Siegfried J. Schmidt: Lernen, Wissen, Kompetenz
Rezensiert von Mag. Andreas Paula, 31.01.2006
Siegfried J. Schmidt: Lernen, Wissen, Kompetenz. Vorschläge zur Bestimmung von vier Unbekannten. Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2005. 256 Seiten. ISBN 978-3-89670-496-2. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 52,00 sFr.
Über den Autor
Siegfried. J. Schmidt, Prof. Dr., geb. 1940 in Jülich, studierte Philosophie, Germanistik, Linguistik, Geschichte und Kunstgeschichte in Freiburg, Göttingen und Münster. Ab 1979 Prof. für Germanistik, Literaturwissenschaften an der Universität-GH Siegen, ab 1984 Direktor des Institutes für empirische Literatur- und Medienforschung der Universität Siegen. Seit 1997 Prof. für Kommunikationstheorie und Medienkultur an der Universität Münster und Direktor des Instituts für Kommunikationswissenschaft. Ehrendoktor der Universität Klagenfurt.
Zum Hintergrund
In der Art und Weise, wie in der "Post-Pisa-Ära" die Ergebnisse der Untersuchung öffentlich diskutiert wurden, macht es wieder einmal deutlich: Die Frage nach den Inhalten und nach der Qualität von Bildung ist nur eine Seite der Diskussion. Die zweite Seite - sie liegt nach wie vor im Schatten der öffentlichen Diskussion - ist die Frage mit welchen Konzepten, Ideen und Bildern das Thema Bildung und Lernen heute diskutiert wird, bzw. diskutiert werden kann. Der Schatten auf das öffentliche und interne Diskussionsbewusstsein ist noch derart dunkel, dass sich die Idee der Vergabe von PISA-Noten für die wissenschaftlichen bzw. bildungspolitischen Diskursträger noch nicht durchsetzen konnte. In dieser Zeit kommt das Werk von S.J. Schmidt "Lernen, Wissen, Kompetenz, Kultur, Vorschläge zur Bestimmung von vier Unbekannten" gerade recht.
Aufbau und Inhalt
S.J. Schmidt bietet mit der vorliegenden Arbeit Vorschläge zur Systematisierung der vielfältigen und mitunter diffusen Begrifflichkeiten Lernen, Kultur, Kompetenz und Wissen an. Seine Argumentation baut auf der Theorie von "Geschichten und Diskurse" auf, die ein Weiterdenken konstruktivistischer Ansätze darstellt. (siehe auch. S.J Schmidt, Geschichten und Diskurse, Abschied vom Konstruktivismus, Rowohlt 2003) Die vom Konstruktivismus aufgebrachte Frage der Selbstorganisationsfähigkeit von Systemen bzw. individueller Lernprozesse war wohl - auf der theoretischen Ebene - ein Meilenstein in der bildungspolitischen Diskussion. Die Verbindung zwischen konstruktivistischer Theorie und einer ausreichend verbreiteten öffentlichen Rezeption sowie der entsprechenden didaktischen Praxis lässt allerdings noch auf sich warten. Die Praxis - so der Autor - kommt noch nicht zu derselben Konsequenz wie die Theorie; "nämlich dass nach menschlichen Ermessen die Option der Selbstorganisation (Anmerkung: von Lernprozessen) die beste ist". Als Grundlage für die notwendige Verbindung von Theorie und Praxis stellt S.J.Schmidt einen "modifizierten Konstruktivismus" vor, der den weit verzweigten Diskurs über Lernen, Kultur, Kompetenz und Wissen zu systematisieren helfen soll.
- Im ersten Abschnitt des Buches "Parallele Karrieren" (Seiten 10-23) gibt Schmidt dem Leser einen kompakten Überblick über die Entwicklung bildungspolitischer Diskurse und Realitäten. Gesellschaftliche Entwicklungen und wissenschaftliche Theorien sind jeweils der Hintergrund, vor dem sich bildungspolitische Diskurskarrieren entfalten konnten und können. Die Zusammenhänge werden hier lediglich kurz angedeutet, geben aber bereits einen Einblick in die vielseitig vernetzte Denk- und Analysearbeit, die den Leser, die Leserin in "Lernen, Wissen, Kompetenz, Kultur" erwartet.
- Den
umfangreichsten Teil seines Buches widmet der Autor der Darstellung der
theoretischen Grundlage seiner Argumentationen, die in den folgenden
Kapiteln als Analyseinstrument für Lern- und Bildungskonzepte dienen
sollen. (Kapitel 2, Seiten 24-93)
In diesem Abschnitt entwickelt S.J. Schmidt "Die Theoriegrundlage" von
Gesellschaft und Kultur, die zwischen kognitiver Autonomie der Individuen
auf der einen Seite und sozialer Bindungen und Bedingungen auf der anderen
Seite vermittelt. Kerngedanke
seiner philosophische/theoretischen Überlegungen ist der Begriff der
"Geschichten und Diskurse". Schmidt
argumentiert seine Theorie nicht "extern", wie dies der Konstruktivismus
z.B. mit Berufung auf Befunden aus der Neurobiologie, der Psychologie oder
den Kognitionswissenschaften getan hat. Schmidts theoretischer Ansatz denkt die
konstruktivistischen Überlegungen insofern weiter, als die zentralen
Aspekte des individuellen sozialen Lebens (Bewusstsein, Identität,
Wahrnehmung, Kommunikation, Handlung usw.) in einer Theorie erklärt
werden, die sich immer auf sich selbst bezieht und somit auf sich selbst
anwendbar ist. Schmidt kann
als Vertreter eines soziokulturellen Konstruktivismus bezeichnet werden,
der mit seiner Theorie eine in sich plausible Konstruktion von
Wirklichkeitskonstruktionen anbietet. Die Theorie "Geschichten und
Diskurse" Schmidts bezieht
sich konsequenter Weise auf die, dem System (hier den Bildungs- und
Lernsystemen) eigenen Denknotwendigkeiten. Die Argumentation Schmidts lässt sich wohl am besten - in der hier
gebotenen Kürze - durch die Darstellung einiger für "Geschichten und
Diskurse" wesentliche Prinzipien erläutern.
Jede Handlung bzw. jede Kommunikation bezieht sich auf vorausgegangene bzw. bereits laufende Geschichten und Diskurse (Einbettungsprinzip). Jede Setzung ist selektiv und zufällig (d.h. es hätte auch eine andere sein können). Aber sie transformiert unspezifische in spezifische Kontingenz (Transformationsprinzip). Reflexive Wahrnehmung erzeugt Wissen, welches Vergesellschaftung und - auf der Basis von systemspezifischen Unterscheidungen - die Verwendung von Sprache für Kommunikation ermöglicht (Reflexivitätsprinzip). Daraus lässt sich ableiten, dass gemeinsames Wissen eine systeminterne Ordnung und Beobachtungsmöglichkeit haben muss. Diese Ordnung wird durch gemeinsame Wirklichkeitsmodelle gewährleistet (Prinzip kollektiver Ordnungsbildung durch Aktanten). Ein wesentliches Prinzip für die Theorie der "Geschichten und Diskurse" liegt in der Bewertung der kognitiven Autonomie (d.h. direkte Interventionen in operierende Systeme sind unmöglich). Es ist zwar richtig, dass sich Menschen an ihren eigenen Orientierungen orientieren, aber - und das macht einen wesentlichen Unterschied - ganz gleich, woher sie diese Orientierung beziehen (Prinzip der kognitiven Autonomie bzw. der Selbstorientierung).
Eine wesentliche Konsequenz, die daraus für den Lehr- und Lerndiskurs gezogen werden kann, formuliert Schmidt im Prinzip der strategischen Reflexivierung. Das heißt konkret für das Feld unserer Diskussion, dass der Weg vom Lernen zum Selbstlernen, von der Beobachtung zur Selbstbeobachtung, von der linearen Intervention zur Orientierung zur Selbstorientierung in Lehr- und Lernprozessen führen muss. Kognitive Systeme müssen sich ständig mit ihrer Umwelt in Beziehung setzen, damit sie sozial handlungsfähig bleiben. Dies bedeutet, dass sich System und Umwelt laufend gegenseitig konstituieren (Komplementaritätsprinzip). Kognitive Autonomie und soziale Orientierung sind nicht nur möglich, sondern ergänzen sich gegenseitig. (Prinzip der operativen Fiktionen). Dies bedeutet, dass alle unsere Handlungen und Kommunikationen in Zusammenhänge von vorangehenden und nachfolgenden Handlungen und Kommunikationen eingebunden sind. Wir orientieren uns in all unserem Denken und Handeln an unseren Geschichten und der Art und Weise wie wir darüber in Diskurs treten (d.h. darüber sprechen oder nicht sprechen). Wir bewegen uns stets in Modellen unserer Wirklichkeiten. Sie systematisieren den Umgang mit allen wesentlichen Bezugsbereichen. Die Wirklichkeitsmodelle beziehen die jeweiligen Umwelten, Aktanten, Vergesellschaftungsformen, Gefühle und Werte mit ein. Auf dieser Basis agieren wir einerseits stets im Einfluss unseren Geschichten und Diskursen (über unsere Geschichten).
Das Zusammenspiel der Wirklichkeitsmodelle und der Kulturprogramme vermittelt zwischen kognitiver Autonomie, sozialer Orientierung und der pragmatischen Bearbeitung von Kontingenz (d.h. Möglichkeiten der Entscheidung). Dieses Zusammenspiel wird relevant bzw. beobachtbar in konkreten Handlungs- und Kommunikationszusammenhängen. Wirklichkeitsmodelle helfen, die für das Leben in der Gesellschaft relevanten Bezugsbereichen zu systematisieren. D.h. sie ermöglichen deren Verschränkung. Die fünf Bezugsbereiche Umwelt, Aktanten, Vergesellschaftung, Gefühle und Werte stehen in einem sich gegenseitig beeinflussenden Verhältnis.
Schmidt entwickelt in den nun folgenden Abschnitten - auf Basis seiner theoretischen Überlegungen zu "Geschichten und Diskurse" - Wege und Möglichkeiten an die unterschiedlichen Denkmuster und Begrifflichkeiten bildungspolitischer Diskurse aus der Sackgasse des dualistischen Denkens herauszuführen. Durch "Geschichten und Diskurse" als Grundlage bildungspolitischer Diskurse, wird eine nicht-dualistische Perspektive konstruktivistischen Denkens eröffnet. In den Abschnitten drei, vier und fünf (Seiten 94-209) legt er die philosophisch/theoretische Argumentation des Abschnittes zwei gewissermaßen als Folie über die unterschiedlichen Praxisfelder. Die unterschiedlichen Ebenen der Diskussion der Begrifflichkeiten, Lernen, Lernkultur, Wissen und Kompetenz bzw. Kompetenzentwicklung werden detailliert mit der Brille der "Theorie der Geschichten und Diskurse" analysiert und diskutiert. Die Grundlagentheoretische Vorgaben werden auf ihre Praxisfähigkeit überprüft und unter anderem zu folgenden Thesen zusammengeführt:
- Kognitive Autonomie wird mit sozialer Orientierung über kollektives Wissen mittels operativer Fiktionen vermittelt.
- Die Unmöglichkeit einer direkten Intervention in kognitive Systeme wird durch Angebote zur Selbststeuerung - im geeigneten Kontext der Geschichten und Diskurse - umgangen.
- Fremdbestimmte Lernangebote müssen kommunikativ reflexionsfähig gemacht werden, damit kognitive Systeme selbstbestimmt über deren Nutzung entscheiden können.
- Objektive Kompetenzmessung ist zwar unwahrscheinlich, trotzdem können Indikatoren bezüglich der Performanz (z.B. Erfahrungsveränderung) entwickelt werden.
- Beobachtungsprozesse, Handlungen und Kommunikationen schaffen Beobachtungs-, Handlungs- und Kommunikationsrealitäten. Wir müssen diesen Wirklichkeiten keine eigene Realitätsbestätigung hinzufügen.
- Eine logische Konsequenz des vorliegenden detaillierten und konsequenten Denk-, Arbeits- und Schreibstils Schmidts Analyse ist das abschließende Kapitel sechs (Seite 210-237), in dem es um Unternehmenskultur geht. Lernen und Lernkultur lassen sich nicht auf einzelne Individuen reduzieren. Themen wie die Diskussion des organisationalen Lernens, des Wissensmanagements und der Netzwerkkompetenz werden vor dem Hintergrund der Definition des Unternehmens als Prozesskultur (d.h. Beobachten, Kommunizieren und Entscheiden) diskutiert. Ebenso wie bei individuellem Lernen gibt es auch hier den Bezug zu den fünf Dimensionen des Wirklichkeitsmodells (Umwelt, Aktanten, Institutionalisierung, Gefühl und Moral). Die Wahrnehmung der spezifischen Wirklichkeiten im Unternehmen ist eine Frage der Unternehmenskultur. Diese ist also für eine lernende Organisation keineswegs ein "weicher Faktor", den man nach Lust und Laune einsetzen kann, sondern Existenz- bzw. Erfolgsvoraussetzung.
- Statt eines Nachwortes (Seite 240-246) gibt Schmidt dem Leser / der Leserin noch auf den Weg mit, dass die Verantwortlichen in Lern- und Kompetenzsystemen, die Aufgabe hätten, lern- und kompetenzkulturell gut vorbereitet zu sein. Der Rezensent kann dem nur beipflichten und zur Vorbereitung das vorliegende Buch empfehlen. Denn Konzepte wie Lernen, Kompetenz, Wissen usw. sind immer Produkte bestimmter Diskurse, die im Orientierungsrahmen von Wirklichkeitsmodellen entstehen und sich ihren Referenzbereich selbst organisierend konstituieren. Schmidt leitet aus der Theorie "Geschichten und Diskurse" - vor dem Hintergrund konstruktivistischer Überlegungen - konsequent ab, dass Lernende kognitiv autonome Systeme sind, die sich "kulturprogrammiert an kollektivem Wissen" orientieren. Daher wird die Übertragung von neutralen Informationen in Lehr- Lernprozessen durch Kommunikation unmöglich. Kommunikation als Werkzeug für den Lehr- Lehrprozess muss ein gemeinsamer reflexiver sozialer Prozess sein. "Die Didaktik steht vor der schwierigen Aufgabe, Lerner in Lernarragements bzw. Lernumgebung zu bringen, in denen sie können, was sie wollen, weil sie wollen dürfen, was sie können sollen." Nicht alle Akteure im Bildungssystem sind sich dieser Herausforderung bewusst.
Fazit
Der vorliegende Band macht es - wieder einmal - verständlich, warum Veränderungen in Bildungssysteme sich stets langsam vollziehen. Das Beharrungsvermögen bildungspolitischer Systeme lässt sich sicherlich auch darauf rückführen, dass es - noch nicht - nicht zu unserer bildungspolitischen Kultur gehört, dass Konzepte von bildungspolitischer Bedeutung mit einer derartig vielschichtigen Gründlichkeit und Konsequenz - wie in vorliegendem Band - auch auf theoretischen Ebene diskutiert und ihre Anschlussfähigkeit in die Praxis überprüft werden. Daher bleibt es zu wünschen, dass sich möglichst viele Akteure im Bildungswesen dieser von Schmidt initiierten Diskussion stellen.
Rezension von
Mag. Andreas Paula
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Die Wiener Volkshochschulen GmbH
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Zitiervorschlag
Andreas Paula. Rezension vom 31.01.2006 zu:
Siegfried J. Schmidt: Lernen, Wissen, Kompetenz. Vorschläge zur Bestimmung von vier Unbekannten. Carl Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2005.
ISBN 978-3-89670-496-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/2894.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
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