? Kein anderes Buch hat diese Frage bislang so ernst genommen, wie das vorliegende. Es handelt sich um einen besonders wertvollen Beitrag zur Elias-Forschung, der in seiner Detailfülle und Präzision einmalig ist. Wer sich vor allem für die eher wenig beleuchteten Seiten von Elias‘ erster Lebenshälfte interessiert – und die hierfür notwendige Geduld mitbringt –, wird mit diesem Band ein großes Vergnügen haben.
Rezension von
Matthias Meitzler
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