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Sarah El Bulbeisi: Tabu, Trauma und Identität

Rezensiert von Prof. Dr. Georg Auernheimer, 13.12.2021

Cover Sarah El Bulbeisi: Tabu, Trauma und Identität ISBN 978-3-8376-5136-2

Sarah El Bulbeisi: Tabu, Trauma und Identität. Subjektkonstruktionen von PalästinenserInnen in Deutschland und der Schweiz, 1960-2015. transcript (Bielefeld) 2020. 319 Seiten. ISBN 978-3-8376-5136-2. D: 44,99 EUR, A: 44,99 EUR, CH: 54,90 sFr.
Reihe: Histoire - Band 174.

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Thema

Vertriebene und Geflüchtete aus Palästina leben in einer extrem belastenden Situation, weil die ihnen angetane Gewalt mit einem Tabu belegt ist. Man kann sich vorstellen, dass das erzwungene Schweigen Familien belastet und damit auch die zweite Generation. Die Autorin untersucht, wie die Vertriebenen und ihre Kinder diese Situation verarbeiten.

Autorin

El Bulbeisi, Tochter eines Palästinensers und einer Schweizerin, hat mit der Arbeit über dieses Thema an der LMU München promoviert, wo sie zeitweise auch als wissenschaftliche Mitarbeiterin gearbeitet hat. Sie hat außerdem einen einschlägigen DAAD Hochschuldialog geleitet. Heute ist sie nach Auskunft des Klappentexts am Orient-Institut Beirut beschäftigt.

Aufbau und Inhalt

In der umfangreichen Einleitung informiert die Autorin über ihre Forschungsfragen und den Forschungsstand und auch über ihre Herkunft. Außerdem gibt sie nach der Klärung des Diaspora-Begriffs einen Überblick über die Migrationsgeschichte und Lage der Palästinenser*innen innerhalb und außerhalb des arabischen Raums, speziell in Europa und hier wieder in Deutschland und der Schweiz. Sodann werden die verwendeten theoretischen Konzepte erläutert (Diaspora-Identität, Trauma, staatliche/​systemische und diskursive/​objektive Gewalt, Subjektivität). Sie stützt sich auf Edward Said, Frantz Fanon, Achille Mbembe, Judith Butler, Michel Foucault, also auf Diskurstheorie, speziell die Theorie des Orientalismus, verbunden mit postkolonialen und historischen Studien, und zieht psychoanalytische Kategorien zur Interpretation heran (spez. Jaques Lacan). Gelegentlich genannte Gewährsleute sind William E. Du Bois, Slavoj Zizek, Mohammed A. Bamyeh.

In einem weiteren Schritt gibt die Verfasserin einleitend Auskunft über die gewählte Erhebungsmethode, das biografisch-narrative Interview. Die Gespräche wurden per Video aufgezeichnet. Bei der Datenanalyse wurde auch ein konversationsanalytischer Ansatz angewandt.

Die Einleitung wird abgeschlossen mit der Hauptthese: „Anstelle der Anerkennung von Gewalt wurde die erfahrene Gewalt ausgelöscht oder gerechtfertigt. Die Missachtung der Gewalt hatte einen traumatisierenden Effekt auf die erste Generation und beeinflusste dadurch wesentlich die zweite Generation und deren Inklusion in die Gesellschaft“ (62).

In Kapitel 2 „Palästina als moralischer Ort“ macht die Autorin zuerst darauf aufmerksam, dass die staatliche Gewalt gegen die Palästinenser zwar von den UN mehrfach verurteilt worden ist, aber von der sog. internationalen Gemeinschaft moralisch gerechtfertigt wird (65). Der Ausdruck „moralischer Ort“ soll auf „eine moralisch-normative Besetzung“ durch „ein Geflecht hegemonialer Erzählungen“ verweisen. Um den Diskurs über Palästina und Israel und die europäische Politik in der Region verstehbar zu machen, folgt ein historischer Rekurs. Da die verheerenden Folgen des von Europa unterstützten zionistischen Projekts für die Gemeinschaft der Palästinenser kaum zu leugnen sind, wirkt deren Anwesenheit peinlich, beunruhigend, so die Annahme. Denn sie bedroht das positive Selbstbild der Europäer, sodass „Palästinensischsein“ „abwesend gemacht werden soll“ (88). Das Stereotyp des Palästinensers als gewalttätig, gar terroristisch deutet El Bulbeisi als eine Projektion vor allem „der deutschen Post-Genozid-Gesellschaft“ (81).

In Kapitel 3 „Väter I: Wie spricht man aus dem Nichts heraus?“ interpretiert die Autorin die Gespräche, indem sie den einen und anderen Erzähler als Prototyp für eine bestimmte Variante der Selbstdeutung und Selbstpräsentation vorstellt. Alle sind mit dem dominanten Narrativ konfrontiert, in dem ihre Geschichte verzerrt erzählt wird, und mit dem Versuch, sie mit ihrer Gewalterfahrung unsichtbar zu machen.

Vor diesem Hintergrund fällt es den Betroffenen schwer, die Flucht verständlich zu machen, sodass bei manchen Erzählern in ihrer Rekonstruktion der Fluchtgeschichte ein Zug von Rechtfertigung erkennbar wird. Die Stigmatisierung, wenn nicht gar Kriminalisierung der Palästinenser, zwingt manchen zur Überanpassung auch Fälschung der Herkunft. Die neue Identität ist von der „gefühlten Identität“ getrennt (132). Ein anderer Interviewpartner steht für diejenigen, die gegen die herrschenden Narrative und Projektionen ankämpfen – ein zermürbendes dagegen Anreden. Er ist dem nahe, der seine Lebensgeschichte eng mit der Geschichte seines Volkes verflicht (147). Um diese Geschichte nicht preiszugeben, wird das Erinnern für einen anderen zur „Lebensform“ (166). „Die Erzähler reagieren auf sie (die herrschenden Diskurse, G.A.), indem sie einerseits gegen sie ansprechen, oder indem sie die Diskurse und Projektionen in ihre Selbstdeutungen inkorporieren…“ (172).

Die Umkehrung von Opfer- und Täterstatus im herrschenden Diskurs bringt die Erzähler in eine extrem schwierige Situation. Da man das Palästinensischsein in der europäischen Gesellschaft nicht unbefangen leben kann, rasch von Ausgrenzung bedroht ist, aber zugleich dem „Wir“ der eigenen Schicksalsgemeinschaft verbunden sein will, kommt es zu einem inneren Zwiespalt (182).

In Kapitel 4 geht die Autorin auf vier Aspekte ein: „Isolation“, „Scham“, „Abspaltung und Melancholie“, Angst und „Phantasma“. Die Isolation ergab sich für Palästinenser*innen schon aus ihrem Rechtsstatus der jahrelangen Duldung und der Staatenlosigkeit, aber auch aus der Familientrennung. Nur verschämt, mit Scham lebt man die eigene Kultur. Zum Beispiel haben die meisten Gesprächspartner mit ihren Kindern kein Arabisch gesprochen (199). Es kommt zur Abspaltung der leidvollen Lebensgeschichte wie der Kollektivgeschichte, was Melancholie bedingt. Das Misstrauen der Umwelt, die Kontrolle der Institutionen lösen bei manchem Angst aus (204). An einer Rückkehrergeschichte zeigt die Forscherin, welche Anziehungskraft die „Heimat“ als Phantasma besitzen kann (205 f.).

Kapitel 5 „Kinder/Töchter“ wird mit der These eingeleitet: „Im Exil fehlten die Väter durch ihre emotionale Abwesenheit psychisch, auch wenn sie physisch anwesend waren“ (213). Ein Indiz für die Entfremdung von den Eltern sieht die Autorin darin, dass die Befragten wenig über das Leben ihrer Eltern wissen (214). Die einen lehnen „das Palästinensische“ ab, nicht nur weil es im Umfeld negativ besetzt ist, andere identifizieren sich damit, indem sie das kollektive Narrativ übernehmen, gerade weil die Eltern nichts erzählt haben (223). Die bemühte „Heimatverbundenheit“ wirkt für die Forscherin hilflos und ratlos. Eine Gesprächspartnerin fühlt die Verpflichtung, die väterliche Erinnerung zu bewahren. Diese zu retten und Erfahrungen vor dem Vergessen zu bewahren, macht die Autorin als Grundmotiv aus. Dass viele aus der zweiten Generation beginnen, sich vom hegemonialen Diskurs zu emanzipieren, möchte die Autorin am Schluss an einer Berliner Initiative zeigen.

Den Band beschließt eine Auflistung der Gespräche und Experteninterviews, jeweils mit Ort und Datum.

Diskussion

Eingangs geht die Autorin auf den Einwand ein, sie sei als Betroffene für diese Untersuchung nicht die geeignete Forscherin. Auch wenn man ihren Verdacht, in der Infragestellung ihrer wissenschaftlichen Sprecherposition spiegele sich der hegemoniale Diskurs (9), nicht teilt, so muss man nach der Lektüre des Untersuchungsberichts zu dem Schluss kommen, dass es ihr gelungen ist, bei ihren Interpretationen die nötige Distanz zu wahren, das auch dank der theoretischen Deutungsfolien. Zweifelhaft ist, ob sich die Gesprächspartner*innen einer Interviewerin ohne palästinensische Wurzeln gegenüber offen geäußert hätten. Dass in einer anderen Konstellation andere Aspekte zur Sprache gekommen wären, ist trivial. Der mögliche Verdacht des ethnischen Essentialismus trifft die Autorin nicht. Sie hält fest: „Das palästinensische Subjekt ist nicht etwas Gegebenes, das in der Erzählsituation abgerufen wird. Es ist etwas, das sich stets formiert…“ (95). Und noch eine Anmerkung zum „hegemonialen Diskurs“: Sie hat sich mit einer Medienanalyse der Inhalte versichert (61).

Die Studie ist theoretisch anspruchsvoll und methodisch transparent. Das einzige, was der Rezensent vermisst hat, sind Angaben zur sozialen Situation und zum Alter der Interviewpartner*innen.

Der Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim schreibt der Studie in einem Vorwort zu dem Buch eine universelle Bedeutung zu; denn sie werfe generell die Frage nach den Folgen auf, „wenn die Leiden gepeinigter Völker oder Gemeinschaften nicht anerkannt werden“ (11). Es ist zu befürchten, dass sich Geflüchtete aus den durch die westlichen Angriffskriege destabilisierten Staaten in Zukunft in einer ähnlichen Konstellation wiederfinden wie die Palästinenser*innen.

Fazit

Die Studie erweitert den Blick auf den Kampf um Anerkennung (Axel Honneth, Nancy Fraser), indem sie auch die Relevanz der Anerkennung von Gewalterfahrung und Leid für die Subjekte verdeutlicht. Damit ist sie nicht nur für die Arbeit mit Geflüchteten bedeutsam, sondern generell für soziale Arbeit.

Rezension von
Prof. Dr. Georg Auernheimer
Lehrte Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik, in Marburg und Köln.
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Es gibt 92 Rezensionen von Georg Auernheimer.

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ISSN 2190-9245