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Liane Meyer: Strafvollzug und demografischer Wandel

Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 29.03.2022

Cover Liane Meyer: Strafvollzug und demografischer Wandel ISBN 978-3-7799-6762-0

Liane Meyer: Strafvollzug und demografischer Wandel. Herausforderungen für die Gesundheitssicherung älterer Menschen in Haftanstalten. Mit Online-Materialien. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 318 Seiten. ISBN 978-3-7799-6762-0. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR.

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Thema

Die demografische Entwicklung mit Zunahme der älteren Bevölkerung macht sich auch im Strafvollzug bemerkbar, was Fragen nach der Vollzugsgestaltung und vor allem nach der gesundheitlichen Situation dieser Zielgruppe aufwirft. Die vorliegende empirische Studie nähert sich diesem Thema auf der Basis eines Mixed-Methods-Ansatzes, wobei neben anstaltsübergreifenden Akteuren und Anstaltsleitungen auch die Betroffenen selbst, ältere Inhaftierte, zu Wort kommen.

Autorin und Entstehungshintergrund

Liane Meyer, Dr. PH, Krankenschwester, Dipl. Pflegepädagogin (FH), Dipl. Gerontologin. Tätigkeit als Lehrbeauftrage an verschiedenen Hochschulen sowie als Referentin in der beruflichen Aus- und Weiterbildung., ab 1. März 2022 Professur „Angewandte Gesundheitswissenschaften“ an der DHBW Karlsruhe. Die vorliegende Publikation wurde 2021 als Dissertation an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld angenommen.

Aufbau und Inhalt

Der Aufbau folgt der klassischen Gliederung einer Dissertation und ist neben einer Einleitung in die Kapitel „Theoretische Grundlagen“ (Altern und Gesundheit, Strafvollzug und Gesundheit, alte Menschen im Strafvollzug), Studiendesign und Untersuchungsmethoden, empirische Ergebnisse, Diskussion und Implikationen, sowie Fazit und Ausblick unterteilt. Im Anhang finden sich das Literaturverzeichnis und Hinweise zu den verfügbaren Onlinematerialien.

Einleitung

Die demografischen Strukturen unserer Gesellschaft sind auch im Strafvollzugssystem zu beobachten, die Zahl lebensälterer Strafgefangener hat deutlich zugenommen. Obwohl die Zahl der Häftlinge insgesamt seit Jahren abnimmt, vor allem bei den Jüngeren, steigt sie bei den über 50-jährigen seit über 25 Jahren kontinuierlich an. Hintergrund dazu ist neben der Zunahme älterer Bevölkerungsteile auch, bzw. vor allem eine entsprechende Sanktionspraxis, insbesondere die häufigere Verhängung von lebenslangen Freiheitsstrafen und Sicherungsverwahrung. Der Strafvollzug ist in diesem Zusammenhang mit besonderen Herausforderungen konfrontiert, der gesundheitlichen Situation älterer Strafgefangener, deren Versorgung und der Gestaltung der Vollzugseinrichtungen. Die körperliche Gesundheitssituation ist (auch bei der Gruppe Inhaftierter) im Zusammenhang mit psychischen Faktoren zu sehen, dem Leben in Unfreiheit, unklaren Perspektiven, sozialer Isolation, Lebensbilanz und Auseinandersetzung mit der Endlichkeit unseres Daseins. Weitere Gesundheitsfaktoren ergeben sich aus der Eintönigkeit des Alltags, dem Bewegungsmangel oder aus den ökonomischen Kontextfaktoren.

Theoretische Grundlagen

Der Zusammenhang von Alter(n) und Gesundheit wird im Folgenden ausführlich dargestellt, Liane Meyer referiert hier die gängigen Studien, welche auf die soziale, körperliche und psychologische Dimension sowie einzelne Krankheitsbilder des Alterungsprozesses eingehen und die Bedeutung von gesundheitsbezogener Prävention im Alter hervorheben. Darauf aufbauend folgt die Darstellung der Grundlagen zum Zusammenhang von Strafvollzug und Gesundheit. Ausgehend vom Status der Strafvollzugsanstalten als Ort der Züchtigung erfüllen diese alle Merkmale einer totalen Institution, in denen die Gesundheit nicht im Vordergrund steht, gleichwohl wahrgenommen wird. Alte Menschen im Strafvollzug (so die Überschrift des nächsten Abschnitts) sind von einer generell höheren Verletzlichkeit und Bedürftigkeit geprägt, wobei das Phänomen der zahlenmäßigen Zunahme dieser Teilgruppe besondere Aufmerksamkeit benötigt; im Vordergrund stehen degenerative Erkrankungen, psychische Erkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Inkontinenzprobleme. Der Strafvollzug reagiert – international- darauf (teilweise) mit speziellen Vollzugsabteilungen für Lebensältere und besonderen Förderprogrammen.

Studiendesign und Untersuchungsmethoden

Die vorgelegte Studie ist als Mixed-Method-Studie (qualitative und quantitative Datenerhebung) mit multiperspektivischem Forschungsfokus (befragt wurden Inhaftierte, Anstaltsleitungen und anstaltsübergreifende Akteure) konzeptioniert und erfolgte im Rahmen einer Vollerhebung für das Land Rheinland-Pfalz. Damit stellt Liane Meyers Arbeit die erste derartige Studie in Deutschland dar. Das Forschungsinteresse orientiert sich an der Frage, wie sich der Gesundheitszustand der inhaftierten 50-jährigen und älteren Männer darstellt, „welche funktionalen Einschränkungen bestehen und mit welchen Erfahrungen und Herausforderungen sich ältere Inhaftierte in ihrem Haftalltag im Kontext ihrer gesundheitlichen Situation konfrontiert sehen“ (88). Beteiligt waren alle rheinland-pfälzischen Justizvollzugsanstalten, die angeschriebene Gesamtpopulation N=389 beteiligte sich mit einer Rücklaufquote von 58 Prozent. Die Erhebungsinstrumente und deren Konstruktion für den quantitativen und qualitativen Teil der Datenerhebung werden ausführlich vorgestellt, ebenso der Untersuchungsablauf und die Art der Datenaufbereitung und -analyse. Die eingesetzten Fragebögen, Interviewleitfäden und Erhebungsinstrumente stehen im Internet als Downloadmöglichkeit vollständig zur Verfügung.

Empirische Ergebnisse

Die Darstellung der empirischen Ergebnisse erfolgt umfangreich auf über 110 Seiten mittels Zitatpassagen aus den durchgeführten Interviews, gegliedert nach den Beiträgen der Untersuchungssubgruppen (Inhaftierte, Leitung etc.) und anhand von Übersichtstabellen der erhobenen statistischen Daten sowie gegliedert nach den Kategorien 1.„Beschreibung der Untersuchungsgruppe (ältere Inhaftierte)“, 2. „Gesundheitszustand“, 3. „funktionale Einschränkungen“ und 4. „Gesundheitsverhalten“. Die qualitativen Daten wurden mittels ATLAS.ti (einem Auswertungsprogramm zur qualitativen Datenanalyse) erfasst.

Zu 1.: Sowohl die befragten lebensälteren Insassen als auch die Vertreter:innen der Anstaltsleitung der anstaltsübergreifenden Akteure beschreiben die Personengruppe als lebens-, arbeits- und hafterfahren(er) als jüngere Inhaftierte, wodurch Abgrenzungsbedürfnisse entstehen, besondere soziale Funktionen generiert werden (z.B. Ratgeberfunktion) und das Abteilungsklima in den Vollzugsanstalten insgesamt profitiert (ausgleichende Wirkung der Älteren auf die Jüngeren). Der Hinweis auf einen schlechteren Gesundheitszustand der älteren Inhaftierten fällt eher moderat aus, in diesem Zusammenhang fällt auf, dass Ältere weniger über Probleme, Einschränkungen und Bedürfnisse reden und weniger Beschwerden einreichen als Jüngere.

Zu 2.: Die gesundheitliche Situation älterer Inhaftierter ist durch multimorbide Zustände gekennzeichnet, sie leiden häufig unter Mehrfacherkrankungen, bei 27 % der untersuchten Altersgruppe liegen fünf oder mehr Erkrankungen vor, ein im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung dreimal so hoher Wert. Auch die Häufigkeit alterstypischer Erkrankungen (Stoffwechselstörungen, Arthrose, Bluthochdruck, Durchblutungsstörungen, Magengeschwüre, chronische Lungenerkrankungen) liegt um eine bis zu viermal häufigere Rate höher als im Vergleich mit der extramuralen Vergleichsgruppe (z.B. seelische Erkrankungen mit einer Rate von 20 %). Entsprechend schätzen die inhaftierten Lebensälteren ihren Gesundheitszustand (subjektiv) häufiger als schlecht oder weniger gut ein, wiederum bezogen auf die in Freiheit lebende Alterskohorte. Die Einschätzung der Anstaltsleitungen folgt diesem Befund, hier wird der schlechte Gesundheitszustand ebenfalls wahrgenommen und im Kontext einer allgemein schlechteren Lebensführung gesehen.

Bei den psychischen Erkrankungen dominieren leichte depressive Störungen (24 % der Stichprobe) und klinisch auffällige depressive Symptome, womit die Gruppe der Inhaftierten einen fünfmal so hohen Wert im Vergleich mit der extramuralen Bevölkerung (7 %) aufweist. Als problematisch erweist sich dabei, dass innerhalb des Strafvollzugs kaum geeignete Gesprächspartner für ein vertrauensvolles Gespräch zur Verfügung stehen, was wiederum als zusätzlich belastend wahrgenommen wird. Auf Leitungsebene werden vorrangig Demenzerkrankungen als problematische Diagnosegruppe thematisiert, die Versorgung dieser Patienten im Rahmen des Vollzugs wird als Heraus- bzw. Überforderung bezeichnet. Zusätzliche psychische Probleme sehen die Anstaltsleitungen in der sozialen Isolation der Inhaftierten, dem unterbringungsbezogenen Stresserleben („Knaststress“) und dem damit verbundenen Erleben von Autonomieverlust. Die anstaltsübergreifenden Akteure sehen ebenfalls die Gruppe der an Demenz erkrankten Häftlinge als besonders problematisch an.

Als besonders problematisch erweist sich in der Struktur (und Kultur) der Vollzugsanstalten das Phänomen von Urin- und Stuhlinkontinenz – ein Thema, das auch in der extramuralen Gesellschaft stark schambesetzt ist und oft verschwiegen oder verdrängt wird. Der Umgang mit dieser Problematik fällt den Gefangenen (Betroffene und Nicht-Betroffene), den Leitungskräften und den anstaltsübergreifenden Akteuren schwer, was auch anhand deren Einschätzungen („kein Problem im Vergleich zur extramuralen Bevölkerung“) deutlich wird.

Zu 3.: Deutlich ist auch der Befund in Bezug auf funktionale Einschränkungen: Etwa 80 % der älteren Inhaftierten gaben bei anstrengenden Tätigkeiten entsprechende Beeinträchtigungen an, mehr als die Hälfte erleben Einschränkungen beim Treppensteigen, Beugen, Knien oder Bücken. Die entsprechenden Auffälligkeiten liegen bei Inhaftierten um drei- bis viermal höher als bei der in Freiheit lebenden Altersgruppe, was sich auch auf Tätigkeiten und Einschränkungen hinsichtlich der Selbstversorgung (Tragen von Taschen, sich baden oder umziehen etc.) bezieht. Dazu kommen sensorische Beeinträchtigungen, etwa Probleme beim Hören (53 % der Befragten) oder Sehen (35 %) – im Vergleich zur in Freiheit lebenden Alterskohorte ebenfalls deutlich höhere Werte.

Auf der Leitungsebene kommen diese funktionalen Einschränkungen erst an, wenn sie zu Problemen im Vollzugsalltag führen, also deutlich spät. Raum und Zeit für Präventionsmaßnahmen oder weiterführende Maßnahmen (etwa barrierefreie Haftabteilungen) besteht meist nicht.

Zu 4. Das Gesundheitsverhalten der älteren Inhaftierten ist ebenfalls durch Einschränkungen oder starke Zurückhaltung geprägt. Die meisten Älteren nehmen nicht am Sportangebot teil, wobei neben den gesundheitlichen Einschränkungen auch soziale Aspekte relevante Auslöser sind (fehlende Akzeptanz seitens der jüngeren Inhaftierten, auf Jüngere zugeschnittenes Sportangebot). Aus ähnlichen Gründen erfolgt auch die Nutzung des Hofgangs (hier unter dem Aspekt der Bewegungsförderung) nur zurückhaltend, in der Hälfte der Fälle nehmen Ältere weniger als einmal pro Woche am Hofgang teil. Seitens der Leitungsebene wird auf das Sportangebot für jüngere Inhaftierte verwiesen, Planungen für Seniorensport oder Bewegungsförderung sind nicht ersichtlich, lediglich für den Bereich der Sicherungsverwahrung wurden Basketballfelder durch Boulebahnen ersetzt. Die Situation des Hofgangs wird ebenfalls als unzureichend eingeschätzt (z.B. fehlende Toiletten in den Hofanlagen, der durch Jüngere geprägte -mitunter abschreckende-Umgangston), wobei hier auch personelle Engpässe eine Rolle spielen.

Diskussion und Implikationen

Das Kapitel folgt in der Struktur der Gliederung des Kapitels zur Darstellung der empirischen Ergebnisse. Neben den aus den erhobenen Befunden abgeleiteten Einschätzungen zum Bild vom Alter im Strafvollzug, zum Gesundheitszustand, zu funktionalen Einschränkungen (und den entsprechenden Pflegebedarfen) und zum Gesundheitsverhalten älterer Inhaftierter erfolgen jeweils Schlussfolgerungen als auch weiterführend Überlegungen zu Limitationen der durchgeführten Studie und zum weiterführenden Forschungsbedarf.

Herausstechend sind Liane Meyers Schlussfolgerungen in Bezug auf den Gesundheitszustand älterer Inhaftierter, deren Funktionseinschränkungen und den Gegebenheiten des Gesundheitsverhaltens in der Anstalt. Gesundheitsprobleme (auch „alterstypische“) treten bei Inhaftierten früher auf und haben ein größeres qualitatives und quantitatives Ausmaß als in der Normalbevölkerung. Die vorgelegte Studie nimmt hier den Charakter eines Alterssurveys an, da für das untersuchte Bundesland Rheinland-Pfalz keine systematische und flächendeckende Erfassung der Krankheitsprävalenzen älterer Inhaftierter vorlag. Notwendig ist ein interdisziplinärer medizinsicher und psychosozialer Ansatz, der das Wechselspiel von Lebenslage, Lebensalter, sozialer Isolation und psychischer Situation (v.a. Depression und Demenz) aufgreift und durchbricht. Ein Ansatz, der in der Struktur von Justizvollzugsanstalten nur schwer umsetzbar erscheint.

Als limitiert schätzt die Autorin auch den eigenen Forschungsprozess ein. Im Rahmen der Forschung in einer totalen Institution ist nicht sicher ausschließbar, dass die Insassen nicht offen antworten und berichten können/wollen, sich eher in sozial erwünschter Erwartungshaltung äußern, was die Ergebnisse entsprechend verfälschen kann (237).

Hinsichtlich der psychischen Gesundheit beschreibt Liane Meyer das Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren (Straffälligkeit, prekäre Lebenslage, Schuld- und Schamgefühle, Verurteilung, Sanktionserfahrung, Aufnahmesituation in der JVA etc.), die sich gegenseitig verstärken können und sich zu der im höheren Lebensalter grundsätzlich höheren Wahrscheinlichkeit von z.B. depressiven Krankheitsbildern beitragen. Die Einweisung in eine Institution mit Verlust persönlicher Freiheit, sozialen Kontakten etc. stellt eine enorme Belastung dar, welche (als Life-Event) Auslöser für negative psychische Reaktionen, eben psychische Störungen, sein kann. Die Bearbeitung solcher Problemlagen im institutionellen Kontext einer JVA gestaltet sich indes schwierig. Strafanstalten sind zunächst keine therapeutischen Einrichtungen, die Möglichkeiten adäquate Gesprächsangebote zu gestalten sind erschwert, die Zurückhaltung der -nicht nur- älteren Gefangenen grundsätzlich, aber auch speziell im Kontext der Haftsituation oft stark ausgeprägt. Potenzielle Ansprechpartner sehen die Inhaftierten am ehesten bei Fachkräften des Sozialdienstes oder des psychologischen Dienstes (241). Als positiven Ansatz erleben Gefangene Gesprächsmöglichkeiten, die nicht durch Bedienstete der JVA (z.B. Seelsorge) angeboten werden. Die Problematik wird durch Anstaltsleitungen und anstaltsübergreifende Akteure nicht angemessen wahrgenommen (243), entsprechend fehlen das Verständnis und die Bereitschaft für Präventions- und Behandlungsmaßnahmen. Ein grundsätzliches Problem erweist sich in der Tatsache, dass „gerade die Folgen einer begrenzten Lebenszeitperspektive … zu den großen psychischen Belastungen älterer Inhaftierter“ (245) führen. Vor dieser Gemengelage an möglichen Auslösern für -vorwiegend- depressive Störungsbilder stellt sich die Frage nach angemessenen Behandlungsansätzen, z.B. medikamentösen Therapieansätzen oder psychotherapeutischen Angeboten. Meyer sieht weitere Chancen für Prävention und Behandlung in einer großzügigeren Besuchsregelung zur Förderung sozialer Kontakte, die Erweiterung von Telefonzeiten und -möglichkeiten, die Gestaltung heimatnaher Unterbringungssituationen und präventive Maßnahmen wie z.B. die Einführung von Demenzscreenings.

Inkontinenz stellt als Gesundheitsproblem der älteren männlichen Bevölkerung ein erhebliches Problem dar, die Fallzahlen im Strafvollzug sind entsprechend hoch, die Bereitschaft, im Kontext des Strafvollzugs solche Themen anzusprechen, ist hier oftmals zusätzlich erschwert. Ebenfalls erweist sich die medizinische Praxis in den Vollzugsanstalten als hinderlich für ein „Outing“ von z.B. Harninkontinenz, da z.B. Facharztuntersuchungen im Rahmen von Ausführungen (mit Handfesselung, Begleitung durch Vollzugsbeamte, Anwesenheit der Bewachung bei der Untersuchung und Behandlung) als zusätzlich problematisch, z.B. erniedrigend erlebt werden und der Zugang zum Gesundheitssystem damit zusätzlich erschwert wird. Verbesserungsmöglichkeiten sieht Meyer durch Konsildienste in den Anstalten, verbesserten Hygienemöglichkeiten, organisatorische Veränderungen (z.B. Zugang zu Toiletten während des Hofgangs) und allgemein die sensibilisierende Schulung des Anstaltspersonals.

Die funktionalen Einschränkungen der älteren Inhaftierten stoßen auf die baulichen und organisatorischen Gegebenheiten der Vollzugsanstalten. Probleme im Geh- und Bewegungsapparat, akustische und optische Beeinträchtigungen erschweren das Leben in der Anstalt. Als Lösung werden die altersgerechte Ausstattung (z.B. Barrierefreiheit) von Anstaltsbereichen und Hafträumen vorgeschlagen, auch eine verbesserte Versorgung im fachärztlichen Dienst (z.B. Augenärzt:innen) und das Bereitstellen von Hilfsmitteln. Die Erfassung von Pflegebedarfen und -bedürftigkeit erfolgt im untersuchten Gebiet nicht standardisiert, gefordert wird hier ein Pflegescreening (z.B. im Rahmen von Eingangsuntersuchungen), um frühzeitig Unterstützung und Pflege organisieren zu können.

Neben den oben bereits erwähnten Limitationen hinsichtlich der erhobenen Daten merkt Liane Meyer an, dass möglicherweise Bildungsaspekte eine Rolle im Umgang mit/in der Bewältigung von altersbedingten Erkrankungen und Funktionseinschränkungen eine Rolle spielen können, die jedoch in der bisherigen Forschung (auch nicht in der hier vorgelegten Studie) nicht berücksichtigt wurden.

Unter dem Blickwinkel von Prävention und Gesundheitsförderung zeigen die erhobenen Befunde die teilweise umfangreiche Nicht-Erreichbarkeit von Angeboten (z.B. Sport, Hofgang etc.) für die Gruppe älterer Inhaftierter. „Ein Viertel der 222 befragten älteren Inhaftierten in Rheinland-Pfalz … können als ‚Nichtbeweger‘ mit einem körperlich inaktiven Lebensstil gelten, da sie weder am Sportangebot noch an der täglichen Hofstunde … teilnahmen“ (281). Die generellen Folgen eines solchen Bewegungsmangels für die Ausbildung von spezifischen Gesundheitsstörungen, die Allgemeinbefindlichkeit, die psychische Gesundheit sind gut untersucht, darauf aufbauend Bewegungsförderungsprogramme – in der extramuralen Gesellschaft- implementiert worden. Entsprechend fordert Liane Meyer solche Ansätze auch in den Vollzugsanstalten vorzuhalten. Die Forschungslage in diesem Bereich ist ebenfalls unzureichend, z.B. liegen keine Erkenntnisse zum Bewegungsverhalten älterer Inhaftierter in Justizvollzugsanstalten vor.

Fazit und Ausblick

Die Gefahr für gesundheitliche Probleme, körperliche und psychische Erkrankungen und Funktionseinschränkungen ist im Vergleich der Gruppe älterer Inhaftierter mit der älteren extramuralen Bevölkerung um den Faktor 3 bis 4 erhöht. In der Situation des Haftalltags können sich die Probleme entsprechend weiter verschärfen. Dem Staat fallen eine besondere Fürsorgepflicht und Verantwortung für die davon betroffenen älteren Inhaftierten zu, da diese Gruppe durch den „Freiheitsentzug in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zum Staat“ (290) steht. Die übergeordneten Regelungen (z.B. Landesjustizvollzugsgesetz Rheinland-Pfalz) sehen auch die besondere Berücksichtigung der unterschiedlichen Personengruppen in Haft vor, trotzdem – so das generelle Fazit- „ist der Strafvollzug auf diese altersspezifischen gesundheitlichen (Versorgungs-)Bedarfe (noch) nicht ausreichend vorbereitet, sondern vorwiegend auf die Behandlung akuter gesundheitlicher Störungen ausgerichtet‘… und zu wenig an altersspezifischen Leistungsangeboten orientiert“ (290). Auch vor dem Hintergrund der steigenden Anzahl älterer inhaftierter Straftäter zeigt sich hier ein enormer Entwicklungsbedarf, der sich an hier dargestellten empirischen Befunden und den daraus abgeleiteten Lösungsvorschlägen orientieren sollte. Die Verantwortlichen im System des Strafvollzugssystems sollten sich aktiv mit der gesundheitlichen Situation Lebensälterer in den Vollzugsanstalten beschäftigen und für eine angemessene Qualifikation des Personals sorgen. Die – neu- eingeführten Maßnahmen zur Gesundheitsförderung, Prävention und Behandlung sollten systematisch evaluiert werden, was eine ebenfalls systematische Planung voraussetzt. Die so gewonnenen Daten sollten (neben ihrer Bedeutung für die konkrete Ausgestaltung der Institutionen) Eingang in eine regelmäßige Gesundheitsberichtserstattung mit Anschluss an die entsprechenden Maßnahmen für die Allgemeinbevölkerung finden.

Zielgruppe des Buches

Alle Berufsgruppen, die in den Strafvollzugsanstalten mit älteren Inhaftierten konfrontiert sind, Verantwortliche in Leitung, Verwaltung und Politik, denen eine besondere Fürsorgepflicht für die Gruppe lebensälterer Menschen im System des Strafvollzugs zukommt.

Diskussion

Im Jahr 2022 legt Liane Meyer die (hinsichtlich Umfang und Tiefe) tatsächlich erste größere Studie zur Situation älterer Inhaftierter in Strafvollzugsanstalten in Deutschland (bezogen auf das Land Rheinland-Pfalz) vor. In der Geschichte der Justizvollzugsforschung findet sich bislang kaum ein Befund zur Situation dieser besonderen Gruppe, die analog zur Entwicklung in der Gesamtgesellschaft (Stichwort: Alternde Gesellschaft) zahlenmäßig stetig zunimmt. Schon aus diesem Grund erweist sich die vorgelegte Arbeit als Pionierwerk, an dem „der“ Strafvollzug, also alle in Praxis, Verwaltung und Politik Zuständigen nicht mehr vorbeikommt. Die Lebenssituation in Institutionen des Strafvollzugs ist prekär, gekennzeichnet durch den Verlust sozialer Beziehungen, der Autonomie, der Gestaltung einer gesunden Lebensführung. Die Auswirkungen zeigen sich in der Zunahme von Gesundheitsproblemen, Erkrankungen und Funktionseinschränkungen. Provokant formuliert: Der Strafvollzug verantwortet einen (hier eindrücklich in Zahlen belegten) Missstand, der sich in den körperlichen und psychischen Problemen der lebensälteren Gefangenen ausdrückt.

Liane Meyer hat sich der Thematik mit dem genauen pflegewissenchaftlichen Blick für die gewählte Untersuchungsgruppe genähert: dem Erleben von Gesundheit, Krankheit und Einschränkungen aus der Perspektive der davon betroffenen Menschen. Deren Schilderungen nehmen in dieser Studie entsprechend großen Raum ein. In einer mehrperspektivischen Herangehensweise fragt sie weiter danach, was bei den Verantwortlichen im Bereich der Leitung und bei anstaltsübergreifenden Akteuren ankommt bzw. wie sich die Situation aus deren Sicht darstellt. Hier ergeben sich deutliche Diskrepanzen, teilweise aber auch Wissen und Bereitschaft für entsprechende Angebote in der medizinischen Versorgung oder der Gestaltung von Präventionsansätzen. Gerade aus der hier empirisch belegten Gesamtsituation ergibt sich die Relevanz der Studie, die exakt beschreibt, misst, die verschiedenen Ebenen (Betroffene, Verantwortliche) in Bezug setzt und -unaufgeregt- nach Lösungsvorschlägen sucht. Diese findet Liane Meyer vorwiegend in der Praxis der Gesundheitsförderung für die „extramurale Gesellschaft“, deren Erfolge in Bezug auf frühzeitige Diagnostik (z.B. der Demenz), umfassende Gesundheitsförderung (z.B. durch lebensweltnahe Angebote) und Prävention (durch breite oder spezifische Ansätze) für die Gruppe der älteren Inhaftierten eingefordert werden. Ohne es explizit zu benennen, erweist sich die Studie hier als Forderung nach Gleichberechtigung und Einhaltung von Menschenrechten, hier als Teilhabe marginalisierter Bevölkerungsgruppen an den Standards der Gesundheitsversorgung.

Ausgespart bleibt die Frage nach dem Zusammenhang von Straffälligkeit, Lebensführung und Gesundheitsstatus, Fragen nach den Belastungen durch begangene Delikte, der psychische Druck vor dem Hintergrund der Nichterfüllung eigener Ich-Ideale, der soziale Druck (Stichwort „Knasthierarchie“) in der JVA. Auch der Zusammenhang zu weiteren wichtigen Parametern wie Bildungsstand, Erstinhaftierung vs. Wiederholungstätern, Dauer der Strafhaft, Art und Qualität von Sozialkontakten und Familiensituation werden kaum berücksichtigt. Liane Meyer weist selbst auf die Notwendigkeit hin, solche Aspekte mit einzubeziehen und verknüpft sie teilweise mit dem Hinweis auf weiteren Forschungsbedarf. Die Forschungsperspektive liegt im Bereich der Pflegewissenschaften, und das ist die besondere Bedeutung dieser Publikation: der erste Aufschlag in der Erhebung der Gesundheitslage älterer Strafgefangener ist stark, zeigt Grundlagen auf, verweist auf weitere wichtige Forschungsaspekte und formuliert damit implizit die Forderung nach interdisziplinärer Forschung in diesem Bereich. Auch hier gilt: Künftige Forschungsprojekte werden sich auf die Befunde und Vorschläge Liane Meyers beziehen können und müssen.

Grundsätzlich werfen die Forschungsergebnisse die Frage nach der Angemessenheit strafrechtlicher Sanktionen (hier bei älteren) Straftätern auf: Kann der eigentliche Strafzweck (Resozialisierung) durch Haftstrafen überhaupt erreicht werden? Die Beiträge der kritischen Kriminalpolitik diskutieren die Risiken, Negativeffekte, Aspekte sozialer Ungerechtigkeit und ausbleibenden Erfolge des gegenwärtigen Strafsystems aus (z.B. Fassin, 2018 - https://www.socialnet.de/rezensionen/25376.php) seit Langem. Die hier erhobenen Befunde zur Situation älterer Strafgefangener hätten die Grundlage für eine Diskussion nach Alternativen zum Strafvollzug geboten, eine Auseinandersetzung die Liane Meyer kaum aufgegriffen hat. Allein die begrenzte Lebenszeit älterer Inhaftierter wirft grundsätzliche Fragestellungen nach der Angemessenheit freiheitsentziehender Sanktionen auf, eine Gesamtkonstellation, die durch die beschriebene schwierige Gesundheitssituation dieser Gruppe noch an Brisanz gewinnt.

Unabhängig von dieser Einschränkung bietet Meyers Forschungsarbeit auch für eine solche Auseinandersetzung die notwendigen empirisch belegten Befunde. Damit erweist sich die Publikation als Meilenstein für die Strafvollzugsentwicklung, die besonderen Problemlagen und Bedarfe lebensälterer Strafgefangener und ist ein Fixpunkt in der Frage nach angemessenen Vollzugsformen, vor allem aber auch in der Diskussion um Alternativen zum Strafvollzug.

Fazit

Liane Meyers Studie zur Gesundheit beschreibt auf Basis einer Vollerhebung für das Land Rheinland-Pfalz die gesundheitliche Situation lebensälterer Strafgefangener und vergleicht diese mit der Situation von Älteren außerhalb der Haftanstalten. Belegt wird dadurch, dass das Krankheitsausmaß bei Älteren in Justizvollzugsanstalten deutlich höher ausgeprägt ist, was besondere Maßnahmen in der Vollzugsgestaltung erfordert. Vor dem Hintergrund einer weiter alternden Gesellschaft und der zu erwartenden Zunahme älterer Menschen im Strafvollzug bietet die Studie die notwendigen Daten für die Vollzugsplanung in Deutschland und für eine kritische Auseinandersetzung mit dem System des Strafvollzugs als Sanktionsform – nicht nur für die hier beschriebene Gruppe lebensälterer Strafgefangener. Die Studie legt umfassende Daten zur Situation älterer Menschen in Haftanstalten vor und wirft weitergehende Fragestellungen und Forschungsbedarfe auf – ein Meilenstein der Justizvollzugsforschung.

Literatur

Fassin, D. (2018). Der Wille zum Strafen. Suhrkamp

Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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ISSN 2190-9245