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Heiko Tessmann: Der Lange Arm der Gewalt

Rezensiert von Prof. Dr. phil. habil. Joachim Weber, 30.12.2021

Cover Heiko Tessmann: Der Lange Arm der Gewalt ISBN 978-3-7543-2149-2

Heiko Tessmann: Der Lange Arm der Gewalt. Das Beispiel einer NS-Täterfamilie. Books on Demand GmbH (Norderstedt) 2021. 2. Auflage. 312 Seiten. ISBN 978-3-7543-2149-2. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,90 sFr.

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Thema

Heiko Tessmann schreibt über Willi Bernhard Tessmann, den bereits im Klappentext als „mein Opa“ bezeichnet. Dieser Opa, den er nie kennengelernt hat, war NS-Täter, nämlich erst Stellvertreter, ab 1943 dann Kommandant des Konzentrationslagers Fuhlsbüttel, im Volksmund KoLaFu, ab 1936 offiziell Polizeigefängnis genannt. Er wurde von der britischen Besatzung im Jahre 1947 zum Tode verurteilt; das Urteil wurde am 29.1.1948 schließlich vollstreckt. Es geht also zunächst um eine biografische Auseinandersetzung, und spätestens seit den Arbeiten von Sabine Bode wissen wir, dass die Schatten der NS-Vergangenheit bewusst oder unbewusst die nachfolgenden Generationen prägen. Der Arm dieser faschistischen Gewalt ist tatsächlich lang und reicht bis in die Gegenwart.

Der Autor geht bemerkenswert offen mit diesem Erbe um, stellt sich ihm aber nicht allein als Privatperson, sondern bereitet die Geschichte des Täters und seiner Familie fachlich auf. Diese Aufbereitung anhand historischer Quellen aus dem familiären Nachlass leistet dem eigenen Anspruch nach „eine fast physische, nachvollziehbare und handlungslogische Substanz, die greifbar und begreifbar ist“ (S. 7). Indem er selbst erlaubt hat, dass seine familiäre Geschichte ihm nahekommt, bereitet er den Boden dafür, dass diese Geschichte beispielhaft auch dem Leser auf den Pelz rückt. Geschichte soll auf diese Weise „begreifbar und fühlbar“ werden und sich in einen „Impfstoff“ (ebd.) verwandeln. Persönliche Erfahrung, Hintergrundinformation zu zentralen Zusammenhängen des Dritten Reiches und historisches Quellenmaterial werden so zu einer Einheit verbunden.

Aufbau

Zunächst wird in diesem Buch eine bestimmte Lesererwartung enttäuscht. Es geht nicht darum, den grauenhaften Alltag im KZ zu beschreiben und damit auch nicht um die Untaten des Kommandanten Tessmann, auch wenn diese nicht verschwiegen werden. Auch die beiden Prozesse im Jahr 1947 werden zwar geschildert, sie stehen aber nicht im Fokus der Beschreibung und Analyse, sondern werden eingebettet in die Familiengeschichte, wie sie sich insbesondere an den Briefquellen, die erhalten sind, zeigen. Der Autor beginnt anhand von Quellen mit der Schilderung dessen, was diese Aussagen über die Entwicklung von Willi Tessmann und seiner späteren Frau Lieselotte bis zum Eintritt in die NSDAP und die SS im Jahr 1932, immer eingebettet in den historischen Kontext, insbesondere natürlich die Weimarer Republik und die Weltwirtschaftskrise. Abschnitt für Abschnitt wird das historische Material sorgsam interpretiert und mit den historischen Ereignissen kontextualisiert. Auf diese Weise werden die zentralen Lebensstationen von Willi B. Tessmann der Interpretation zugänglich gemacht, und es entsteht ein Beitrag zu einer Geschichte des Nationalsozialismus von unten aus der Lebenswelt der Täter. Es gelingt damit ein Einblick in das Denken und Handeln von ihm und seiner Frau, aber auch ein Einblick in den familiären Alltag und die Sorge oder auch Nicht-Sorge um die Kinder. So wird das Anwachsen der Familie um die sechs Kinder nachvollziehbar, aber auch der frühe Tod der einzigen Tochter mit drei Jahren, offensichtlich weil sie zu spät ärztlich behandelt wurde (S. 53), sowie die Einweisung des neunjährigen Peter in ein Erziehungsheim (S. 167). Diese biografisch orientierte Analyse der Quellen endet mit der Beantragung der Witwenrente (S. 156) durch Lieselotte und eine knappe Darstellung der weiteren Entwicklung der Kinder (S. 164 ff.). Informationen über die juristischen Hintergründe des Prozesses (S. 169 ff.) und die Auseinandersetzung um die anonymen Grabstellen der Hingerichteten mit der rechtsextremen Szene (S. 198 ff.) schließen sich ebenso an wie ein ausführliches Personenregister, das sowohl die Angeklagten der drei Prozesse wie die Zeugen in den Prozessen aber auch die verschiedenen Opfergruppen und Repräsentanten der NS-Zeit aufnimmt, die in Bezug stehen entweder zum Sicherheitsdienst der SS, dem Tessmann zugehörte, oder aber zum KoLaFu. Das Buch schließt mit einem eigenwilligen FAQ, das die Aufarbeitung des Autors seiner familiären Geschichte thematisiert anhand von Fragen, die ihm im Anschluss an Veranstaltungen, in denen er seine Familiengeschichte thematisiert, offensichtlich häufig gestellt werden.

Inhalt

Unverkennbares Zentrum des Buches besteht in der Interpretation und Analyse des familiären Nachlasses, insbesondere des Briefwechsels von Willi Tessmann mit seiner Frau aus der Todeszelle. Hier taucht der Leser ein in eine eigentümliche Gedankenwelt, lässt die Reflexionen dieses Kommandanten und seiner Frau lebendig werden, der noch kurz vor dem Zusammenbruch des Regimes den Befehl gab, jeden Gefangenen, der auf dem Fußmarsch Richtung Kiel zurückblieb, gnadenlos zu erschießen (S. 59). Schon methodisch ist dieses Unterfangen ungewöhnlich. Die Interpretationen im Buch stehen in engem Kontext zur digitalen Quellensammlung. Auf der Homepage von Heiko Tessmann unter dem Link (https://heikotessmann.de/sachbuecher/dladg/dokumentenarchiv) sind alle Dokumente abgelegt und somit parallel zur Buchlektüre im Original einsehbar und gleichzeitig zur leichteren Lesbarkeit die Sütterlinschrift aufwendig transkribiert worden. Das Buch verweist an jeder Stelle auf das jeweilige Dokument, ergänzt die Ausführungen durch Fotos, die im Buch abgedruckt sind, sowie durch Verweise zum historischen Kontext über entsprechende QR-Codes, die allerdings allzu oft lediglich auf Wikipedia-Seiten verweisen. Eingestreut sind in den Text Anmerkungen zum Verständnis, die die Lesart des Autors offenlegen.

Dort begegnen Aussagen, die man auch in anderen Quellen findet, doch hier irritieren sie auf besondere Art vor dem Hintergrund der lebensweltlichen Nähe, die der Autor durch die Aufbereitung erzeugt. Wie so viele andere Täter kommt auch Willi Tessmann in der Zelle nicht irgendwie zur Besinnung, sondern passt seine Überzeugung den Gegebenheiten des Gefangenseins an: „Wir haben immer so gelebt, dass wir jedermann gerade in die Augen sehen konnten. Und werden das auch in Zukunft tun“, so Tessmann kurz nach seiner Inhaftierung. Verantwortungsübernahme kommt nur am Rande vor mit der gleichzeitigen Entschuldigung durch die Gutgläubigkeit – nicht die persönliche, sondern die des deutschen Volkes: „Leider, leider, aber wir haben wohl alle unsere Teilschuld und müssen büssen für den Verrat und Betrug unserer Führung am deutschen Volk, das gutgläubig sein Alles und Bestes gab.“ Hier zeigt sich ein ehemaliger Kommandant in Heldenpose und als Märtyrer seiner Überzeugung, was einige Parallelen zeigt zu den Ausführungen eines Rudolf Höss. Doch was der Kommandant von Auschwitz mit der Absicht der Rechtfertigung für die Nachwelt schreibt, wird hier über die Jahre in der Haft sehr persönlich im unmittelbaren Austausch mit seiner Familie entwickelt und erhält so einen ganz anderen Einblick in dessen Gedanken- und Gefühlswelt. Es gibt in diesem privaten Schutzraum jedenfalls keinen Platz für Skrupel: „Jedenfalls steht das Eine fest, dass niemandem durch uns Unrecht geschehen ist.“ (S. 82) und der Familie wird auf den Weg gegeben: „Bleibt stolz!“ (S. 117)

Die gleiche Unbeugsamkeit offenbart Lieselotte in ihren Briefen an ihren Mann, setzt die Gefangenschaft der NS-Täter nahtlos der Situation der Opfer im KZ gleich: „Ihr dort in der grossen Betonhalle in der Kälte, so hat es bestimmt kein KZ.ler gehabt. Mir haben sie selbst gesagt, dass es ihnen gut ging, in Neuengamme. Besser als jetzt. Denn jetzt haben sie Sorgen um ihre Familien.“ (Brief vom 19.1.47, vgl. S. 90). Der Autor interpretiert dies im Rahmen des nationalsozialistischen Referenzrahmens der radikalen Ausschließung der Opfer aus der Wir-Gruppe der Volksgemeinschaft, die schließlich jede Fähigkeit zerstört, sich in die Lage der Opfer zu versetzen (S. 91). Hier zeigen sich Parallelen zu den Thesen von Zygmunt Bauman (Vom Nutzen der Soziologie, 2000, S. 56 ff.). Und natürlich zeigt sich auch bei Tessmann das allseits bekannte Diktum der Täter, nichts als die Pflicht getan zu haben (S. 102), um schließlich am Tag vor der Hinrichtung entschlossen sein Schicksal anzunehmen, schließlich hätten er und seine Frau „einen schönen Kampf gekämpft […] und brauchen uns dessen nicht zu schämen. Liebling so rein ich gelebt habe, so gehe ich morgen früh auch meinen letzten Gang.“ (S. 145) In diesem Sinne hält auch seine Frau Lieselotte sein Andenken in Ehren und sorgt dafür, dass die NS-Ideologie der Erziehung zur Härte tiefe Spuren bei ihren Kindern hinterlässt, insbesondere bei dem Vater des Autors. Eindrücklich in diesem Zusammenhang sind die Schilderungen des Autors der Begegnungen mit seiner Großmutter und seine damit verbundenen psychosomatischen Reaktionen (S. 306).

Diskussion

Das Buch stellt zunächst eine eigenwillige Form der Aufarbeitung einer individuellen Familiengeschichte des Autors dar. Doch es wäre verkannt, wenn man es bei dieser Einordnung belassen würde. Vielmehr bildet diese persönliche Auseinandersetzung lediglich den Treibstoff, um die Thematik über die eigene Person hinaus zu wenden. Es will ein Lehrbuch sein und das eigene familiäre Beispiel möchte über das private Schicksal hinausweisen und den Kontext des privaten Geschehens konsequent einbeziehen. Dabei zeigt das Buch eine unverkennbare Botschaft, die bereits das Motto des Buches in Form eines Zitates von Hannah Arendt thematisiert. Es geht um Verantwortung, nämlich um diejenige, die die Täter nicht übernommen haben. Wir Nachgeborenen, so der Autor, müssen uns in die Situation der Zeit und ihrer Akteure hineinversetzen, nicht um Verantwortung für deren persönliche Schuld zu übernehmen, um eine irgendwie geartete Kollektivschuld kann es nicht gehen: „Es geht eben nicht darum, die Schuld der Vergangenheit den Nachfolgenden aufzubürden. Es geht darum, den Nachfolgenden Wissen, Maßstäbe und Werkzeuge an die Hand zu geben, damit sie eine dystopische Zukunft vermeiden können.“ (S. 61) Ihm persönlich geht es darum, wie er selbst schreibt, den Teufelskreis kryptonazistischer Gewalt zu durchbrechen, die er in seiner Familie, aber auch in sich selbst entdeckte und nicht seinen Kindern weitergeben wollte (S. 302). Äußerst eindrücklich schildert er sein emotionales Erleben beim Besuch der Eröffnung der Gedenkstätte in Neuengamme im Zusammenhang mit der Begegnung mit den Opfern der Untaten seines Großvaters (S. 305). Aus dieser Begegnung nimmt er das Erleben des Erwachsenwerdens mit, das darin kumuliert, dass er sich einer überpersönlichen Verantwortung bewusst wird, die das Projekt einer Begegnung ohne Ausgrenzung umfasst (S. 306). Die Welt der Opfer, aber auch diejenige der Täter müssen uns nahekommen können, denn sie wird von beiden bewohnt. Genau dies leistet dieses Buch, das Hineinversetzen in die Welt eines Täters und seiner Familie, ohne dadurch die Welt der Opfer, ihr Schicksal und ihre Narben auszublenden.

Fazit

Das Werk bereitet systematisch und äußerst sorgfältig in gewissenhafter Analyse und Interpretation die Quellen des KZ-Kommandanten und Großvaters des Autors Willi Tessmann auf. Es leistet damit einen besonderen Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Zeit mit einer klaren Botschaft, den Kreislauf der Gewalt, der diese Bewegung prägte, zu durchbrechen und verantwortlich mit der Welt unter Menschen umzugehen. Es sticht heraus durch die lebensweltliche Nähe, die anhand des Quellenmaterials erzeugt wird, insbesondere durch den Briefwechsel des Täters mit seiner Frau aus der Haft bis zu seiner Hinrichtung.

Rezension von
Prof. Dr. phil. habil. Joachim Weber
Professor an der Hochschule Mannheim, Fakultät für Sozialwesen in den Bereichen Theorie, Handlungstheorie und Ethik Sozialer Arbeit und Privatdozent an der Goethe-Universität Frankfurt am Fachbereich 04: Erziehungswissenschaften
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ISSN 2190-9245