Johanna Rolshoven: Stadtforschung als Gesellschaftsforschung
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Schröder, 26.01.2022

Johanna Rolshoven: Stadtforschung als Gesellschaftsforschung. Eine Einführung in die Kulturanalyse der Stadt.
transcript
(Bielefeld) 2021.
330 Seiten.
ISBN 978-3-8376-5995-5.
D: 37,00 EUR,
A: 37,00 EUR,
CH: 45,10 sFr.
Reihe: Urban Studies.
Thema
Der in der Reihe Kulturwissenschaften des transcript Verlags publizierte Band von Johanna Rolshoven erkundet Stadt aus einer kulturanalytischen Perspektive und entwirft daraus ein Forschungsprogramm zur Analyse von Gesellschaft. Ziel des Bandes ist es, mit Denkanstößen (insbesondere) aus der deutsch- und französischsprachigen Stadtanthropologie eine Quelle der Inspiration für Stadtforscher*innen zu sein.
Aufbau und Inhalt
Nach dem Vorwort beginnt der Band mit einem Parcours der Erkenntnisinteressen. Dabei wird deutlich, dass Stadt in der Spätmoderne durch Städtetrips und Investitionspraktiken, wie dem Erwerb von Zweitwohnsitzen, ihre Eigenschaften als Lebens- und Arbeitsorte zugunsten touristischer Attraktivität in den Hintergrund treten lässt. Solche gesellschaftlichen Transformationsprozesse spiegeln sich in den Praktiken der Menschen und formen diese zugleich. Stadt wird durch unser alltägliches Handeln gemacht (Doing City) und sie schreibt sich dabei in die Mentalität ihrer Bewohner*innen ein. Von der Autorin vorgeschlagen wird eine trialektische Perspektive, die das Zusammenspiel von gelebtem (Stadt als Lebensraum), repräsentiertem (Stadt als diskursiv verhandeltem Raum) und gebautem Stadttraum (physische Raum) berücksichtigt. Diese Raum-Triade wird durch eine Zeit-Triade (Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft) komplementiert. Diese Raum-Zeit-Triade soll „ein methodisches Geländer und roter Faden“ (S. 36) für die weiteren Kapitel bieten.
Im Kapitel Stadtgeschichte wird die disziplinspezifische Stadtforschung von der Volkskunde zur Kulturanalyse dargestellt. Zum einen wird die anfängliche ablehnende Haltung disziplingeschichtlich gegenüber der Stadt als möglicher Forschungsgegenstand dargestellt, aus der sich die bis heute berichtigte Kritik an der Stadtforschung begründen lässt: In der Stadt wird meist das Außergewöhnliche betrachtet, Forschung findet zuvorderst in attraktiven Großstädten statt und eine bürgerliche (und vorwiegend männliche) Perspektive auf Stadt wird in der Stadtforschung perpetuiert. Diese Perspektive blendet nicht nur andere Stimmen jenseits der männlichen, bürgerlichen Perspektive aus, sondern ebenso auch alltagsrelevante, normale Themen (z.B. Müllfrage) in Mittelstädten. Die Autorin geht in ihrer Rekonstruktion der Historie der Stadtforschung explizit auch auf die im Wissenschaftsdiskurs wenig berücksichtigten Stimmen von Forscherinnen ein (bspw. Jane Addams), die bedeutende Beiträge zur Stadtforschung geliefert haben. Das politische Anliegen der Hull-House-Bewegung wie auch der Stadtreportage im späten 19. und 20. Jahrhunderts sieht die Autorin heute durch eine standardisierte Wissenschaftslandschaft der Gegenwart weitgehend ins Abseits der Mainstreamforschung (resp. „Malestreamforschung“) gedrängt (S. 79).
Im Kapitel Methoden der Stadtforschung werden Methoden vorgestellt, die der Dynamik städtischer Prozesse gerecht zu werden versuchen, indem sie nicht mehr klassisch ortsbezogen Stadt ethnografisch betrachten, sondern zu multi-lokalen, beweglichen Ethnografien werden. Die Autorin illustriert das bewegliche Folgen einer Spur (Methode der schwebenden Aufmerksamkeit, S. 84) an ihrer eigenen Forschung zwischen Marseille und Algier. Die methodische Offenheit und (Selbst-)Reflexivität der Beobachtenden eröffnen die Möglichkeit neue Forschungsgegenstände empirisch zu entdecken, die es dann zu kontextualisieren gilt.
Die folgenden Kapitel Kontextualisierung I und II bieten einen Interpretationsrahmen für explorierte urbane Forschungsgegenstände. Zunächst wird ganz grundlegend eine Kontextualisierung (I) in Zeitgenossenschaft vorgenommen, die auf die Frage eine Antwort zu geben versucht: „In welchem Präsens, welcher Gegenwart findet das Geschehen statt und welche Bedingungen und Eigentümlichkeiten bietet es?“ (S. 101). Die Kontextualisierung (II) stellt theoretische Begriffe als Denkwerkzeuge vor, die der empirischen Analyse als dehnbare Leitplanken der Interpretation (S. 112) dienen sollen. Der Begriff der Offenheit wird im Sinne einer offenen Stadt diskutiert, die sich an sozialer Heterogenität, kulturelle Vielfalt und symbolischer Vielsprachigkeit orientiert. Städtische Vielfalt wird bezogen auf Ökonomien und auf die Bewohner*innen einer Stadt erläutert. Zu den zwei theoretischen Begriffen, Offenheit und Vielfalt, kommen zwei Grundkategorien Gender und Geschichtlichkeit hinzu. Zu den beiden Grundkategorien zeigt die Autorin anhand eigener Untersuchungen auf, wie einseitig männlich geprägt die Stadt ist und zum anderen wie Geschichtlichkeit der Stadt medial in Diskursen vermittelt wird und zugleich individuell biografische Bedeutung erlangt. Letzteres nicht nur bezogen auf biografische Erinnerungen des persönlichen Erlebens von Stadt, sondern auch auf die Wirkung potenter oder stigmatisierender Stadtbilder, die sich im Selbstbewusstsein der Bewohner*innen niederschlagen. Darüber hinaus werden Urbanität und Anonymität anhand von Beispielen und Studien als Charaktermerkmale der Stadt dargelegt. Deutlich wird, dass gerade das Ungeplante und spannungsgeladene die Stadt ausmacht.
Im Kapitel Stadt und Gesellschaft in der Gegenwart wird entlang von Schlüsselbegriffen der Ortspolyzentrik, Individualisierung, Zeit-Raum-Kompression, Governance und Gouvernmentälität die gegenwärtige Gesellschaft diskutiert und am Beispiel einer konkreten Stadtbetrachtung von Marseille veranschaulicht. Dabei wird eine kritische Perspektive aufgemacht, die zum einen neoliberale Tendenzen aufdeckt und zum anderen offenlegt, dass die urban middle class den Stadtraum (und nicht etwa auch marginalisierte Gruppen) gestaltet.
Das Kapitel the whole way of conflict betrachtet Stadtforschung aus Perspektive einer kritischen Kulturanthropologie. Am Beispiel des Sicherheitsdiskurses wird verdeutlicht, wie mediale Darstellungen Angst vor städtischen Orten erzeugen‚ die in dem Ausmaß statistisch nicht begründbar ist.
Im letzten Kapitel People make cities, but cities make citizens wird u.a. die politische Idee diskutiert, ius solis oder ius sanguinis (Bürgerschaft nach Geburtsort oder Abstammung) durch ein ius domicile (nach Wohnort) zu erweitern. Abschließend wird noch einmal die These des Bandes aufgegriffen, das sich gesellschaftliche Realitäten und Diskurse in der Stadt als Gesellschaftsforschung analysieren und kritisch deuten lassen.
Diskussion
Beim Lesen des Bandes entsteht der Eindruck, wie bei der dargestellten Stadtforschung (in ‚schwebender Aufmerksamkeit‘), über immer wieder neue Themen praktisch zu stolpern und diese städtischen Themen in exkursartigen Ausführungen zu erkunden oder anhand der Literaturverweise weiter zu verfolgen. Dadurch liest sich das Buch weniger als lehrbuchartiges Nachschlagewerk, indem man sich zu einzelnen Aspekten von Stadtforschung informieren kann, als ein in Teilen auch essayistisch geschriebener Band, der sehr anschaulich sich um das Argument dreht, Stadtforschung als Gesellschaftsforschung zu verstehen und zahlreiche Anregungen bietet, wie man sich dem Gegenstand Stadt forschend nähern kann.
Fazit
Wer ein Lehrbuch zum Nachschlagen und Erläutern von städtischen Themen erwartet, wird vermutlich enttäuscht. Die Stärke des Bandes liegt vielmehr in der Entfaltung des Arguments, Stadtforschung als Gesellschaftsforschung zu betrachten. Der/Die Leser*in werden nicht nur in dem Blick geschult, städtische Themen (neu) zu entdecken und entsprechend in einen gesellschaftlichen Kontext zu stellen, sondern sie werden auch immer wieder darauf aufmerksam gemacht, wie Wissenschaft bestimmte Perspektiven ausblendet. Zu den blinden Flecken in der Historie gehören dabei nicht nur die späte Zuwendung zur Stadt als Gegenstand von Forschung, sondern vor allem auch die stark männlich und bürgerlich dominierte Perspektive auf städtische Forschungsgegenstände. Entsprechend liefert das Buch einen wichtigen Beitrag zum Fachdiskurs, der durch eine internationale und auch feministische Perspektive erweitert wird und dazu aufruft, marginalisierten Stimmen und alltäglichen Themen im urbanen Raum in der Stadtforschung mehr Raum zu geben.
Rezension von
Prof. Dr. Christian Schröder
Professor für Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, Fakultät für Sozialwissenschaften
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