Ruth Hampe, Monika Wigger: Heilpädagogische Kunsttherapie
Rezensiert von Prof. Dr. Carl Heese, 11.01.2022
Ruth Hampe, Monika Wigger: Heilpädagogische Kunsttherapie. Grundlagen, Methoden, Anwendungsfelder. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2020. 183 Seiten. ISBN 978-3-17-032077-2. D: 32,00 EUR, A: 32,90 EUR.
Autorinnen
Ruth Hampe und Monika Wigger lehrten und lehren in den Bereichen Heilpädagogik, Kunsttherapie und Ästhetik an der Katholischen Hochschule Freiburg und an der Sigmund-Freud-Universität. Frau Wigger ist auch als Kunsttherapeutin in eigener Praxis tätig.
Aufbau und Inhalt
Kapitel 1 erläutert die Verwendung des Begriffs der Heilpädagogik, den die Autorinnen gegen die spezialisierten Sonderpädagogiken festhalten wollen. Sie betonen den damit angesprochenen Ganzheitscharakter.
Kapitel 2 führt anhand von Meilensteinen der Heilpädagogischen Kunsttherapie historisch in die ‘Brückenfunktion des ästhetischen Gestaltens‘ ein. Die wesentlichen Impulse stammen vornehmlich aus dem Umfeld der Anti-Psychiatrie, ästhetische Produktionen geistig behinderter Menschen hätten anfangs nur wenig Beachtung gefunden. Die Brückenfunktion wird als Kommunikationsbrücke im Hinblick auf das ästhetische Selbsterleben sowie auch auf die Mitteilungsebene zu Anderen erläutert.
Kapitel 3 stellt die Heilpädagogische Kunsttherapie als eigenständiges Förderkonzept vor, das nicht nur auf schulische Zusammenhänge beschränkt bleibt, sondern allgemein in psychosozialen und pädagogischen Arbeitsfeldern Einsatz findet. Für die zunehmende Zahl von Arbeitsfeldern seien kunsttherapeutische Förderkonzepte zu entwickeln. Das Modell der Heilpädagogischen Kunsttherapie sieht Fördermöglichkeiten in beinahe allen menschlichen Funktionsbereichen vor. Im Einzelnen werden hier genannt: Emotionalität, Sinneswahrnehmung, Kognition, Sprache, Handeln, Motorik, Kommunikation und Kreativität.
Kapitel 4 erläutert die konzeptuellen Grundlagen. Hier werden zuerst die ‚Parameter des bildnerischen Gestaltens‘ behandelt: Rahmen, Zeit, Ort, Container, Material und Licht. Zum Thema der Rahmung wird unter anderem auf eine Divergenz von Kunst und Kunsttherapie hingewiesen. Für letztere sei es wesentlich, einen Rahmen anzubieten, um die Entfaltung von Autonomie zu ermöglichen, während Kunst mit ihrem immanent reflexiven Charakter auch die Notwendigkeit einer Rahmung experimentell aufgelöst habe. Der Container betont den aufbewahrenden Charakter des künstlerischen Werks. In Anlehnung an den psychoanalytischen Begriff geht es hier auch um ein Bewahren von innerpsychischen Prozessen. Entscheidend ist dabei, dass das Aufbewahren auch einen aktiven Teil von Verarbeitung enthält. Als Referenz aus der Kunst wird dazu das Künstlerpaar Christo und Jean-Claude herangezogen.
Neben diesen grundlegenden Parametern wird die Relevanz von Bindung und Beziehung, besonders auch der über das Objekt und das Material vermittelten Beziehung in der Kunsttherapie erläutert. Es werden Anleihen beim Begriff des Spieles gemacht. Zum einen dient der spielerische Charakter der Kunsttherapie dem Aufbau eines vertrauensvollen Miteinanders, zum andern sind künstlerische Objekte analog zum psychoanalytischen Übergangs(spiel)objekt als Übergangssymbole zu verstehen. Weitere Konzepte zur Einordnung und Erläuterung des Ansatzes sind unter anderen der vorsprachliche Dialog, die emotionale Selbstwahrnehmung, das Lernen am Modell, die Ressourcenorientierung, die Biografiearbeit.
Kapitel 5 behandelt die Methoden einer heilpädagogischen Kunsttherapie. Neben gestaltenden Methoden werden auch rezeptive Methoden erläutert. Auch die neuen Medien finden Berücksichtigung.
Kapitel 6 thematisiert die kunsttherapeutische Begleitung über die Lebensspanne. Zentral ist dabei die Entwicklung der Sinnesmodalitäten. Der Abschnitt schließt mit einer umfangreichen Liste von exemplarischen Übungsaufgaben für die einzelnen Sinne.
Kapitel 7 führt in Anwendungsfelder mit vielen Praxisbeispielen ein. Es werden pädagogische, klinische und weitere Anwendungsfelder theoretisch und praktisch anhand von Fallvignetten dargestellt.
Kapitel 8 stellt exemplarisch Übungen zu verschiedenen Förderbereichen vor. Die Förderbereiche betreffen die Selbstexploration, die kommunikative Kompetenz, die Gestaltung kommunikativer Räume, das Körpererleben sowie die Natur- und Umwelterfahrung. Die Autorinnen verfahren hier jeweils so, dass nach einer breiteren Einführung zu der jeweiligen Übung das nötige Material angegeben wird, anschließend wird eine mögliche Vorgehensweise beschrieben und zum Abschluss werden Aspekte der heilpädagogischen Förderung durch diese Übung erörtert. Für das Sandspiel zum Beispiel nehmen sie Bezug auf die Arbeit mit Sand in der Psychotherapie, es werden praktische Hinweise zur nötigen Größe eines Sandkastens sowie zur Dokumentation gegeben. Für das Vorgehen empfehlen sie eine biografieorientierte Einstimmung und eine Relativierung der Produktorientierung der Klienten. Für die heilpädagogische Förderung heben sie das sinnlich-haptische Erleben bei dieser Arbeit hervor und erörtern kurz die Einsatzmöglichkeiten in verschiedenen Altersgruppen. Bei der Betonung des Gestaltens gegenüber dem Gestalteten sehen sie auch ein kreativitätsförderndes Potenzial in der Arbeit mit dem Sand.
Der Ausblick gibt eine konzentrierte Zusammenfassung des Buches und postuliert eine innovative Funktion der Heilpädagogischen Kunsttherapie für die individuelle und die soziale Lebensgestaltung, die ‚im Rahmen von exemplarischen Projektarbeiten‘ validiert werden sollte.
Diskussion
Das Buch skizziert den Begriff und eine Begründung der Heilpädagogischen Kunsttherapie, es entfaltet ihre zentralen Konzepte, zeigt eine breite Palette von Anwendungsfeldern mit anschaulichen Beispielen sowie eine exemplarische Auswahl von Methoden der zielgerichteten Förderung. Damit bietet es eine kompakte Einführung für die Interessierten aus den Bereichen der schulischen Förderung sowie der Rehabilitation und darüber hinaus. Der theoretische Bezugsrahmen ist im Kern psychoanalytischer Natur, es wird aber auch auf weitere aktuelle Konzepte (z.B. Selbstwirksamkeit, Resonanz, Embodiment) Bezug genommen, um die Fundierung und die Bedeutung der Heilpädagogischen Kunsttherapie darzustellen.
Die theoretischen Grundlagen werden vor allem im Kapitel 4 behandelt. Es ist für mich der schwächste Teil des Buches. An mehreren Stellen wirken die theoretischen Konzepte auf eine sehr allgemeine Weise eklektisch montiert. So verbinden die Autorinnen beim ‚Vorsprachlichen Dialog‘ in 4.3 den Vorschein-Charakter der Kunst von Ernst Bloch mit dem Begriff des Zufalls aus der Ästhetik von Wolfgang Welsch. Sie streifen dann noch Harmut Rosas Resonanz-Begriff und gelangen schließlich zur psychoanalytischen ‚Integration von Verschüttetem‘. Die Bezüge zwischen diesen jeweils spezifischen Theoriebegriffen bleiben weitgehend offen, ihre Verträglichkeit wird einfach behauptet. Ich glaube aber nicht, dass Welsch mit seinem Begriff auch Freuds scheinbaren Zufall meint, bei dem das Unbewusste Regie führt. Ähnlich bunt verfahren wird auch im Abschnitt 4.11 ‚Lernen am Modell‘. Unter diesem Titel der sozial-kognitiven Lerntheorie, auf die gar nicht weiter eingegangen wird, behandeln Hampe und Wigger zuerst die Theorie der Spiegelneuronen, gehen dann auf die Salutogenese ein, um schließlich wieder bei der psychoanalytischen Vorstellung einer Reinszenierung unbewusster Inhalte anzukommen. Wäre es hier nicht überzeugender, auf den Begriff der Mimesis zurückzugreifen, zumal eine der Autorinnen an einem bekannten anthropologischen Buch, das der Mimesis einen eigenen Abschnitt widmet, mitgearbeitet hat? Merkwürdig eingeschoben ist schließlich der Abschnitt 4.10, das konzedieren die Autorinnen auch selbst. Im Titel klingt Martin Buber an, dieser spielt aber weiter keine Rolle. Der Abschnitt umfasst gerade eine halbe Seite, inhaltlich geht er nicht über das in 4.2 Entwickelte hinaus. So entsteht der Eindruck, dass vor allem das Dutzend bei den Unterabschnitten voll werden sollte. Die infantile Bebilderung mit Smileys wirkt an dieser Stelle wie eine Entschuldigung und kontrastiert erheblich mit der insgesamt eher anspruchsvollen und leicht prätentiösen Darstellungsweise.
Am interessantesten war für mich das Kapitel 7. Die Breite der Anwendungsbereiche, die hier vorgestellt wird, ist wirklich beeindruckend. Die Fall-Vignetten sind sehr schön und auch häufig mit anrührenden Abbildungen von Arbeiten der Klienten ergänzt. In 7.1 wird mit der ‚Verankerung in der psychosozialen Versorgung‘ auch ein berufspolitisches Programm formuliert. Hier gehen Hampe und Wigger knapp auf die Rechtsgrundlagen für eine Kostenübernahme im ambulanten Bereich ein. Ich hätte mir mehr zum Thema der Professionsentwicklung gewünscht, vielleicht auch einen eigenen Abschnitt.
In praktischer Hinsicht ist neben der Sammlung von Übungsaufgaben zur Förderung von Sinnesmodalitäten in Kapitel 6 vor allem das Kapitel 8 interessant. Hier wäre es noch schön gewesen, wenn den spezifischeren Methoden wie dem Sandspiel etwas mehr Raum eingeräumt worden wäre als den Methoden (Wohlfühlort, Imaginärer Brief), die aus der Traumatherapie und anderswoher importiert sind.
Fazit
Ein Buch, das einen Einblick in die Heilpädagogische Kunsttherapie mit einer erstaunlichen Breite in den Anwendungsfeldern gibt, das aber in seiner Verwendung von theoretischen Konzepten einiges zu wünschen übriglässt.
Rezension von
Prof. Dr. Carl Heese
Professur für Rehabilitation an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Zitiervorschlag
Carl Heese. Rezension vom 11.01.2022 zu:
Ruth Hampe, Monika Wigger: Heilpädagogische Kunsttherapie. Grundlagen, Methoden, Anwendungsfelder. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2020.
ISBN 978-3-17-032077-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28976.php, Datum des Zugriffs 16.01.2025.
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