Ortrud Sander, Ute Kögler: Beruflich erfolgreich sein mit AD(H)S
Rezensiert von Werner Fröhlich, 13.12.2021
Ortrud Sander, Ute Kögler: Beruflich erfolgreich sein mit AD(H)S. Individuelle und betriebliche Voraussetzungen. tredition GmbH (Hamburg) 2021. 144 Seiten. ISBN 978-3-347-37370-9. D: 17,90 EUR, A: 18,40 EUR, CH: 19,99 sFr.
Thema
Jahre-, ja jahrzehntelang, seitdem sich die Abkürzung ADS oder AD(H)S (wenn mit Hyperaktivität verbunden) eingebürgert hat und zum allgemeinen Sprachgut geworden ist, war überwiegend von Kindern, Schülern und Jugendlichen die Rede. Mittlerweile richtet sich, nachdem aus Kindern Erwachsene geworden sind, der Blick stärker auf Menschen im Berufsleben. Das zeigt sich unter anderem an zwei Neuveröffentlichungen des Jahres 2021, neben dem hier besprochenen Buch auch an Heiner Lachenmeiers „Mit ADHS erfolgreich im Beruf“.
Autorinnen
Die Autorin Ortrud Sander ist studierte und promovierte Erziehungswissenschaftlerin, war in der Weiterbildungsabteilung eines Großklinikums tätig und leitet heute ein Unternehmen für Personalentwicklung und Beratung. Ute Kögler ist Diplom-Kauffrau und hat jahrelange Erfahrung in der Beratung von Studierenden aller Fachrichtungen bei der Berufsorientierung. Sie hat sich zum Coach für die Bereiche Berufswahl, AD(H)S und Transition weitergebildet und leitet heute ein eigenes Beratungsunternehmen. Sie engagiert sich zudem ehrenamtlich im Verein „Juvemus“, Vereinigung zur Förderung von Kindern und Erwachsenen mit Teilleistungsschwächen.
Entstehungshintergrund
Sander und Kögler stützen sich nicht nur auf eigene Kenntnisse und Erfahrungen, sondern haben die Ergebnisse einer Befragung von Berufstätigen mit AD(H)S und einer Vergleichsgruppe von Berufstätigen ohne AD(H)S ausgewertet. Die insgesamt 11 Betroffenen und 9 Nicht-Betroffenen wurden mit ähnlichen Fragen interviewt und kommen zudem in zahlreichen Original-Zitaten zu Wort. Als Betroffene wurden nur Menschen mit einer abgeschlossenen Ausbildung oder Studium ausgewählt, die sich in einer beruflichen Tätigkeit befinden oder befunden haben und bei denen die ADHS-Diagnose erst im Erwachsenenalter gestellt wurde.
Aufbau und Inhalt
Sander und Kögler gliedern ihr Buch in zwei Hauptteile und einen Anhang mit ergänzenden Informationen zu AD(H)S, Glossar und Literaturverzeichnis. Der erste Teil referiert die Ergebnisse der Befragung der Betroffenen-Gruppe und der nicht betroffenen Vergleichsgruppe, insbesondere zur Arbeitsfähigkeit und Job-Passung als Grundlage des beruflichen Erfolgs. Der zweite Teil widmet sich der Beantwortung der praktischen Frage, wie beruflicher Erfolg bei Menschen mit AD(H)S gefördert und erhalten werden kann.
Sander und Kögler heben die Bedeutung von präventiven Maßnahmen zur langfristigen Erhaltung der Arbeitsfähigkeit von AD(H)Slern hervor. Zu diesen präventiven Maßnahmen zählen sie zum Beispiel das Erlernen von Bewältigungsstrategien, die Aufklärung über AD(H)S und ihre Auswirkungen sowie die Unterstützung durch Bezugspersonen bei der Alltagsbewältigung. Bezugspersonen sind Verbündete, die helfen, mit beruflichen und privaten Anforderungen fertig zu werden. Das können Partnerinnen und Partner sein, Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen oder Freunde. Die Bedeutung solcher sozialer Beziehungen ist deutlich aus dem Ergebnis der Befragungen zu entnehmen.
Zu den wichtigen präventiven Maßnahmen zählen die Autorinnen auch Coaching und Therapie. Das ist keine Aufgabe, die von Bezugspersonen übernommen werden könnte. Umgekehrt können Coaches keine Bezugspersonen sein. Die erfolgreiche Wahrnehmung ihrer Aufgaben, die immer eine Begleitung auf Zeit sein wird, erfordert eine gewisse Distanz, die bei Bezugspersonen gerade nicht gegeben ist. Die Rollen sind daher auseinander zu halten.
Ob Menschen mit AD(H)S als „krank“ einzustufen sind, ist keine leicht zu entscheidende Frage. Sander und Kögler stützen sich bei der Abgrenzung von „gesund“ und „krank“ auf Aaron Antonowsky und sein Buch „Salutogenese – zur Entmystifizierung von Gesundheit“. Ob ein Mensch gesund oder krank ist, hängt hiernach von individuellen Bewertungen ab, einerseits durch die betroffene Person selbst und andererseits durch die sie umgebenden Personen.
Von entscheidender Bedeutung ist für Sander und Kögler der Begriff der „Job-Passung“. Wenn man einmal einen Beruf gewählt hat, der einen überfordert, kann es sein, dass man ein Leben lang überfordert ist, so ein Angehöriger der ADHS-Gruppe, der von Sander und Kögler zitiert wird. Die Bedeutung einer gelungenen Job-Passung kann hiernach gar nicht überschätzt werden. Das Empfinden, schlechter zu sein als die anderen, wird verstärkt, das ohnehin schlechte Selbstbild leidet zusätzlich, Stress und Frustration nehmen zu. Deswegen empfehlen die Autorinnen den Betroffenen, sich über ihre Stärken und Ressourcen Rechenschaft zu legen und sich über die Anforderungen des zu wählenden Berufs genau zu informieren.
Für die von Sander und Kögler interviewten AD(H)Sler sind Strukturen im betrieblichen Umfeld besonders wichtig. Unklare Strukturen wirken sich als Stressoren für Betroffene aus. Eine klare Beschreibung von Arbeits- und Aufgabenfeldern und von Zuständigkeiten, aber auch die Gewährung von Freiräumen in der Gestaltung von Aufgaben bieten Orientierung und helfen dabei, unproduktiven Stress zu vermeiden.
Die Autorinnen stellen heraus, dass es für Menschen mit AD(H)S keine generellen Einschränkungen hinsichtlich der in Betracht kommenden Berufsfelder gibt. Da die Berufswahl aber kein Wunschkonzert ist, empfiehlt sich, bei Entscheidungen über die Wahl des passenden Berufs oder bei einem Arbeitsstellen- oder Berufswechsel den Rat unabhängiger und qualifizierter Experten hinzuzuziehen. Das erweitert den Horizont und bewahrt vor fatalen Fehleinschätzungen.
Diskussion
Mit dem Thema Arbeitsorganisation kommen „Drittbetroffene“ ins Spiel, die von ADHS-Ratgebern oft nur am Rande erwähnt werden, nämlich die Verantwortlichen in Schulen, Hochschulen, Ausbildungsbetrieben und Unternehmen, die Menschen bei der Berufswahl oder bezüglich ihrer Entwicklungs- und Veränderungsmöglichkeiten im Berufsleben beraten und begleiten. Sander und Kögler wollen diese Zielgruppe ausdrücklich angesprochen haben.
Die Autorinnen verstehen ihre Befragung als qualitative explorative Vorstudie. Das erklärt die kleine Zahl von Befragten. Nicht in Betracht gezogen wurden Menschen mit einer ADHS-Karriere von Kindheit bzw. Jugend an, Menschen, die es nie zu einer Ausbildung oder einem Studium gebracht haben und Menschen, die trotz Ausbildung oder Studium nie in einem Beruf tätig waren. Sander und Kögler orientieren sie sich ausdrücklich nicht an Defiziten der von AD(H)S betroffenen Menschen, sondern heben besondere Kompetenzen hervor, die Erfolg im Beruf leichter machen. Da die Autorinnen mit ihrem Buch zu einer positiven Perspektive ermutigen wollen, versteht sich, dass Negativbeispiele außer Betracht bleiben. Trotz dieser Einschränkungen liefert die Befragung verwertbare Ergebnisse zu inhaltlichen Themen wie etwa Strategien zur Bewältigung beruflicher Situationen, Bedeutung der Arbeitsorganisation, Stress und Stressbewältigung.
Betroffene haben in der Regel keine Möglichkeit, auf die Definition von Arbeits- und Aufgabenfeldern Einfluss zu nehmen oder sich eine Organisation auszusuchen, die ihren Wünschen und Vorstellungen genau entspricht. Zudem sind Arbeitgebern, auch wenn sie Verständnis für AD(H)Sler aufbringen, Grenzen bei der Arbeitsorganisation vorgegeben, wenn die Qualität der Produkte und die Rentabilität des Betriebes in Frage steht.
Andererseits würden Ausbildungsbetriebe und Unternehmen auf ein wichtiges Arbeitskräftepotenzial verzichten, wenn sie AD(H)Sler ausschließen wollten. Es lohnt sich auch aus unternehmerischer Sicht, Menschen einzustellen und zu beschäftigen, die mit Informationen und Funktionen „unüblich“, das heißt, anders als die Mehrheit, umgehen. Sie erfordern wahrscheinlich mehr Geduld, Toleranz und Vertrauensvorschuss als andere, aber sie können sich am Ende durchaus als Volltreffer erweisen.
Fazit
Die Erziehungswissenschaftlerin Ortrud Sander und die Diplomkauffrau Ute Kögler stellen in ihrem Buch „Beruflich erfolgreich sein mit AD(H)S – Individuelle und betriebliche Voraussetzungen“ die Ergebnisse von Interviews mit AD(H)S-Betroffenen und einer Vergleichsgruppe nicht Betroffener vor. Sie untersuchen darüber hinaus die Frage, wie beruflicher Erfolg bei Menschen mit AD(H)S praktisch gefördert und erhalten werden kann. An erster Stelle steht für sie der Begriff der „Job-Passung“, wobei professionelles Coaching entscheidende Hilfestellungen geben kann.
Rezension von
Werner Fröhlich
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Zitiervorschlag
Werner Fröhlich. Rezension vom 13.12.2021 zu:
Ortrud Sander, Ute Kögler: Beruflich erfolgreich sein mit AD(H)S. Individuelle und betriebliche Voraussetzungen. tredition GmbH
(Hamburg) 2021.
ISBN 978-3-347-37370-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29009.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.
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