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Reinhold Gravelmann: Jugend in der Krise

Rezensiert von Prof. Dr. Florian Hinken, 08.04.2022

Cover Reinhold Gravelmann: Jugend in der Krise ISBN 978-3-7799-6758-3

Reinhold Gravelmann: Jugend in der Krise. Die Pandemie und ihre Auswirkungen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 169 Seiten. ISBN 978-3-7799-6758-3. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR.

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Thema

Die Corona-Pandemie hat eine Vielzahl von wichtigen sozialwissenschaftlichen Studien hervorgebracht. Alle Befunde wahrzunehmen ist kaum möglich. Gravelmann legt mit der Publikation einen komprimierten Überblick mit dem Fokus auf die Jugendphase vor. Die Auswirkungen der Pandemie für Jugendliche und junge Erwachsene werden aus unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachtet. Der Zusammenhang von Jugend und Corona wird in seiner Ganzheitlichkeit beleuchtet, von daher zeichnet sich das Buch durch seine thematische Breite aus.

Autor

Reinhold Gravelmann ist Dipl. Pädagoge und Dipl. Sozialpädagoge. Beruflich ist er tätig als Referent beim AFET-Bundesverband für Erziehungshilfe e.V. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Migration, Jugend, berufliche Übergänge, Digitalisierung und Themen der Kinder- und Jugendhilfe.

Aufbau und Inhalt

Die Publikation umfasst neben einleitenden Vorbemerkungen und zusammenfassenden Abschlussbemerkungen 14 Kapitel:

  • Jugendzeit als bedeutende Entwicklungsphase beeinträchtigt durch die Pandemie
  • Jugend in der Pandemie – Der fehlende Rock n Roll des Lebens
  • (Zwangs)Bindung Jugendlicher an das Elternhaus
  • Jugendforschung in Zeiten der Pandemie
  • Auswirkungen der Pandemie auf die Psyche junger Menschen
  • Wie sehen Jugendliche die Krise?
  • Generationskonflikte durch die Pandemie?
  • Junge Menschen in prekären Lebenslagen sind besonders betroffen
  • Schools out – unfreiwillige Zwangspausen und ihre Auswirkungen
  • Stolperfalle beruflicher Übergang
  • Digitale Medien – hohe Relevanz vor und während der Krise sowie in der Post-Pandemie-Zeit
  • Kinder- und Jugendhilfe als Unterstützung für junge Menschen
  • Vergessene Jugend?!
  • Generation Corona? Verlorene Generation?
  • Zusammenfassende Abschlussbemerkungen

Die Gliederung zeigt bereits die Richtung und die vorgenommenen Pointierungen der Publikation. Stets ausgehend von der Perspektive junger Menschen und dem Blick auf die Jugendphase wird eine Vielzahl von Themen bearbeitet. Bestehende (empirische) Wissensstände zu den einzelnen Bereichen werden mit Befunden aktueller „Corona-Studien“ zusammengebracht und angereichert durch Überlegungen und Einschätzungen des Autors zur Situation junger Menschen in der Pandemie. Insbesondere weist er an verschiedensten Stellen auf ungünstige Bedingungen und Entwicklungen für diesen Personenkreis hin.

Im Rahmen dieser Rezension sollen die Inhalte zweier Kapitel stellvertretend dargelegt werden.

Unter der Überschrift (Zwangs)Bindung Jugendlicher an das Elternhaus konturiert Gravelmann zunächst die hohe Bedeutung der Familie für junge Menschen, auch in der Jugendphase. Seine Argumentation unterlegt er mit ausgewählten Studienergebnissen. Davon ausgehend nimmt er die Familiensituationen unter Coronabedingungen in den Blick. Die Belastungen der Eltern, z.B. durch Arbeitsplatzverlust, Kurzarbeit, die Übernahme der Lehrer*innenrolle im Homeschooling und insgesamt die geforderte Neuorganisation des Alltags werden als potenzielle Stressoren eingeordnet. Familien mussten ihren Alltag neu (er)finden. Allerdings wird die Annahme, dass dadurch in nahezu allen Familien Konflikte den Alltag bestimmen, widerlegt. Dies betrifft nur etwa 20 % der familiären Settings. Vielmehr ist es so, dass rund zwei Drittel der Familien die neue Situation gut meistern konnten. Hier besteht ein Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Status. Je höher dieser ist, desto besser scheinen auch Bewältigungsmechanismen wirksam zu werden. Jugendliche weisen zu nicht geringen Anteilen hohe Zufriedenheitswerte mit der Stimmung in der Familie auf. Nicht wenige geben an, dass es während des Lockdowns sogar zu intensiveren Erlebnissen von familiärer Nähe kam. Ein anderes Bild zeigt sich bei jungen Menschen aus Familien mit geringerem sozioökonomischem Status. Das Zusammenspiel mehrerer ungünstiger Bedingungen in Familien führte zu schlechter bewerteter Bewältigung der Krise durch Familien und junge Menschen. Die (besondere) Situation junger Menschen aus der LSBTIQ*-Community findet in kurzer Form Berücksichtigung, da Corona sie u.U. gezwungen hat, temporär in die Herkunftsfamilien zurückzukehren, die die gelebte Geschlechtsidentität potenziell ablehnen. Der Zusammenhang eines Lebens im Lockdown und dem Phänomen häusliche Gewalt bedarf der Darstellung zufolge einer differenzierten Interpretation der bestehenden Datenlage. Der Verweis auf die vermutete hohe Dunkelziffer ist gerade bei diesem sensiblen Thema nur richtig. Der Autor beschließt das Kapitel mit einer komprimierten Einschätzung. Im Rahmen derer folgert er u.a.:

„Familien haben in ihrer Bedeutung nicht nachgelassen, eher im Gegenteil. Familiäre Beziehungen (in einem erweiterten Familienverständnis) bieten der großen Mehrzahl der Jugendlichen und jungen Menschen auch in Krisenzeiten Stabilität, Rückhalt und Orientierung […]. Allerdings kann ein Teil der jungen Menschen nicht auf diese familiäre Unterstützung bauen, im Gegenteil ist in krisenhaften Zeiten eine Verschlechterung der Situation gegeben“ (S. 33).

In das Kapitel Kinder- und Jugendhilfe als Unterstützung für junge Menschen führt Gravelmann mit einer kurzen Skizzierung des Auftrags der Kinder- und Jugendhilfe ein. Die zentralen Herausforderungen des Kinder- und Jugendhilfesystems im Krisenmodus finden eine knappe Pointierung. Darauf aufbauend ergibt sich für den Autor die begründete Folgerung, dass die Kinder- und Jugendhilfe in der Pandemie in weiten Teilen handlungsfähig geblieben ist und konstruktive Wege der Auftragssicherung gefunden hat. Konkret geht Gravelmann dann exemplarisch auf vier „Reaktionen“ des weit gefassten Systems ein. So stellt er heraus, dass Partizipation junger Menschen lange keine Berücksichtigung im Rahmen der Pandemiebewältigung fand. Gleichzeitig sieht der Autor, dass viele (Fach)Verbände, die Wissenschaft und weitere Akteure in dem Feld durch das kontinuierliche Hinweisen auf die Interessenslagen der jungen Menschen zu positiven Veränderungen beigetragen haben. Weiter wird die teilweise (Nicht)Erreichbarkeit von jungen Menschen durch die Kinder- und Jugendhilfe während der Pandemie akzentuiert. Erkennbare Handlungsbedarfe, vor allem im Bereich der Digitalisierung, werden aufgeführt. Hieran schließt auch das nächste Beispiel, die Onlineberatung, an. Dem Autoren zufolge sind digitale Zugangswege eine sinnvolle Ergänzung der Face-to-Face Kommunikation, deren Nutzung aber noch in keiner Weise eine Selbstverständlichkeit für die institutionellen Akteure darstellt. So folgert er: „Offensichtlich hat die Coronakrise im Feld der Online-Ansprache junger Menschen noch wenig an Innovation bewirkt“ (S. 113). Wird allerdings das letzte gewählte Beispiel, die Offene Kinder- und Jugendarbeit betrachtet, zeigten sich hier intensive Aktivitäten mit Jugendlichen über digitalen Medieneinsatz in Kontakt zu bleiben. Eine Aufrechterhaltung des Kontakts gelang nicht bei allen jungen Menschen in der fachlich gewünschten Qualität. Interessant ist aber, dass die Pandemie dafür sorgte, dass zu nicht unwesentlichen Anteilen neue Nutzerinnen und Nutzer die Angebote der (digitalen) Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Anspruch nahmen. Das Kapitel schließt Gravelmann mit der Erwartung und Einschätzung, dass die im Krisenmodus entwickelten Ansätze bzw. erkennbaren Bedarfe zukünftig in die alltägliche Praxis übertragen werden sollten.

Hier sind die Inhalte zweier Kapitel skizziert worden. Insbesondere die abschließenden Kapitel „Vergessene Jugend?!“ und „Generation Corona? Verlorene Generation?“ können als Diskussion und Pointierung verstanden werden. Dabei geht es dem Autor um die Offenlegung relevanter Befunde, die im Rahmen zukünftiger Entscheidungsfindungen im Umgang mit solchen oder ähnlichen Szenarien nicht unberücksichtigt bleiben sollten.

Diskussion

Der Autor weist an mehreren Stellen darauf hin, dass die Forschung einen Zugang eher zu sozioökonomisch besser gestellten jungen Menschen herstellen konnte. Das mindert nicht den Wert der entsprechenden Studien, lässt aber vermuten, dass Argumentiertes zu Teilen, insbesondere für eher nicht erreichte Personenkreise, auch anders gedeutet und interpretiert werden könnte. Der Autor nimmt daher gerade auch sogenannte „benachteiligte“ junge Menschen mit in den Fokus. Lesende haben nach der Lektüre einen sehr guten Einblick das Jugendlichsein unter Pandemiebedingungen und die damit einhergehenden Belastungen und Hindernisse, denn Gravelmann beschreibt anschaulich und facettenreich die Auswirkungen der Pandemie auf junge Menschen in der Adoleszenz. Darüber hinaus leitet der Autor immer wieder ab, welche politischen, gesellschaftlichen und fachlichen Aufgaben anstehen, um die Belange junger Menschen nach der Krise angemessener zu berücksichtigen und Auswirkungen der Pandemie, u.a. psychischer Art, abzumildern bzw. aufzufangen.

Gravelmann ist eine starke Fokussierung auf der Grundlage umfassender (und beeindruckender) Recherche gelungen. Hier ist auch die Frage zu beantworten, für welchen Leserinnen- und Leserkreis das Buch empfohlen werden kann. Für Vertreterinnen und Vertreter aus der Jugendhilfepraxis und der Politik ist die Lektüre aufgrund der komprimierten Darstellung auf Basis derer eine Erfassung der Thematik innerhalb kurzer Zeit möglich ist und vermutlich Reflexionsanstöße für das eigene berufliche, institutionelle und politische Handeln damit einhergehen, zu empfehlen. Für den Einsatz in der Lehre eignet sich das Buch ebenfalls. Studierenden wird hier eine sehr gute Grundlage für exemplarische Vertiefungen an die Hand gegeben. Interessierten Leserinnen und Lesern außerhalb der Sozialen Arbeit und der Politik, z.B. Presse, Schule oder auch für Interessierte ohne pädagogische und institutionelle Bezüge, kann das Buch zudem aufgrund der multiperspektivischen Erfassung des Phänomens empfohlen werden.

Fazit

Insgesamt ein interessantes und unbedingt empfehlenswertes Buch, das auch Jahre später spannend zu lesen sein wird, um in der Retrospektive nachzuvollziehen, wie die Krise von Jugendlichen verarbeitet wurde, welche Einschätzungen Bestätigung erfahren haben und welche durch die Krise erzwungenen neuen Handlungsansätze in Bezug auf Jugendliche für die Nach-Corona-Zeit aufgegriffen worden sind.

Rezension von
Prof. Dr. Florian Hinken
Professor im Studiengang Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe an der Evangelischen Hochschule Berlin
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Es gibt 10 Rezensionen von Florian Hinken.

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ISSN 2190-9245