Marcel Schmidt: Soziale Arbeit in Zeiten des Klimawandels
Rezensiert von Prof. Dr. Joachim Thönnessen, 28.11.2022

Marcel Schmidt: Eine theoretische Orientierung für die soziale Arbeit in Zeiten des Klimawandels. Von der ökosozialen zur sozial-ökologischen Transformation.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2021.
353 Seiten.
ISBN 978-3-8474-2504-5.
D: 42,00 EUR,
A: 43,20 EUR.
Reihe: Gesellschaft und Nachhaltigkeit - 9.
Thema
Globale Nachhaltigkeit ist ein Zukunftsthema. Damit ist sie auch ein Wissenschaftsthema. Der Verfasser bereichert den gesellschaftlichen Suchprozess hin zu einer sozial-ökologischen Transformation um eine eigene Theorie.
Entstehungshintergrund und Autor
Die Hochschulen für angewandte Wissenschaften: Hochschule Darmstadt, Frankfurt University of Applied Sciences, die Hochschule Fulda und die Hochschule RheinMain haben mit Wirkung vom 1. Januar 2017 das eigenständige Promotionsrecht in der Fachrichtung Soziale Arbeit erhalten. Ausgeübt wird das Promotionsrecht im Rahmen eines hochschulübergreifenden Promotionszentrums, dessen Kernaufgabe die Organisation und Durchführung von Promotionen in der Fachrichtung Soziale Arbeit ist. An diesem hochschulübergreifenden Promotionszentrum Soziale Arbeit hat Marcel Schmidt seine Promotion mit „summa cum laude“ abgeschlossen. Marcel Schmidt, der während seiner Promotion als wissenschaftlicher Mitarbeiter im profilbildenden Forschungsschwerpunkt „Professionalität Sozialer Arbeit“ der Hochschule RheinMain im Fachbereich Sozialwesen tätig war, hält eine Vertretungsprofessur für Theorien Sozialer Arbeit, Ethik und Philosophiegeschichte im Fachbereich Sozialwesen (vgl. https://www.hs-rm.de/de/hochschule/​aktuelles/​details/​artikel/​promotion-mit-summa-cum-laude-abgeschlossen; entn. am 03.11.2022).
Aufbau und Inhalt
Das komplexe Buch ist in fünf Teile (A-E) unterteilt.
In Teil A wird der „Klimawandel und seine gesellschaftliche Bedeutung im Allgemeinen und für Soziale Arbeit im Besonderen“ thematisiert (S. 39–118). Dabei führt der Autor sogleich eine spezielle Perspektive ein: Unter Berufung auf ein Gutachten des WBGU (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung. Globale Umweltveränderungen) nennt er die Städte „als für den überwiegenden Teil aller weltweiten Ressourcenverbräuche und Treibhausgasemissionen verantwortlich“ (WBGU 2016, 2). Eine zweite gleich zu Anfang des Kapitels proklamierte Perspektive ist die des „Kapitalozäns“ (in Abgrenzung vom „zu unkritischen“ (S. 40) Begriff des „Anthropozäns“). Unter Berufung auf Altvaters' Kritik des Kapitalismus, der die menschliche Existenz usurpiere und verändere, wird argumentiert, dass der „‚ moderne Kapitalismus‘ sich so ausgeweitet hat, dass er in den Gesteinsschichten der Erde nachweisbar und zum Kapitalozän geworden ist“ (Altvater 2015, S. 62f, zit. n. Schmidt 2021, 39). M.a.W. geht es Herrn Schmidt um die (nach wie vor anhaltende) Urbanisierung der Naturverhältnisse auf der Erde, welche den Klimawandel vorantreiben. Mit Lefebvre (2014) wird diese „erdgestalterische Menschheitsgeschichte“ auf die gesamte Erdgeschichte ausgeweitet („terrestrischer Urbanisierungsprozess“), welche immer auch Prozesse der Klimabeeinflussung und die sukzessive Zerstörung der Bewohnbarkeit des Planeten Erde umfasst. Wesentlich zu diesem Zerstörungspotenzial beigetragen haben – hier beruft Schmidt sich auf Gronemeyer (1988; 2014) – „herrschaftliche Eingriffe in die konviviale Autonomie der Menschen und herrschaftliche Eingriffe in ihre Subjektbildung zur Herausbildung konsumistischer Bedürfnisse“ (Gronemeyer 1988; zit. n. Schmidt, S. 47). Schließlich nimmt Schmidt – unter Berufung auf Karl Marx – eine weitere für die Jetztzeit eher ungewöhnliche Perspektive ein: Es „muss die gesamte Erde als unorganischer Leib des Menschen in den Blick genommen und letztlich zum Politikum gemacht werden“ (Marx 1968 und 1983, zit. n. Schmidt, S. 47f). So ließe sich vermeiden, dass die Erde ausschließlich „als bloße Umwelt der Stadt“ verkannt werde (S. 48). Eine Stadtentwicklungsgeschichte sei damit immer auch eine Geschichte der „daraus systematisch resultierenden Notwendigkeiten zur stetig steigenden Ausbeutung menschlicher wie nicht-menschlicher Naturverhältnisse“ (ebd.). Sie resultiere in der „imperialen Lebensweise“ (dieser Begriff geht zurück auf Brand/​Wissen (2017)), die auf die Produktions-, Distributions- und Konsumnormen verweist, die tief in die politischen, ökonomischen und kulturellen Alltagsstrukturen und -praxen eingewoben sind (ebd., S. 44f, zit. n. Schmidt, S. 50).
Schmidt führt seine „ungewohnte“ Argumentation weiter und bezieht sich im Folgenden auf die Soziale Arbeit. Diese stellt er als „Disziplin professioneller Urbanisierungskritik und subjektorientierter Arbeit am Sozialen“ vor (S. 51). Auf den Seiten 52ff wird dieser Anspruch Sozialer Arbeit begründet.
Die vorliegende Rezension ist keine Inhaltsangabe des Buches, weshalb hier auf eine Zusammenfassung dieser Begründung, wie auf vieles andere auch, verzichtet wird. Stattdessen soll hier auf die Implikationen eines solchen Anspruchs verwiesen werden, die Schmidt als Fragen formuliert:
- Mit welchen Problemen müssen sich Menschen im Alltag auseinandersetzen, um die „imperiale Lebensweise“ überwinden zu können und welche gesellschaftlichen Blockierungen bzw. Widersprüche offenbaren sich ihnen dabei? (S. 75)
- Wie können die Menschen ihre Probleme bei der Überwindung der „imperialen Lebensweise“ öffentlich politisieren und wie kann diese Politisierung zu einer Bildung verbindlicher politischer Strukturen führen, die ein demokratisches Gemeinwesen eröffnen, in den und an dem sich eine sozial-ökologisch bewusste menschliche Subjektivität (heraus-)bilden kann, die sich zwar der Menschen als zentrale AkteurInnen ihrer Politischen Ökologie bewusst ist, zugleich aber auch der nur dezentralen Positionierung des Menschen in der sozialen Produktion resp. Bildung der Erdökologie? (S. 76)
- Wie können Menschen fachlich unterstützt werden, ihren Alltag und ihre Alltagsbedingungen zu politisieren, dass sie über die Machtmittel verfügen, alltägliche Blockierungszusammenhänge in der Überwindung der „imperialen Lebensweise politisch selbst zu bearbeiten?“ (S. 76) u.a.m.
Deutlich wird, dass es Schmidt um ein Verständnis Sozialer Arbeit geht, welche „nicht länger Menschen bzw. bestimmte Personenkreise“ (S. 82) thematisiert, sondern gesellschaftliche Verhältnisse und der Verfasser sich dabei auf die „politische Verwirklichung eines terrestrischen Gemeinwesens“ (ebd.) fokussiert, die er wie folgt umschreibt: „Einer Arbeit am terrestrischen Gemeinwesen geht es also darum, die Erdökologie als Wohnung des irdischen Seins und die Städte, d.h. die alltäglichen urbanen Lebensweisen als sozialpädagogische Orte sozial-ökologischer Kulturrevolution(en) hervorzubringen“ (ebd.). Und: „Die politische Regulierung der Urbanisierung der Erde, so die Essenz der vorangegangenen Kapitel, muss dabei von den Kommunen ausgehen und muss im Kontext einer radikalen Politisierung der Stadtentwicklung erst ermöglicht werden“ (S. 77).
In den folgenden Teilen B und C verfolgt Schmidt die Frage: Was meint ökosoziale Transformation und wie ließe sie sich ermöglichen? Hier geht es ihm vor allem um die politische Bildung von Strukturen, die der ökosozialen Transformation und der kollaborativen Bewirtschaftung des Ökosozialen dienen.
In dem darauffolgenden Teil D fragt Schmidt: Was meint sozial-ökologische Transformation und wie ließe sie sich ermöglichen? Dieser Teil zielt vor allem „auf die subjektive Bildung zur politischen Hervorbringung eines nicht nur den Menschen umfassenden städtischen Gemeinwesens auf und mit der Erde“ (S. 116).
In Teil E wird die in den Kapiteln A-D entwickelte Argumentation in die gegenwärtige Diskussion einer Kritischen Theorie gesellschaftlicher Naturverhältnisse eingeordnet (S. 292).
Statt von Kommunismus, so Schmidt in seiner Zusammenfassung in Teil E, ließe sich durchaus auch von Kommunalismus sprechen, da letzterer „sich der übergreifend herausbildenden Nationalstaatsmacht zu erwehren und als autarke, emanzipatorische Assoziationen zu behaupten“ (S. 296) verstehe (vgl. auch Bookchin 1992). Für Schmidt geht der Kommunalismusbegriff in seiner Untersuchung sogar über den Kommunismusbegriff von Marx hinaus, da die Erde nicht als persönliches Eigentum des Menschen (wie bei Marx) verstanden wird, sondern als Eigentum und Gemeingut aller auf und mit der Erde lebenden Akteure (S. 296). Bei beiden Begriffen komme allerdings die Notwendigkeit der strategischen Bildung kommunaler Selbstverwaltungen zum Ausdruck (bei Marx: politische Revolution), mit denen die BürgerInnen sich letztlich von „kapitalogenen Herrschaftsverhältnissen“ befreien können (S. 297).
Diskussion
Der vorhandene Mainstream professioneller und disziplinärer Arbeit ist von Schmidt's Ansprüchen himmelweit entfernt. Man könnte Schmidt damit „Utopismus“ vorwerfen und seine Arbeit deshalb nicht ernst nehmen. Das wäre allerdings töricht, denn die gesellschaftlichen Mechanismen, die zur allesumfassenden Dominanz der „imperialen Lebensweise“ geführt haben, greifen ja nach wie vor und vielleicht mehr denn je. Insofern ist die von Schmidt beschriebene Ausgangslage korrekt. Ebenso zutreffend ist, dass wir mit den bisherigen Mitteln nicht weiterkommen, wenn wir den Klimawandel aufhalten bzw. verlangsamen wollen. Insofern bedarf es radikaler, auch utopischer Ansätze, um die von Schmidt ausführlich geschilderten Probleme anzugehen. Warum also nicht auf Marx, Bloch und Freire zurückgreifen, und eine „praxisphilosophisch subjektorientierte Soziale Arbeit“ (S. 76) vorstellen, und die „Überführung der Nutzung des Gemeinguts Erde aus dem Reich der ökonomistischen Verwertung in das Reich der politischen Regulierung der gesellschaftlichen Ver- und Erarbeitung der Erde“ fordern (S. 77)?
Kritisch ist auf die wissenschaftlich-komplexe Formulierungsweise des Verfassers hinzuweisen: Das Buch ist für StudienanfängerInnen kaum geeignet! Kritisch ist auch die enge Fassung von „Sozialer Arbeit“ bzw. die Gleichsetzung von Sozialer Arbeit mit Sozialpädagogik anzumerken. Schließlich muss auch das teilweise naive Verständnis möglicher Ziele kommunaler Pädagogik und kommunaler Politik erwähnt werden („Bildung als Mittel der Befreiung“; S. 61). Ob diese tatsächlich naiv sind, kann jede/r für sich selber z.B. anhand der folgenden Frage prüfen: Inwiefern halten Sie es für möglich, dass „es durch die sozialpädagogische Gestaltung von Orten gelingt, die verschiedenen AkteurInnen eines Ortes und auch verschiedener Orte zu problembezogenen Interessensgemeinschaften zusammenfinden zu lassen?“ (S. 62). Doch trotz all' dieser Kritik: Ein wichtiges Buch, weil es in diesem Buch „allein darum (geht), die bevorstehenden Aufgaben und Probleme dieser Erde grundlegend in den Griff zu bekommen“ (S. 89).
Fazit
Marcel Schmidt hat viel gelesen und sich intensiv mit Bedingungen für eine sozial-ökologische Transformation auseinandergesetzt. Er hat viele interessante Quellen entdeckt, diese zusammengetragen und in einem überaus lesenswerten Buch zusammengefügt. Die vielen Gedanken und neuen Perspektiven, die Schmidt in sein Buch einbringt, konnten in dieser Rezension nur andeutungsweise wiedergegeben werden. Schmidt, dieses Wortspiel sei hier gestattet, ist nicht nur ein Nach-Denker, sondern auch ein Vor-Denker. Wie wollen wir leben? Welche Aufgaben erwarten uns? Welche Prioritäten wollen wir setzen? Dies sind Fragen, die uns beschäftigen und immer dringlicher beschäftigen werden und auf die Schmidt verweist.
Literatur
Altvater, Elmar (2015): Engels neu entdecken. Das hellblaue Bändchen zur Einführung in die „Dialektik der Natur“ und die Kritik von Akkumulation und Wachstum. Hamburg: VSA Verlag.
Bookchin, Murray (1992): Die Neugestaltung der Gesellschaft. Pfade in eine ökologische Zukunft. Grafenau: Trotzdem-Verlag.
Gronemeyer, Marianne (1988): Die Macht der Bedürfnisse. Reflektionen über ein Phantom. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Gronemeyer, Marianne (2014): Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG).
Lefebrve, Henri (2014): Die Revolution der Städte. Hamburg: CEP Europäische Verlagsanstalt.
Marx, Karl (1968): Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): MEW 40. Ergänzungsband. Schriften bis 1844. Erster Teil. Berlin: Dietz Verlag, S. 465–588;
Marx, Karl (1983): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): MEW 42. Berlin: Dietz Verlag, S. 47–875.
Rezension von
Prof. Dr. Joachim Thönnessen
Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Studium der Philosophie und Soziologie in Bielefeld, London und Groningen; Promotion in Medizin-Soziologie (Uniklinikum Giessen)
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