Astrid Habiba Kreszmeier: Natur-Dialoge
Rezensiert von Jürg Brühlmann, 07.12.2021

Astrid Habiba Kreszmeier: Natur-Dialoge. Der sympoietische Ansatz in Therapie, Beratung und Pädagogik.
Carl Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2021.
269 Seiten.
ISBN 978-3-8497-0391-2.
D: 34,95 EUR,
A: 36,00 EUR.
Reihe: Systemische Therapie.
Thema
Sehen wir die Natur objektiviert als Sache, als Konsumgut, verfügbar für uns Menschen, als einen Teil der Wirtschaft, der Naturwissenschaften oder der Geisteswissenschaften? Handeln wir so, „als ob wir im Weltall beheimatet wären“, wie die im Buch zitierte Hannah Arendt (2018) einmal gefragt hat? Oder wäre es an der Zeit, „den Regen trommeln zu hören“ und uns als Teil dieser Welt zu verstehen, der sich immer an einem ganz konkreten bestimmten Ort befindet und mit diesen Kontexten verbunden ist? „Nichts geschieht ohne den Ort, an dem wir gerade sind (…). Bekanntlich wird nichts von einem objektiven Niemand im relativen Nirgendwo geschrieben.“ Und auch psychologische Vorgänge sind in der Konsequenz dann „keine rein inneren Angelegenheiten von Individuen“.
Damit sind wir mitten im Thema der Sympoiese, dem Mit(einander)-Werden in einer werdenden Welt (vgl. Donna Haraway 2018). Astrid Habiba Kreszmeier verbindet dieses Leitmotiv einer kollektiven Evolution mit folgenden drei Konzepten:
- Erdverbundenheit: Naturerfahrung als Wahrnehmungsschule und leibliche Handlung mit einer konkreten Umgebung (vgl. Alva Noë (2004) und das Konzept des Enaktivismus
- Kulturell-sprachliche Erinnerungspraxis: vgl. Aleida Assmann (2009) mit ihren Ausführungen zum kulturellen Gedächtnis oder auch Klaus Theweleit (2020) mit seinen postkolonialen Studien.
- Resonanzkultur: vgl. u.a. Hartmut Rosa (2018).
Menschen, welche „die Dinge in ihrem Zusammenwirken begreifen und sich selbst auf dem Platz der Dinge wahrnehmen (…) beginnen zu ‚schönen‘ (…)“ dann sei „Leben im Gange“, wie die Autorin schreibt. Das Buch führt mit vielseitigen theoretischen und kulturhistorischen Zugängen sowie mit vielen Beispielen aus der sozialpädagogischen und therapeutischen Arbeit in das Konzept der Sympoiese und die Praxis des Natur-Dialogs ein.
AutorIn
Astrid Habiba Kreszmeier kann auf eine langjährige Praxis als Sozialpädagogin, Psychotherapeutin, systemische Beraterin, Lehrtherapeutin und Publizistin zurückblicken. Teilweise zusammen mit ihrem Partner Hans-Peter Hufenus hat sie zu Erlebnispädagogik, zu systemischer Naturtherapie und zur systemischen Aufstellungsarbeit publiziert.
Entstehungshintergrund
Das Buch führt den Ansatz der systemischen Naturtherapie (Kreszmeier 20183) als Zugang für die Arbeit mit Menschen in ihren Kontexten konsequent weiter. Die Natur wird darin nicht als etwas gesehen, das für pädagogische oder therapeutische Zwecke konsumiert oder benutzt werden sollte, sondern als Mitwelt. Mit diesem Verständnis geschieht menschliches Handeln und Kommunizieren im Kontext unserer konkreten Umgebung, stets eingebunden in die uns umgebende Natur und Welt. Das Buch möchte die Wahrnehmung für (Zwischen-)Räume, für uns umgebende und beeinflussende Dinge und Atmosphären schärfen und eine Methodik und Sprache bereitstellen, wie Erkenntnisse gewonnen und darüber gesprochen werden kann.
Aufbau
Die Kapitel sind vielseitig zusammengestellt, die Titel wecken Interesse: Kapitel 1 „In Zeiten fortschreitender Erddemenz“ diskutiert u.a. die Frage, ob die Welt überhaupt noch von Belang sei und führt geradewegs hinüber zu Kapitel 2, zur „Praxis des Streunens“, einem überraschenden und auf den ersten Blick doch so banalen erkenntnistheoretischen Ansatz zur Erkundung unserer Umgebung, auf den die Lesenden da mitgenommen werden. Kapitel 3 „Weiter Weben“ sucht inhaltliche Verbindungen zu vergleichbaren theoretischen Ansätzen und Praktiken und führt in den Theorieteil „der sympoietische Ansatz“. Darauf folgt Kapitel 5 mit Fallbeispielen aus der therapeutischen Praxis. Kapitel 6 bringt allgemeiner gehaltene Hinweise und Beispiele für die sympoietische Arbeit und Kapitel 7 schließt mit kollegialen Gesprächen, in welchen weitere Umsetzungsformen und Konzepte vorgestellt werden. Eindrücklich u.a. die vorgestellten Erfahrungen u.a. mit Annette Bergmann zum Konzept des „Time IN“ statt Time out: Sogenannte „Systemsprenger“, erfahren, dass Bäume sie im Unterschied zu den bisher kennengelernten Menschen aushalten, weil sie da sind und bleiben, wo sie stehen.
Inhalt
Hier soll nach den obigen Ausführungen nur noch aufzählend und exemplarisch vertiefend auf einige wesentliche Anliegen und Inhalte eingegangen werden.
- Das Konzept der Sympoiese beschreibt in ein reziprokes Verständnis von Natur, die nicht als Konsumgut oder von außen zu beobachtende Sache verstanden wird, sondern als Umgebung, in der sich Menschen als Teil davon örtlich anwesend gerade befinden, handeln, kommunizieren und beeinflusst werden. Denn „der Ort und seine Dinge sprechen immer mit. Die sympoietische Arbeit erinnert daran, ihnen zuzuhören und sie mitreden zu lassen“.
- Wir lernen eine Haltung kennen, die immer wieder in beeindruckend sorgfältigen und Formulierungen Handlungsperspektiven erkundet, die dem unverfügbaren eigenwilligen Lebendigen nahekommen. Auch die Formulierungen fühlen sich leicht an: „Sorgsame reziproke Raum- und Selbstwahrnehmung appelliert nicht an unsere Barmherzigkeit der Umgebung gegenüber. Sie nimmt jedoch wahr, was der Raum mit uns und wir mit dem Raum anstellen und sucht darin jene Bewegungen, die der Erhaltung des Lebendigen am meisten dienen.“
- Mit der Einladung zur ergebnisoffenen „Praxis des Streunens“ werden Lesende mitgenommen auf erkenntnistheoretische Möglichkeiten in der Natur. Ausgangspunkt für hintergründiges Wissen zum Thema Streunen ist die Frage: „Dürfen wir das?“ Auch eine bildhafte Definition fehlt nicht: „Für das Streunen verlassen wir unseren häuslichen Bezugsraum und ziehen neugierig, atmend, aufmerksamkeitsoffen durch die Welt“. Gemeint ist hier vorerst eine „Welt ohne Werbeplakate“, damit Streunende zuerst einmal ihre Aufmerksamkeit „für eine gewisse Zeit sich selbst“ überlassen können.
- Der Themenkreis „Weiter Weben“ eröffnet exemplarisch konkrete Bezüge zu Herausforderungen in dieser Welt und zu einer Reihe von international bekannten Autorinnen und Autoren wie z.B. B. Latour (2019) oder J. Macy 2011). Diskutiert werden existenzielle Fragen, u.a. wie wir uns in dieser Welt verstehen und bewegen, ob und wie wir zugehörig oder isoliert sind, wir mit dem „massiven Leiden mit dieser Welt“ umgehen.
- Die drei Lernfelder Erdverbindung, Erinnerungspraxis und Resonanzkultur leiten über zu sechs Leitlinien, wie gehandelt werden kann, denn „handeln formt die Welt“. Über vier Fallbeispiele aus der therapeutischen Praxis und der Arbeit in Naturräumen erfahren wir auch einiges darüber, wie die Autorin sich selber mit der dinglichen Umwelt verbindet. „Während sie erzählt, kann ich meinen Blick wieder der Linde zuwenden, in sie einsinken oder auch mit ihr etwas >linden< und das Gehörte durch ihre Äste streichen lassen“.
- Im letzten Teil des Buches werden viele weitere Aspekte angesprochen und mit kulturhistorischer und philosophischer Fachliteratur referenziert, u.a. D. Abram (2012), M. Buber (1997), M. Donald (2008), B. Morizot (2020), C. v. Schaik und K. Michel (2016) und viele mehr: Thema ist zum Beispiel die Geschichte und Bedeutung des Feuers (s.a. Hufenus 2020), das Aufsuchen biografischer Plätze, Erinnerungen an sprachliche tradierte Erfahrungen und Mythologien mit der dazugehörenden mytho-mimetischen Praxis. In die Tiefe geht auch die Auseinandersetzung mit den uns umgebenden und in uns befindlichen „menschlich gemachten Dingen“, angefangen vom Herzschrittmacher über Shampoo bis hin zu Wohnungseinrichtungen, Computern, Kunstobjekten oder rituellen Objekten. Was zwischen den Dingen ist oder auch zwischen Menschen und Dingen spielt, welche Dialoge im Umgang mit Material entstehen, beeinflusst den Alltag: „Atmosphären sind in jedem Fall wesentliche Mitspieler“ und „selbst die trivialsten Dinge verwandeln sich in einer nicht-trivialen Situation zu lebendigen Mitspielern im Gefüge“, wie das Matterhorn, das zuerst einmal „ziemlich viel Gneis und Granit“ ist, aber auch das „Wahrzeichen der Schweiz“.
- Der zunehmende Verlust an Erfahrungen „mit der nicht menschlichen Welt im dreidimensionalen Raum“ und der Zunahme an „Erfahrung mit repräsentierenden Maschinen“ bilden den Ausblick und sollen auf die Notwendigkeit der Besinnung auf „atmosphärische Kompetenzen“ und den „Raumsinn“ hinweisen. Denn „rund um uns sind nicht passive Dinge oder natürliche Lebewesen, sondern potenzielle Subjekte“. Dass sich „eine grosse (sic!) Mehrheit der Menschen primär auf die Wahrnehmung von menschlichen Interaktionen eingeschwungen hat (…) hat zur Folge, dass die atmosphärische Wahrnehmung menschlastig wird und massive Verzerrungen erleidet“.
- Kollegiale Gespräche zum Abschluss des Buchs weiten den Blick auf die Felder von Sozialpädagogik, Psychotherapie, Bildungsmanagement, Organisationsberatung sowie visuelle Kommunikation und Architektur. Das Gestalten von Formen, die Atmosphären schaffen, Handlungen rufen und Sinn vermitteln. Im Nachgang wird zum letzten Mal an Theorien und Ansätze angeknüpft: So an die Handlungsorientierung ökologischer Bewegungen und an Gregory Bateson (2017) mit seinen impulsgebenden Hinweisen zur Trennung von Körper und Geist.
Diskussion
Das Buch nimmt hoch aktuelle Herausforderungen und Themen der Veränderung unserer Gesellschaft und in klientenbezogenen Berufen auf. Der sympoietische Ansatz eröffnet neue erkenntnistheoretische Zugänge und überraschende Sichtweisen auf unsere Welt, von der wir Teil sind, in der wir privat und beruflich handeln und uns bewegen. Besondere Aufmerksamkeit erhält die Welt der menschgemachten Dinge, mit denen sich die Menschen seit Jahrtausenden umgeben und die eine Bedeutung erhalten und Wirkung entfalten. Mit den vielen theoretischen Bezügen und Praxisbeispielen in einem sehr weit gespannten thematischen Bogen überzeugt das Buch als „pädagogischer Doppeldecker“: Das sich Verbinden, Erkunden, Dinge in Beziehung bringen, Atmosphäre schaffen und Zwischenräume entdecken wird sowohl in Bezug auf fachlich-theoretische Bezüge als auch für die ganz praktischen Hinweise realisiert. Dazu passt und überzeugt die sorgfältige und kreative Sprache, um die Dinge und Zwischenräume zu beschreiben: Auch sie ist „neugierig, atmend und aufmerksamkeitsoffen“.
Fazit
Mit seinen vielseitigen theoretischen und praktischen Zugängen zeigt das Buch Möglichkeiten, wie wir für die Herausforderungen in unserer heutigen Welt und in der klientenbezogenen Arbeit mit dem sympoietischen Ansatz eine passende Sprache und teilweise in uns Menschen tief verankerte Handlungsformen (wieder) entdecken und weiter entwickeln können, die auch den Kontext und den Raum, in denen wir uns bewegen und handeln mit einbeziehen.
With its versatile theoretical and practical approaches the book shows ways in which we can (re)discover and further develop a suitable language and forms of action that are often deeply anchored in us humans. For the challenges in our world today and the client-related work the sympoetic approach offers a possibility to reflect the context and the space in which we move and act.
Quellenverweise
Abram, David (2012): Im Baum der sinnlichen Natur. Die Kunst der Wahrnehmung und die mehr-als-menschliche Welt. Klein-Jasedow: ThinkOya
Arendt, Hannah (2018): Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper
Assmann, Aleida (2009): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck
Bateson, Gregory (2017): Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
Bergmann, Annette: Konzept des Time-in. www.sispa.de/angebote/time-in.html
Buber, Martin (1997): Ich und Du. Gerlingen: Schneider
Haraway, Donna J. (2018: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt: Campus.
Hufenus, Hans-Peter (2021): Urmensch, Feuer, Kochen. Die Esskultur der frühen Menschheit. Aarau: AT-Verlag
Kreszmeier, Astrid Habiba (20183). Systemische Naturtherapie. Heidelberg: Carl Auer www.sispa.de/angebote/time-in.html
Latour, Bruno (2019): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt: Suhrkamp
Macy, Joanna & Brown, Molly, Y. (2011): Die Reise ins lebendige Leben. Strategien zum Aufbau einer zukunftsfähigen Welt. Paderborn: Junfermann
Morizot, Baptiste (2020): Philosophie der Wildnis. Oder die Kunst vom Weg abzukommen. Stuttgart: Reclam
Noe; Alva (2004): Action in perception. Cambridge: MIT Press
Rosa, Hartmut (2018): Resonanz Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp
Schaik, v. Carel & Michel, Kai (2016): Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät. Reinbek: Rowohlt
Theweleit, Klaus (2020): Buch der Königstöchter. Pocahontas II. Berlin: Matthes & Seitz
Rezension von
Jürg Brühlmann
lic phil, Sonderpädagoge, Bildungswissenschafter und Organisationsberater
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Es gibt 2 Rezensionen von Jürg Brühlmann.
Zitiervorschlag
Jürg Brühlmann. Rezension vom 07.12.2021 zu:
Astrid Habiba Kreszmeier: Natur-Dialoge. Der sympoietische Ansatz in Therapie, Beratung und Pädagogik. Carl Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2021.
ISBN 978-3-8497-0391-2.
Reihe: Systemische Therapie.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28960.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.
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