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Ronald Lutz, Wolfgang Sartorius u.a.: Lehrbuch der Wohnungslosenhilfe

Rezensiert von Moritz Niklas Frietzsche, 11.03.2022

Cover Ronald Lutz, Wolfgang Sartorius u.a.: Lehrbuch der Wohnungslosenhilfe ISBN 978-3-7799-3094-5

Ronald Lutz, Wolfgang Sartorius, Titus Simon: Lehrbuch der Wohnungslosenhilfe. Eine Einführung in Praxis, Positionen und Perspektiven. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 4., überarbeitete Auflage. 282 Seiten. ISBN 978-3-7799-3094-5.
Reihe: Studienmodule soziale Arbeit.

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Thema

Das „Lehrbuch der Wohnungslosenhilfe“ erscheint in mittlerweile vierter und überarbeiteter Auflage in der Reihe „Studienmodule Soziale Arbeit“ im Verlag Beltz Juventa. Die drei Autoren legen ein ausführliches und aktuelles Einführungswerk in die Praxis, Positionen und Perspektiven der Wohnungslosenhilfe vor.

Das Lehrbuch nimmt eine bedeutende Stellung in den Veröffentlichungen zur Wohnungslosenhilfe ein. Die Fachliteratur im deutschsprachigen Raum entbehrt vergleichbarer Werke, die sich der Einführung in das Arbeitsfeld der Wohnungslosenhilfe widmen. Auch wenn die Zahl der Wohnungslosen steigt (BAG W, 21.12.2021) und die Wohnungslosenhilfe ein klassisches Arbeitsfeld Sozialer Arbeit ausmacht, wird sie als eigenständiger Arbeitsbereich in den Curricula der Studiengänge Sozialer Arbeit eher als Nebensache behandelt. In der Fachliteratur gibt es zwar eine Vielzahl an empirischen Arbeiten rund um den Themenkomplex Wohnungslosigkeit, jedoch sind die vorliegenden Arbeiten zur Besonderheit und Vielfältigkeit des Arbeitsfeldes Wohnungslosenhilfe rar gesät. Somit schließt das „Lehrbuch der Wohnungslosenhilfe“ eine Leerstelle im sozialarbeitswissenschaftlichen Diskurs.

Neben dem Anspruch, die Literaturlandschaft der Sozialen Arbeit um ein umfangreiches Lehrbuch zu ergänzen, betonen Lutz, Sartorius und Simon ihre sozialpolitische und antistigmatisierende Perspektive.

Die Autoren legen viel Wert auf die Reflexion der Begriffe, in denen von Wohnungslosen gesprochen wird. Sie zeichnen die Geschichte und Implikationen verschiedener Zuschreibungen wie „asozial“ und „nicht sesshaft“ und erläutern die Wende im Denken, die mit dem Begriff „alleinstehende Wohnungslose“ gekennzeichnet ist. Gleichzeitig betonen sie die Bedeutung historischer Kontinuitäten in der ordnungs- und sozialpolitischen Behandlung wohnungsloser Menschen, markieren Brüche und weisen Perspektiven auf.

Die Autoren stellen dar, dass die sozialstaatlichen Reformen im der Agenda 2010 weiterhin eklatante Mängel in Fragen des rechtlichen Zugangs wie der materiellen Versorgung der Sozialleistungsempfänger_Innen aufweisen. Das „Lehrbuch“ verweist hier an verschiedenen Stellen auf politischen Reformbedarf wie auch auf praktische Hinweise für Fachkräfte, wie sie für das Recht auf menschenwürdige Grundversorgung ihrer Adressaten eintreten können.

In Bezug auf Fragen der Ökonomisierung wie aktueller Diskurse um die Innovation der Wohnungslosenhilfe werfen die Autoren drei grundsätzliche Fragen an die Wohnungslosenhilfe auf:

  • „- Soll sich die Wohnungslosenhilfe von ihrer bisherigen Klientel verabschieden?
  • Wie wird sich Wohnungslosenhilfe neuen Zielgruppen öffnen?
  • Sollen die methodischen Zugänge verändert werden?“ (Lutz et al, 2021: 11)

Vor diesem Hintergrund führen die Autoren ein in verschiedene Konzepte und Methoden der Wohnungslosenhilfe, stellen Vor- und Nachteile dar und erläutern die Bedeutung der Bedienung spezifischer Hilfebedarfe.

Aufbau und Inhalt

Das „Lehrbuch der Wohnungslosenhilfe“ umfasst 14 Kapitel (inklusive Einleitung), die einerseits in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen, andererseits jedoch als einzelne Texte für Seminareinheiten oder zum Selbststudium genutzt werden können. Jedes Kapitel beginnt mit einem kurzen Abstract und endet mit Übungsfragen zur Reflexion der behandelten Inhalte, verweist auf Vorschläge für das Selbststudium und schließt mit Literaturhinweisen zum Weiterlesen. Das Buch enthält darüber hinaus ein umfangreiches Stichwortverzeichnis.

Den historischen Einstieg bildet das Kapitel 2 zu Armut und darauf bezogener gesellschaftspolitischer Reaktionen. Die Autoren beginnen ihre Darstellung mit dem Mittelalter und der Neuzeit, um dann den Bogen in die Nachkriegszeit zu spannen. Kapitel 3 behandelt die Entwicklung des Armutsbegriffs und der Armenhilfe nach 1970. Die Autoren legen in diesen beiden historischen Kapitel viel Wert auf eine allgemeinere Darstellung von Armut und Armenfürsorge, mit einer besonderen Betonung der Entwicklung von Kontrollsystemen. Kapitel 3 enthält darüber hinaus drei Unterkapitel zu aktuellen Armutsentwicklungen. Hervorzuheben ist hier das Kapitel zu Sars-CoV-2, welches trotz noch mangelhafter empirischer Forschung bedenkenswerte Überlegungen enthält. Von trauriger aktueller Bedeutung ist ebenfalls das Kapitel zu Wohnungslosen als Opfer rechtsextremer Gewalt und als Objekte rechtspopulistischer Instrumentalisierung.

Dem Verhältnis von Armut, Arbeits- und Wohnungslosigkeit ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Das Kapitel erläutert, wie Armut und Arbeitslosigkeit prekäre Lebenslage bedingen und so das Risiko des Wohnungsverlustes potenzieren. Zu diesem Zweck stellen die Autoren die Zusammenhänge von Armut, Arbeitslosigkeit, Sanktionspraxis, Wohnungsmarkt und Wohnungspolitik dar. Die Bedeutung der politischen und ökonomischen Bedingungen für Wohnungslosigkeit wird so ausführlich und pointiert dargestellt.

Eine Art Zusammenführung der vorigen Kapitel bildet das Kapitel zum Wandel der Erklärungsmodelle von Wohnungslosigkeit. Das Kapitel diskutiert Erklärungsmodelle in einem zeitlichen Rahmen von 130 Jahren. Hier zeigen die Autoren Kontinuitäten in der Verschiebung gesellschaftlicher Bedingungen in das Individuum. Exemplarisch steht hierfür der Begriff der „Nichtsesshaftigkeit“, welcher die Wohnungslosigkeit prinzipiell in das Verschulden und den Willen des wohnungslosen Individuums verwandelt. Auch wenn der Begriff „Nichtsesshaft“ heutzutage kaum noch zu hören ist, zeigen die Autoren auf, inwiefern die Vorstellung des Eigenverschuldens auch heute noch präsent ist. Gerade in einem Lehrbuch für angehende Praktiker_Innen der Sozialen Arbeit stellen diese einführenden Kapitel von gesellschaftlichen Bedingungen und Diskursen eine wichtige Reflexionsfolie für die Entwicklung einer eigenen professionellen Haltung dar.

Das Kapitel 6 widmet sich den rechtlichen Grundlagen der Wohnungslosenhilfe. Die Autoren legen hier vor allem Wert auf die Darstellung der Schwierigkeiten bei der Rechtsverwirklichung der Rechtsansprüche von Wohnungslosen.

Soziale Arbeit mit Wohnungslosen (Kapitel 7) bildet den Einstieg in die Praxis des Arbeitsfeldes. Die Autoren erläutern zunächst das Hilfesystem für Wohnungslose, um dann zu allgemeinen Gesichtspunkten der Wohnungslosenhilfe überzugehen. Die folgenden Kapitel widmen sich ausführlicher den einzelnen Einrichtungstypen: Beratungsstellen und stationäre Einrichtungen. Hier kommen jeweils Adressatengruppen, Aufbau und Struktur sowie Methoden zur Sprache. Außerdem weisen die Autoren auf die besondere Bedeutung von Vernetzung in der Wohnungslosenhilfe hin. Neben diesen zwei klassischen Einrichtungstypen werden ebenfalls besondere Bedarfe und entsprechend spezialisierte Einrichtungen vorgestellt. Hier finden sich z.B. die Fachstellen für Wohnungsnotfälle und Prävention, medizinische Hilfen, Verbünde der Wohnungslosenhilfe und die Straßenzeitungen. Den besonderen Bedarf, den wohnungslose Frauen haben, widmen die Autoren ein eigenes ausführliches Kapitel.

Im Kapitel 12, welches die Herausforderungen für das Hilfesystem zum Gegenstand hat, werden Grenzfälle und Randbereiche des Hilfesystems diskutiert. Leitend ist den Autoren die Frage, wie die Wohnungslosenhilfe diesen Anforderungen begegnen kann, ohne ihre Identität zu schwächen. Behandelt werden z.B. Straßenkinder, psychisch kranke Wohnungslose, die besondere Ausgangslage in Ostdeutschland und die durch Leistungsvereinbarungen und Qualitätsdokumentationssystemen hervorgerufenen Veränderungen der Wohnungslosenhilfe.

Die Vorstellung des Arbeitsfeldes kommt zu seinem Schluss in dem Kapitel zu Trägern und Finanzierungen der Hilfen und den Lobbyorganisationen.

Das abschließende Kapitel zu Programmatiken und aktuellen Diskursen der Wohnungslosenhilfe zieht ein kritisches Resümee der aktuellen Wohnungslosenhilfe in Deutschland und wirft Fragen zu ihrer Zukunft vor auf. Hier warnen die Autoren vor den Auswirkungen einer „Zwei-Klassen-Sozialarbeit“, die sie vor dem Hintergrund der Normalisierung von Armut und der breiten Rückkehr des Ehrenamtes sehen. Als wichtigen Bezugspunkt der Debatte um die Zukunft der Wohnungslosenhilfe stellen die Autoren das Grundsatzprogramm der BAG W (BAG W 2001) vor und ergänzen es um eigene Weiterungen. Als Konsequenz ihrer sozialpolitischen Thesen der vorigen Kapitel postulieren die Autoren eine neue politische Anwaltschaft, die sich den eklatanten Mängeln, Schranken und Ausschließungsmechanismen des aktivierenden Sozialstaats und der Wohnungspolitik widmen müsse. Den Abschluss bildet die Frage nach der Zukunft der Wohnungslosenhilfe. Das Unterkapitel verweist auf zentrale Problemfelder, die es aus aktuellen Veröffentlichungen der Fachdebatte deduziert und überführt jene in eine Reihe von offenen Fragen, denen sich die Wohnungslosenhilfe stellen muss – „nicht nur um zu ‚überleben‘, sondern um sich den neuen Herausforderungen zu öffnen und sie zu bewältigen“ (Lutz et al, 2021: 260).

Diskussion

Das „Lehrbuch der Wohnungslosenhilfe“ bietet eine Fülle von Stoff, übersichtlich dargestellt und durchdacht angeordnet. Das Buch eignet sich, wie der Rezensent aus eigener Erfahrung berichten kann, hervorragend zum Einsatz in Bachelorstudiengängen. Insbesondere die weiterführenden Literaturhinweise sind gut ausgewählt und erleichtern Studierenden den Einstieg in das selbstständige Studium. Die vorliegende vierte Auflage ist auf dem neuesten Stand, was das Kapitel zur Corona-Pandemie deutlich zeigt.

Da das Buch so konzipiert ist, dass die einzelnen Kapitel auch isoliert behandelt werden können, kommt es zu Wiederholungen, was manchmal zulasten einer genaueren Darstellung geht. So wirkt die Kritik an der Agenda 2010 manchmal redundant, während aktuelle Debatten im Zuge des Gentrificationbegriffs, wie die unternehmerische Stadt und die sie begleitenden Politiken und Diskurse der Kontrolle des öffentlichen Raumes nur gestreift werden.

Es irritiert, dass die Autoren im Kapitel zur Geschlechtersensibilität lediglich die Lage von cis-Frauen thematisieren. Unter der Gruppe der wohnungslosen Menschen sind auch FLINTA*-Personen, welche jeweils unterschiedliche Hilfe- und Schutzbedarfe haben. Hier wäre ein Bezug zu aktuellen Debatten der Queer- und Gender-Studies im Sinne der Intersektionalität wünschenswert. In Bezug auf die Wohnungslosenhilfe mit Migrant_Innen vermisst der_die Lesende ebenfalls eine (selbst-) kritische, intersektionale Perspektive. Die Verknüpfungen von Armut, Geschlecht und Migration zu reflektieren würde einer zentralen Stärke des Buches, seiner Kritik an der Stigmatisierung und Diskriminierung wohnungsloser Menschen, neue Schärfe verleihen.

Fazit

Die vorliegende Publikation ist eine ausführliche und aktuelle Einführung in das Hilfesystem und die Fachdebatte der Wohnungslosenhilfe. Es besticht durch seinen Aufbau, der seine Eignung zum Lehrbuch ausmacht. Das „Lehrbuch der Wohnungslosenhilfe“ zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass es neben der Darstellung der Arbeitsfelder mit eigenen fachlichen und politischen Positionierungen zum Denken und Diskutieren anregt. Insofern ist das Buch für Praktiker_Innen wie für Studierende und Lehrende der Sozialen Arbeit geeignet und ein wichtiger Beitrag zur Weiterentwicklung der Wohnungslosenhilfe.

Literatur

Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W): Für eine bürger- und gemeindenahe Wohnungslosenhilfe. Bielefeld 2001.

Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W): Aktuelle Schätzung der BAG Wohnungslosenhilfe. 21.12.2021. https://www.bagw.de/de/themen/zahl-der-wohnungslosen/index.html [letzter Zugriff: 11.02.2022]

Rezension von
Moritz Niklas Frietzsche
M.A. Soziale Arbeit, Integrativer Lerntherapeut in Hamburg und freier Hochschuldozent an verschiedenen Hochschulen in Deutschland.
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Es gibt 2 Rezensionen von Moritz Niklas Frietzsche.

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Zitiervorschlag
Moritz Niklas Frietzsche. Rezension vom 11.03.2022 zu: Ronald Lutz, Wolfgang Sartorius, Titus Simon: Lehrbuch der Wohnungslosenhilfe. Eine Einführung in Praxis, Positionen und Perspektiven. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 4., überarbeitete Auflage. ISBN 978-3-7799-3094-5. Reihe: Studienmodule soziale Arbeit. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28964.php, Datum des Zugriffs 27.03.2023.


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