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Boike Rehbein: Die kapitalistische Gesellschaft

Rezensiert von Sabine Hollewedde, 14.12.2021

Cover Boike Rehbein: Die kapitalistische Gesellschaft ISBN 978-3-8252-5765-1

Boike Rehbein: Die kapitalistische Gesellschaft. UTB (Stuttgart) 2021. 240 Seiten. ISBN 978-3-8252-5765-1. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 26,90 sFr.

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Thema

Wie ist unsere gegenwärtige Gesellschaft zu charakterisieren? Wie funktioniert sie und wodurch wird sie bestimmt? Boike Rehbein stellt in seinem Buch die Funktionsweise der kapitalistischen Gesellschaft dar. Es geht ihm darum, „das System der kapitalistischen Gesellschaft in seiner Gesamtheit“ (S. 10) zu erfassen. Konkret nimmt sich Rehbein vor, „den Zusammenhang von Wirtschaft, Politik, Recht, Gesellschaft und Öffentlichkeit im Kapitalismus [zu; S.H.] erklären.“ (ebd.) Dabei wendet sich der Autor in seinen Analysen sowohl gegen naturalistische als auch gegen verschwörungstheoretische Ideologien, welche die kapitalistische Gesellschaft aufgrund ihrer scheinbaren Undurchschaubarkeit produziere. Der Autor argumentiert, dass gesellschaftliche Prozesse durchaus zu erklären seien, wenn die zugrundeliegende Herrschaft analysiert werde. „Das vorliegende Buch ist notwendig, weil die Strukturen und Prozesse der Herrschaft im Kapitalismus nicht sichtbar sind. Ebenso unsichtbar ist die herrschende Klasse selbst.“ (S. 173)

Autor

Boike Rehbein ist Professor für Gesellschaft und Transformation in Asien und Afrika am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin.

Aufbau

Das Buch gliedert sich inklusive Einleitung und Fazit in elf Kapitel, die jeweils weiter unterteilt sind. Zunächst behandelt Rehbein Vorgeschichte und Grundbegriffe wie Kapital und Arbeit, Ungleichheit und Herrschaft, daraufhin werden die globale Ordnung, das Finanzkapital, die Politik, das Recht, Medien, Bildung und Wissenschaft sowie die herrschende Klasse thematisiert.

Inhalt

Einleitend stellt Rehbein seine Hauptthesen vor, die im Band an den verschiedenen Gegenständen erläutert werden. Grundlegend sei, „dass Kapitalismus eine Form der Ausbeutung ist, die ohne andere Formen des Wirtschaftens – beispielsweise Tausch, freundschaftliche Hilfe, Ehrenamt und Markt – nicht existieren kann.“ (S. 9) Zudem sei der Kapitalismus „nicht vorrangig eine Wirtschaftsform oder eine Produktionsweise, sondern eine Vermittlung von Herrschaft.“ (ebd.) Der Autor stellt klar, dass Geld nicht mit Kapital zu verwechseln sei. Letzteres sei „ein Mittel, um die ungleiche Verteilung von Privilegien zu sichern“ (S. 10) und die Wirtschaft sei „lediglich ein Aspekt der kapitalistischen Gesellschaft“ (ebd.), weshalb es dem Autor darum geht, die Gesamtheit der Strukturen zu erfassen, welche die kapitalistische Gesellschaft bilden.

Das zweite Kapitel befass sich mit der Vorgeschichte der kapitalistischen Gesellschaft. Rehbein erklärt die Entwicklung des Handels und Finanzwesens und hebt die Bedeutung des Kolonialismus für die Entwicklung westlicher Gesellschaften hervor. Auch Ausbeutung der Natur, die Entstehung der Klassen und die Rolle von ‚Freiheit und Gleichheit‘ werden hier knapp unter „Vorgeschichte“ behandelt. Das Kapitel schließt ab mit einer Bestimmung von „Kapitalismus und Markt“. Rehbein betont, dass beides voneinander zu unterscheiden sei. „Der Markt und die soziale Wirtschaft haben wenig mit Marktwirtschaft und Kapitalismus gemeinsam. Sie werden ‚von unten‘ organisiert, dienen dem Überleben, sind nicht auf Profit ausgerichtet und implizieren keine Klassenherrschaft. […] Vielmehr lebt der Kapitalismus gleichsam als Parasit vom Markt und von der sozialen Wirtschaft. Er beherrscht und verändert diese, ersetzt sie aber nicht.“ (S. 44) Sowohl „Wochenmarkt“ als auch „Marktwirtschaft“ seien nicht mit Kapitalismus identisch. Vielmehr tendiere der Kapitalismus dahin, diese aufzuheben. „Der Kapitalismus widerspricht tendenziell beiden Formen des Marktes, weil sein Ziel von Anfang an die Konzentration des Gewinns in einer privilegierten Gruppe ist.“ (S. 45)

Nachdem für den Kapitalismus wichtige historische Entwicklungen dargestellt wurden, schließt das dritte Kapitel mit Erläuterungen zu Kapital und Arbeit an. „Eine der wichtigsten Eigenschaften des heutigen Kapitalismus ist die Beschäftigung von Lohnarbeitern durch das Kapital.“ (S. 47) Hingegen sei die Marx’sche Annahme einer Teilung in Industrielle und Lohnarbeiter nicht zutreffend. Kapital sei als ein Vermögen zu bestimmen, das gewinnbringend investiert wird, nicht aber als bloßer Besitz. Lediglich 0,1 Prozent der Bevölkerung verfüge über Kapital, der Rest erarbeitet „seinen eigenen Lebensunterhalt und den Profit der Kapitaleigner.“ (S. 49) Rehbein widerspricht der Annahme des Marxismus, „dass Profit durch Ausbeutung von Arbeitskraft erzeugt wird“ (S. 51) und einer laut Rehbein darauf aufbauenden „naturwissenschaftlichen Sicht auf die Wirtschaft“. „Tatsächlich erwächst der größte Teil des Profits im Kapitalismus jedoch aus Prozessen, die Verwandtschaft mit dem Raub aufweisen.“ (S. 52) Die Ausbeutung der Arbeitskraft spiele hingegen „für den Kapitalismus eine untergeordnete Rolle“. (ebd.) Gleichwohl betont Rehbein den Zwang zur Lohnarbeit, der alle betreffe, die nicht zu den 0,1 Prozent gehören. „Wir alle werden in den Kapitalismus integriert durch Arbeit, die letztlich Zwang ist“. (S. 56) Und diese „Arbeit ist im Kapitalismus nur insofern von Bedeutung, als sie profitabel ausgenutzt werden kann.“ (S. 57)

Mit Ungleichheit und Herrschaft ist das vierte Kapitel überschrieben. Der Autor unterscheidet zwischen ökonomischen und sozialen Klassen, wobei er die sozialen Klassen für grundlegender hält: „Uns allen wird vorgegaukelt, dass das gesellschaftliche Ziel im Kapitalismus darin bestehe, viel Geld zu verdienen. […] Dabei wird zweierlei verdeckt. Erstens reicht Geld allein nicht aus, um eine Spitzenposition in der Gesellschaft einzunehmen. Zweitens geht es am Ende nicht um Geld, sondern um Herrschaft. Daher muss man über die rein ökonomische Betrachtung von Ungleichheit hinausgehen.“ (S. 62) Geld sei auch im Kapitalismus lediglich ein Mittel, um eine privilegierte Position zu erhalten. „Das Ziel im Kapitalismus besteht in der Erringung oder Bewahrung einer Herrschaftsposition oder der Mitgliedschaft in der obersten sozialen Klasse, die ich als herrschende Klasse bezeichne, weil sie sich eben durch Herrschaft auszeichnet.“ (S. 64) Unter Bezugnahme auf Bourdieu erläutert Rehbein seine These, dass Geld zum Zugang zu dieser Klasse nicht hinreiche. Es werden im Anschluss soziale Klassen in Deutschland und im internationalen Vergleich dargestellt. Zusammenfassend stellt der Autor fest, „dass es im Kapitalismus tatsächlich um Kapital geht, dass der Kapitalismus aber nur die Oberfläche bestimmt und dass die kapitalistische Klassenstruktur die Herrschaftsordnung, die eine Erbin vorkapitalistischer Hierarchien ist, reproduziert.“ (S. 78) Diese zugrundeliegende Herrschaftsordnung werde durch den Schein, es gehe vorrangig um Geld, „unsichtbar“ gemacht.

Um die konkrete Gestalt des globalen Kapitalismus geht es im folgenden Kapitel: Die globale Ordnung. Die internationale Ordnung während und nach dem Kalten Krieg wird dargestellt und die Durchsetzung des Neoliberalismus kritisch kontextualisiert. Des Weiteren stellt Rehbein Konzentrationsprozesse des Kapitals und insbesondere die Rolle von transnationalen Unternehmen in der kapitalistischen Ordnung dar. Der Autor gibt Beispiele für Kartelle in großen Industriebereichen und zeigt, dass „Absprachen, die eine Aushebelung des Marktes und die Bildung von Kartellen zum Ziel haben“, die Normalität seien. (S. 95) Auch auf die Bedeutung des Grundbesitzes und des Immobilienmarktes für die herrschaftliche Ordnung wird hier eingegangen.

Das sechste Kapitel untersucht die Funktion des Finanzkapitals und geht hier insbesondere auf die Verstrickung von internationalem Finanzwesen und staatlichem Handeln ein. Die Rolle des Internationalen Währungsfonds und die Funktionsweise von privaten Ratingagenturen werden kritisiert, um im folgenden Kapitel über Politik zu folgern, dass „sich der Staat über seine Schulden und das internationale Kreditsystem gleichsam in Geiselhaft“ befinde. (S. 117) Die „gegenwärtige Form der Demokratie [stelle; S.H.] keine echte Volksvertretung und erst recht keine Volksdemokratie“ dar (ebd.), sondern sei vielmehr als „Postdemokratie“ zu bezeichnen. Rehbein vertritt die These, dass gegenwärtig zu wenig Demokratie herrsche und untermauert diese Diagnose, indem er u.a. untersucht, wie politische Ämter erlangt (und verloren) werden, inwieweit Think Tanks, Stiftungen und NGOs politischen Einfluss nehmen und wie die „herrschende Klasse“ durch Finanzierung der Politik durch die Wirtschaft maßgeblichen Einfluss nimmt. Keinesfalls jedoch solle dieses Problem im Sinne von Personalisierung oder Verschwörung begriffen werden. Es geht Rehbein vielmehr darum, die Strukturen aufzuzeigen, die eine ‚richtige‘ Demokratie in der kapitalistischen Gesellschaft verhindern. „Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass nicht alle Politiker Mitglieder oder Werkzeuge der herrschenden Klasse sind. Es ist jedoch schwer, in der Politik eine abweichende Meinung oder gar die Bevölkerung zu vertreten.“ (S. 131) In den Abschnitten zu Kriegen und „Weltherrschaft“ wird die internationale Politik der USA aufgegriffen und kritisiert. Es scheine zwar so zu sein, dass der Kapitalismus Gewalt durch Handel und Recht ersetzte habe. „Tatsächlich aber wurden die vermutlich verheerendsten Kriege der Geschichte zwischen kapitalistischen Staaten geführt, während der Kolonialismus als Massenvernichtung bezeichnet werden muss.“ (S. 132) Der mächtigste Staat der Welt sei derzeit die USA, welche versuche, ihre „Weltherrschaft“ zu erhalten. „Damit können wir das kapitalistische Weltsystem genauer charakterisieren. Die heutige Welt unterscheidet sich in vieler Hinsicht kaum von der kolonialen Welt des 17. Jahrhunderts. Die herrschende Klasse des mächtigsten Staats ist zugleich die reichste und mächtigste Klasse der Welt, indem sie den mächtigsten Staatsapparat instrumentalisiert, um (fast) alle anderen Staaten auszubeuten.“ (S. 139) Diese Tatsache impliziere jedoch kein moralisches Urteil: „Die herrschende Klasse eines mächtigen Staats muss im Kapitalismus die Weltherrschaft anstreben, weil nur dadurch die beherrschende Position gewährleistet ist.“ (S. 140)

Ähnlich wie der Politik ergehe es auch dem Rechtssystem im Kapitalismus, das Rehbein im achten Kapitel Recht behandelt. „Das Rechtssystem, das prinzipiell Auswüchse des Kapitalismus, aber auch des Staatsapparats und krimineller Bürger zu begrenzen vermag, ist in weiten Teilen ein Instrument des Kapitalismus.“ (S. 141) Nachdem der Autor theoretische Anknüpfungen bei Foucault und Arendt aufzeigt, problematisiert er die Beeinflussung der Gesetzgebung durch Lobbys und Finanzströme und die zunehmende Privatisierung der Rechtsprechung. Auch die Tätigkeiten von Beratern aus der Privatwirtschaft im Gesetzgebungsprozess greift der Autor auf und zeigt, dass das Recht im Sinne einer „Legalisierung der Ausbeutung“ (S. 148) funktioniere. Große Unternehmen kalkulierten sogar mit möglichen Verurteilungen und nähmen Strafzahlungen billigend in Kauf, wenn dadurch ihr Gewinn nicht empfindlich reduziert werde. „Auf diese Weise sind Korruption, illegale Absprachen und Gesetzesverstöße auch in der Gegenwart feste Bestandteile der kapitalistischen Wirtschaft. Eine Straftat wird begangen, wenn eine Verurteilung wegen dieser weniger kostet (oder kosten könnte) als der aus ihr resultierende Gewinn.“ (S. 149) Von der Beeinflussung der Gesetzgebung bis hin zur Rechtsprechung sei so auch das Recht „stark eingeschränkt“ (S. 141) durch die herrschende Klasse und ihre Interessen.

„Die Medien sind neuerdings in Verruf geraten. Nicht zu Unrecht. Allerdings gilt für die Medien, was auch für Markt, Demokratie und Recht gilt: Sie sind eigentlich begrüßenswerte Institutionen, die jedoch vom Kapitalismus funktionalisiert wurden.“ (S. 153) Im neunten Kapitel Medien, Bildung und Wissenschaft behandelt Rehbein die Beeinflussung dieser Institutionen durch die Herrschenden. Es werden Vereinheitlichung, Finanzierung und Manipulation der Medien dargestellt, sodass es insgesamt erstaunlich erscheint, „dass einzelne Investigativjournalisten in der Lage sind, wirklich kritische Ergebnisse zu veröffentlichen.“ (S. 161) Auch die Wissenschaft sei, so Rehbein, massiv beeinflusst durch die Interessen der Großkonzerne. „Grundsätzlich möchte man meinen, dass Wissenschaft ein unabhängiges Streben nach der Wahrheit sei. Tatsächlich aber sind viele Wissenschaftler direkt oder indirekt von den Interessen der herrschenden Klasse abhängig.“ (S. 162) Insbesondere die Finanzierung der Forschung durch Konzerne kann als Problem einer ‚unabhängigen Wissenschaft‘ benannte werden. „Beispielsweise unterstützte der Ölkonzern Exxon das National Enterprise Institute, das jedem Wissenschaftler 10 000 Dollar bot, der den UN-Bericht über den Klimawandel in Frage stellte.“ (S. 163) Auch die personelle Überschneidung von Politik und Wissenschaft kritisiert Rehbein an Beispielen und zeigt, dass sich die Beeinflussung über viele strukturelle Fäden verdichtet. „Wie bei den Medien muss in der Wissenschaft die Meinung nicht direkt von einem Kapitalisten vorgegeben werden – sondern die Vielzahl der Kräfte wirkt darauf hin, dass sich ein Mainstream herausbildet, der den Interessen des Kapitals entspricht.“ (S. 165) Das Ergebnis sei „ein Prozess zirkulärer Wahrheitsproduktion“ (ebd.). Auch auf Schulen nimmt das Kapital, so zeigt Rehbein, Einfluss, indem etwa Firmen wie Energiekonzerne Unterrichtsmaterialien zusammenstellen lassen und für Schulen zur Verfügung stellen. Dramatisch ist ebenfalls das „Beispiel: Gesundheit“. Es finde eine „Kommerzialisierung der menschlichen Gesundheit“ statt, welche die „zerstörerischen Folgen“ des Kapitalismus vor Augen führt, „indem er [der Kapitalismus; S.H.] das Leben jedes Einzelnen und jeder Einzelnen von uns verschlechtert oder sogar vernichtet.“ (S. 167) „Die menschliche Gesundheit ist auch ein Spielball im Kampf um die Weltherrschaft. Sie wird einerseits wirtschaftlich ausgebeutet und andererseits zerstört, um weitere Ausbeutung zu ermöglichen und um den jeweiligen Gegner zu schwächen.“ (S. 170)

Das letzte Kapitel vor dem Fazit erläutert einen, wenn nicht den zentralen Begriff des Buchs: Die herrschende Klasse. Vom Kapitalismus profitiere nur eine „winzige Gruppe […], nämlich die Gruppe der Kapitalisten“, und diese Gruppe „rekrutiert sich fast vollständig aus einer sozialen Klasse.“ (S. 174) Rehbein betont in seinem Buch durchgehend, dass Herrschaft im Kapitalismus unsichtbar geworden sei und Wirtschaft und Herrschaft zu unterscheiden seien. „Das vorliegende Buch ist notwendig, weil die Strukturen und Prozesse der Herrschaft im Kapitalismus nicht sichtbar sind. Ebenso unsichtbar ist die herrschende Klasse.“ (ebd.) Er stellt definitorisch klar, dass es irreführend sei, Kapital und Herrschaft gleichzusetzen (S. 174) und betont, dass die herrschende Klasse „von den Superreichen ebenso zu unterscheiden [sei; S.H.] wie von den Funktionseliten, auch wenn sich diese Gruppen teilweise überschneiden.“ (S. 175) Für „normale Menschen“ sei die herrschende Klasse unsichtbar, als „Enthobene“ (S. 69) scheinen die Mitglieder dieser Klasse in einer eigenen Welt, getrennt von den anderen gesellschaftlichen Klassen ihre Herrschaft auszuüben. Ihr Herrschaftsanspruch beruhe vorrangig auf Vererbung, nicht etwa auf Leistung, und ihre Mitglieder unterscheiden sich von anderen Reichen dadurch, dass diesen „ihre soziale Herkunft und ihr Aufstiegskampf immer anhaften“. (S. 176) Rehbein geht der „Zusammensetzung der herrschenden Klasse“ (S. 176 f.) nach und kommt hier insbesondere auf Adelsfamilien und machtvolle Netzwerke zu sprechen. Die „herrschende Klasse in Deutschland“ und die in den USA werden exemplarisch portraitiert. Die herrschaftliche Stellung sei auch im Kapitalismus gerade kein ‚Verdienst‘, nicht erworben, sondern wesentlich vererbt. Abschließend geht es um „Verschleierung des Vermögens“ seitens der Herrschenden, bspw. durch Stiftungen und Steueroasen. – Eine „systematische Verschleierung des eigenen Vermögens durch die Reichen, die großenteils Mitglieder der herrschenden Klasse sind, ist in mehrerlei Hinsicht von Bedeutung. Erstens zeigt sie, dass die Vermögen in Wahrheit viel größer sind, als in den offiziellen Statistiken angegeben ist. […] Zweitens hat der Kapitalismus wenig mit ehrlicher Konkurrenz durch gleiche und freie Individuen zu tun. […] Drittens wird der Profit systematisch der Allgemeinheit entzogen, sowohl dem Staat wie auch der Bevölkerung.“ (S. 192)

„Kapital und Herrschaft gibt es schon seit Jahrtausenden.“ (S. 193) Deshalb sei es von zentraler Bedeutung, das System insgesamt zu begreifen, wozu Rehbein mit seinem Buch antritt. Im Fazit werden einige Thesen noch einmal zusammengefasst und Schlussfolgerungen gezogen. Die Differenzierung zwischen Herrschaft und Kapitalismus wird hierzu wieder aufgegriffen: „Selbst die Abschaffung des Kapitalismus ändert die Herrschaftsstrukturen nicht unbedingt – und wenn, führt sie zu anderen Formen der Herrschaft. […] Einzelne Institutionen können verändert und einzelne hierarchische Handlungsmuster verboten werden. Aber wir werden nicht über Nacht zu neuen Menschen.“ (S. 194 f.) Deshalb sei auch nicht der Kapitalismus an sich das Problem, widerspreche er doch dem Verlangen der Herrschaft nach Stabilität (S. 196), und somit gehe es auch nicht darum, das kapitalistische System abzuschaffen, denn damit könne man bei den Herrschenden durchaus anknüpfen: „Für eine Reform oder gar Beseitigung des Kapitalismus wird man auch viele Mitglieder der herrschenden Klasse begeistern können, da auch sie unter den zerstörerischen Auswirkungen und Krisen des Kapitalismus zu leiden haben. […] Anders sieht es aus, wenn die Strategie gegen Herrschaft gerichtet ist. Dann werden Herrschende und Etablierte gemeinsam Widerstand leisten.“ (S. 195) Was also tun? Rehbein hält es für „so gut wie unmöglich“, das kapitalistische System abzuschaffen, „bevor es die Erde unbewohnbar gemacht hat […]. Dennoch können wir alle dazu beitragen, das System zu verändern und die Welt vielleicht für eine Zukunft nach der sukzessiven Zerstörung vorzubereiten.“ (S. 196) Abschließend spricht Rehbein die Leser direkt an und gibt ihnen Hinweise dazu, was sie tun können, um das System zu reformieren: „Als Individuum können Sie jedoch viel zur positiven Veränderung des Systems beitragen, indem Sie sich der Sphäre des Kapitalismus möglichst weitgehend entziehen sowie Konsum, Arbeit und Subjektivität in die Bereiche von Markt und sozialer Wirtschaft verlagern. Ein erster Schritt besteht darin, vom Kapital unabhängiger zu werden. Mit Menschen, die geistig und materiell nicht vom Kapital abhängig sind, ist ein kapitalistisches System unmöglich.“ (S. 197) Hierzu sei der Einfluss auf den Staat nötig und jeder habe „einen geringen, aber immerhin einen echten Einfluss auf den Staat. Nutzen Sie ihn, die Demokratie auszubauen, anstatt sie wieder abzuschaffen.“ (ebd.)

Diskussion

Rehbeins Buch hat den ambitionierten Anspruch, das Gesamtsystem der kapitalistischen Gesellschaft darzustellen. (S. 10) Der Autor bemängelt, dass es bislang kein Buch gebe, das das System als Ganzes verständlich dargestellt habe. Eine solche Darstellung des Systems muss entsprechend systematisch vorgehen und bestimmen können, welche Prinzipien für die Gesellschaft wesentlich sind. Rehbein schließt implizit an die lange, schon in der Debatte zwischen Marxismus und Anarchismus diskutierte Frage an, ob es die Ökonomie oder Herrschaft sei, die bestimmend ist, und er plädiert dafür, dass Herrschaft als grundlegend angesehen werden müsse: „Die sogenannte Wirtschaft ist lediglich ein Aspekt der kapitalistischen Gesellschaft“. (S. 10) Dabei trennt Rehbein ‚kapitalistische Wirtschaft‘ von ‚gesellschaftlicher Herrschaft‘ und stellt diese tendenziell gegenüber, wenngleich er betont, dass es Überschneidungen gebe, d.h. dass die Herrschenden oftmals auch Kapitalisten seien. So kommt er im Fazit zu dem Schluss, dass die Herrschenden einer Abschaffung des Kapitalismus vermutlich sogar zustimmen würden, gar ein Interesse daran haben könnten. Zugleich hält der Autor es für nahezu „unmöglich“, das kapitalistische System abzuschaffen, bevor es den Planeten unbewohnbar gemacht hat. Die Abschaffung des Kapitalismus ist trotz der benannten fatalen Folgen des Kapitalismus für Menschen und Natur nicht Anliegen Rehbeins, der davon ausgeht, dass sich dadurch nur eine andere Herrschaft etablieren würde. Die abschließenden Ratschläge an die Leser*innen erscheinen dann recht staatbürgerlich bis illusorisch. Zum einen sollen die Individuen auf den Staat einwirken, um „die Welt vielleicht auf eine Zukunft“ nach ihrer Zerstörung vorzubereiten. Hier wäre zu hinterfragen, welche Rolle der Staat im Kapitalismus ausübt und vor allem warum es nicht das oberste Ziel sein sollte, die sukzessive Zerstörung abzuwenden, sondern man sich auf ein Leben nach der Zerstörung vorbereiten sollte. Zum anderen appelliert der Autor an die Leser*innen, sie mögen sich „der Sphäre des Kapitalismus möglichst weitgehend entziehen“. Hier klingt ein theoretisches Problem an, das sich durch das Buch hindurch zieht und zentral ist, weil es die Frage nach dem Wesen der kapitalistischen Gesellschaft betrifft: Der Autor nimmt an, der Kapitalismus sei nur eine „Sphäre“ (S. 197), eine „Komponente“ (S. 33) oder ein „Aspekt“ (S. 10) der kapitalistischen Gesellschaft. Schon die Terminologie ist irritierend. Warum ist diese Gesellschaft überhaupt als „kapitalistisch“ zu charakterisieren, wenn das ‚kapitalistisch‘ nur nebensächlich ist? Wenn hingegen die gesamte gesellschaftliche Reproduktion durch das Kapital organisiert wird: Wie kann man dann als Individuum sich diesem entziehen? – Da auch Rehbein von den Bestimmungen des Kapitals ausgeht, ist hieran anzuknüpfen und es stellen sich bei der Lektüre u.a. folgende Fragen:

Rehbein grenzt seinen Kapital-Begriff an mehreren Stellen von denen von Karl Marx und auch Adam Smith ab. Zentral, weil den Kern der Theorie des Kapitalismus betreffend, ist seine These, dass nicht bloß die Ausbeutung von Arbeitskraft Wert erzeuge. In der Endnote 4 stellt Rehbein klar, dass er sowohl die Arbeitswerttheorie als auch die Theorien der Physiokraten und der Merkantilisten für unzulänglich hält. „Ich werde hingegen zu zeigen versuchen, dass die exklusive Verfügung über Kapital und die Möglichkeit seiner Vermehrung die Grundlagen des Kapitalismus sind.“ (S. 209) Hier kann man dem Autor zustimmen und muss zugleich widersprechen: Auch für Marx ist die privateigentümliche Verfügung über Produktionsmittel Grundlage des Kapitalismus. Die Frage, die es aber zu beantworten gilt, ist: Wie vermehrt sich Wert? Wie ist es möglich, dass gesamtgesellschaftlich betrachtet aus einem investierten Wert mehr Wert wird? Laut Marx geht dies nur, weil es eine besondere Ware gibt, die in der Lage ist, Wert zu produzieren, und zwar mehr Wert schaffen kann, als zu ihrer Reproduktion notwendig ist, d. i. die Ware Arbeitskraft. (vgl. Marx 1981, S. 181 ff.) „Zur Verwandlung von Geld in Kapital muss der Geldbesitzer also den freien Arbeiter auf dem Warenmarkt vorfinden, frei in dem Doppelsinn, dass er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, dass er andrerseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen.“ (a.a.O., S. 183) Durch die Anwendung der Arbeitskraft im Produktionsprozess ist die Schaffung von Mehrwert zu erklären, nicht hingegen durch Raub (vgl. S. 52) oder Übervorteilung, wodurch nur eine andere Verteilung eines gegebenen Werts erklärt werden kann. Rehbein behauptet: „Der Marxismus geht davon aus, dass Profit durch Ausbeutung von Arbeitskraft erzeugt wird.“ Und: „Gewinn entsteht oft aus Raub.“ (S. 52) Dabei verwischt Rehbein folgenschwer den Unterschied zwischen Mehrwert und Profit. Entgegen seinem Anliegen bleibt er hier auf der Oberfläche der gesellschaftlichen Prozesse verhaftet. Der Marx’schen Theorie nach entspringt der Mehrwert allein aus der Anwendung der Arbeitskraft, genauer aus der Differenz ihres Werts, der sich im Lohn darstellt, und des durch ihre Anwendung geschaffenen Werts. So kann ein investierter Wert in mehr Wert verwandelt werden. Alle anderen Werte (Rohstoffe, Produktionsanlagen, etc.) gehen als konstantes Kapital in die Verwertung ein, aber ändern ihre Wertgröße nicht. – Ganz und gar nicht widerspricht Rehbein dem, wenn er betont, dass im Kapitalismus versucht wird, aus allem einen Gewinn zu schlagen, denn dies ist nicht gleichzusetzen mit: Mehrwert produzieren.

Hieran schließt sich auch die Frage an, welche Rolle der Markt für den Kapitalismus spielt. Laut Rehbein widerspricht der Kapitalismus den Formen des Marktes, da es sein Ziel sei, Gewinn zu konzentrieren, wohingegen der Markt „‚von unten‘“ organisiert werde und nicht auf Profit ausgerichtet sei. (S. 44 f.) – Das Entscheidende ist aber, dass sich im Kapitalismus gerade vermittels des Tauschs auf dem Markt Mehrwert realisiert. „Kapital kann also nicht aus der Zirkulation entspringen, und es kann ebensowenig aus der Zirkulation nicht entspringen. Es muss zugleich in ihr und nicht in ihr entspringen.“ (Marx 1981, S. 180) Nicht durch Raub oder Übervorteilung ist die gesellschaftliche Vermehrung von Wert zu erklären (s.o.). Die Schwierigkeit besteht gerade darin zu erklären, wie es sein kann, dass, wenn Waren zu ihren Werten getauscht werden, dennoch ein Plus entstehen kann. Um dies zu verstehen, muss „in die verborgne Stätte der Produktion“ geschaut werden. „Hier wird sich zeigen, nicht nur wie das Kapital produziert, sondern auch wie man es selbst produziert, das Kapital. Das Geheimnis der Plusmacherei muss sich endlich enthüllen.“ (Marx 1981, S. 189) Rehbein aber umgeht es, diese Geheimnis zu lüften, indem er Markt und Kapitalismus gegenüberstellt und die „Plusmacherei“ auf Raub zurückführt.

Der Wert ist Herrschaft, dies hat Marx gezeigt. Rehbein dagegen trennt Herrschaft und Wert („Irreführend ist auch die Gleichsetzung von Kapital und Herrschaft.“, S. 174) und argumentiert, dass es nur so scheine, als ginge es im Kapitalismus darum, Geld anzuhäufen. In Wahrheit gehe es aber um die Erhaltung von Herrschaft durch eine kleine Gruppe weniger herrschender Familien. Irritierend ist, dass der Autor den Kapitalismus als „Form[] des Wirtschaftens“, aber zugleich „nicht vorrangig [als; S.H.] Wirtschaftsform“ auffasst (S. 9): „Wir müssen den Kapitalismus als Komponente einer bestimmten Gesellschaftsform deuten, die hierarchisch organisiert ist, nicht als Wirtschaftssystem oder Produktionsweise.“ (S. 33) Doch was für eine „Komponente“ soll der Kapitalismus dann sein, wenn nicht die Art der Wirtschaft? Diese Frage bleibt nach der Lektüre offen. Im Kapitel „Kapital und Arbeit“ wird die Bestimmung gemacht, dass Kapital ein Vermögen sei, „das gewinnbringend investiert wird.“ (S. 48) Auch weist der Autor darauf hin, dass alle, die nicht Eigentümer von Kapital sind, ihren Lebensunterhalt und den Profit der Kapitalisten erarbeiten müssen. (S. 49) Dies scheint alles die Wirtschaft zu betreffen, weshalb nicht klar ist, warum Kapitalismus kein Wirtschaftssystem sein soll. Rehbeins These, dass der Kapitalismus nur die Oberfläche der Gesellschaft bestimme, es tatsächlich aber um die Reproduktion einer dahinterliegenden Herrschaftsstruktur gehe (vgl. S. 78), ist weitreichend. Dass es um Geld gehe, verdecke die zugrundliegende Herrschaft, mache sie unsichtbar. Diese herrschende Klasse sei „für normale Menschen unsichtbar. Keiner von uns kennt ihre Mitglieder.“ (S. 175) Sie rekrutiere sich in der Hauptsache aus wenigen Familien, die ihre herrschaftliche Position an ihre Nachkommen vererben. Am Beispiel Deutschland führt Rehbein einige Unternehmer- und Adelsfamilien an. Doch wie ihre Herrschaft abgesehen von ihrem auch kapitalistisch angeeigneten Reichtum aussieht und was das Interesse dieser Herrschaft ist, das bleibt undeutlich. – Vielmehr scheint Rehbein die durch den sich verwertenden Wert ausgeübte nicht personelle Herrschaft zu personalisieren. Das ist aus mehreren Gründen bedenklich. Es wird nahegelegt, dass diese wenigen Herrschenden bloß zu entmachten seien, um die Menschheit zu befreien, wodurch verschleiert wird, dass es die Struktur des Kapitalismus selbst ist, welche Herrschaft ist. Damit wird das viel schwieriger anzugehende Problem als ‚zweitrangig‘ qualifiziert: Das Kapital ist es, das in seinem maßlosen Trieb die menschliche Arbeitskraft ausbeutet und die Natur zunehmend zerstört. Die kapitalistische Gesellschaft wird nicht gesteuert durch eine winzige Elite, sondern der Wert, der freilich seine ‚Charaktermasken‘ erzeugt, und seine Verwertung wären als die kapitalistische Gesellschaft bestimmend zu analysieren, um „die kapitalistische Gesellschaft“ im Ganzen zu begreifen und systematisch zu kritisieren.

Fazit

Rehbein gibt einen umfangreichen Einblick in gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse. Politik, Recht, Medien, Finanzkapital werden hinsichtlich ihrer Funktion für die herrschaftliche Struktur der kapitalistischen Gesellschaft untersucht. Der Autor eröffnet dabei diskussionswürdige Punkte. Das Buch ist nur sehr bedingt als Einführungswerk in das Thema zu empfehlen. Der Begriff des Kapitals wird ungenau gefasst und ebenso wäre darüber zu diskutieren und genauer zu bestimmen, was Herrschaft im Kapitalismus meint. Insofern bietet das Buch viele Anknüpfungspunkte für weiterführende Diskussionen um das Wesen der kapitalistischen Gesellschaft, kann aber nicht als hinreichende Darstellung der kapitalistischen Gesellschaft begriffen werden, worauf der Autor in der Einleitung hinweist, wenn schreibt, dass er „die Forschung für dieses Buch noch nicht abgeschlossen habe und viele Thesen einen vorläufigen Charakter haben“. (S. 10)

Literatur

Marx, Karl (1981): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, in: Marx-Engels-Werke Band 23, Dietz Verlag, Berlin.

Rezension von
Sabine Hollewedde
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ISSN 2190-9245