Volker Kraft: Erziehung, Beratung, Psychotherapie
Rezensiert von Dr. Lorenz Grolig, 13.06.2022

Volker Kraft: Erziehung, Beratung, Psychotherapie. Eine Einladung zu Unterscheidungen. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2021. 299 Seiten. ISBN 978-3-17-040448-9. 34,00 EUR.
Thema
Die Monografie untersucht Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Erziehung, Beratung und Psychotherapie. Erziehung wird hierbei als eine spezifische Form kommunikativen Handelns und Denkens verstanden, deren Besonderheiten in der Abgrenzung zu Beratung und Psychotherapie sichtbar gemacht werden. Aus systemtheoretischer Perspektive (Niklas Luhmann) und mit Blick auf die psychosoziale Praxis untersucht der Autor, wie diese drei Formen kommunikativen Handelns sich hinsichtlich Interaktion, Profession (Organisation) und System (Gesellschaft) unterscheiden. Unter anderem soll dadurch bestimmt werden, was dem pädagogischen Denken und Handeln eigen ist. Studierende, Praktiker*innen und Lehrende sollen dazu befähigt werden, eigene Vorstellungen und Praxiserfahrungen anhand systemtheoretischer Konzepte zu reflektieren, um sich austauschen und die eigenen berufspraktischen Kompetenzen weiterentwickeln zu können.
Autor
Volker Kraft hat viele Jahre als Hochschullehrer geforscht und gelehrt sowie als Psychotherapeut und in der Beratungspraxis gearbeitet.
Aufbau und Inhalt
Die Hauptkapitel „Differenzen in operativer Perspektive“, „Differenzen in professioneller Perspektive“ und „Differenzen in systemfunktionaler Perspektive“ werden durch eine Einleitung und einen Ausblick gerahmt (insgesamt 299 Seiten). Die Hauptkapitel sind übersichtlich strukturiert und folgen einer parallelen Form. Einleitend werden jeweils die Begriffe und „theoretischen Werkzeuge“ vorgestellt, die zum Verständnis der Ausführungen notwendig sind. Neben dem Sichtbarmachen vielfältiger Differenzen stellt der Autor auch klar, dass mit allen drei Handlungsformen beabsichtigt wird, Veränderungen im Wissen, in den Einstellungen und im Verhalten des Gegenüber zu bewirken, es übergreifend „um die Initiierung von Lernprozessen“ geht (S. 20).
Im Kapitel „Differenzen in operativer Perspektive“ greift Kraft auf die Zeige-Theorie (Klaus Prange) zurück, die „pädagogische Operationen“ (S. 22) in Form von Mittel-Zweck-Relationen analysiert und pädagogisches Handeln und dessen Wirkungen als Technologie auffasst. Durch Zeigen wird eine absichtsvolle Verbindung zwischen Zeigendem, Sachverhalt und Adressat hergestellt. Zeigen – als Geste, vor allem aber auch im übertragenen Sinn – ist demnach eine elementare Form menschlicher Kommunikation, mit der unter anderem Wissen an junge Menschen weitergegeben werden kann. Insgesamt werden durch die Analysen in den drei Unterkapiteln Zeigestrukturen herausgearbeitet, die für Erziehung, Beratung und Psychotherapie jeweils charakteristisch sind. Daraus ergibt sich folgende These: „Die Form des Zeigens folgt dem Wissen, das gezeigt werden soll. Und das bedeutet: Weltwissen im Falle der Erziehung, Entscheidungswissen im Falle der Beratung und Ich-Wissen im Falle der Psychotherapie“ (S. 123).
Im Kapitel „Differenzen in professioneller Perspektive“ vergleicht der Autor auf „der Grundlage professionstheoretischer Überlegungen […] zum einen das System der Berufsklassifikation und zum anderen […] Ausbildung und die jeweiligen berufsrechtlichen Kontexte […]“ (S. 193). Mit Blick auf die Unterscheidung Profession versus Semi-Profession (Amitai Etzioni) zeigen die Analysen, dass Erziehung und Beratung als Semi-Profession eingeordnet werden können, Psychotherapie hingegen als Profession. Hierbei spielen auch berufsrechtliche Aspekte eine wichtige Rolle. Während Beratung als „soziale Möglichkeit“ (S. 194) auf Freiwilligkeit beruhe und oft nur in spezifischen Situationen zeitlich begrenzt eingesetzt werde, sei Erziehung eine „anthropologische Notwendigkeit“ und Psychotherapie eine „medizinische Notwendigkeit“, was sich auch in ihrer gesellschaftlich-institutionellen Verankerung zeige (ebd.).
Im Kapitel „Differenzen in systemfunktionaler Perspektive“ werden Erziehung, Beratung und Psychotherapie „in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang […] als Elemente sozialer Systeme“ (S. 278) betrachtet. Einleitend stellt Kraft zentrale systemtheoretische Unterscheidungen dar (u.a. psychische und soziale Systeme, Verbreitungs- und Erfolgsmedien) und bezieht diese dann auf die drei kommunikativen Handlungsformen in sozialen Systemen. Er kommt dabei zu folgenden Schlüssen: Die Funktion von Beratung gleiche der eines „kommunikativen Liberos“ (S. 278), der hoch flexibel, vielseitig und unter Rückgriff auf über längere Zeit erworbenes Erfahrungswissen im Spiel agiert: „Beratung […] ist überall zu finden, in allen sozialen Systemen, […] ein Generalist sozusagen, der die Arbeit der spezialisierten Experten ergänzt“ (ebd.). Deutlich weniger spielerisch sieht der Autor psychotherapeutisches Handeln, da es sich eng auf gestörte, da inflexibel gewordene, psychische Strukturen des Patienten beziehe. Während das Wirken von Beratung und Psychotherapie zeitlich und inhaltlich in der Regel begrenzt ist, hat Erziehung in unserer heutigen Gesellschaft einen universellen, lebenszeitlich, quasi unbegrenzten Anspruch, ihrer Funktion nachzukommen, nämlich auf den „Aufbau und Anreicherung von Wissen, Einstellungen, normative Orientierungen und Verhaltensmuster […]“ einzuwirken (S. 280). Angesichts dieser Herkules-Aufgabe hat der Autor auch tröstliche und entlastende Worte: „Erziehung braucht daher vor allem anderen Vertrauen in sich selbst, in die eigenen operativen Möglichkeiten, und das heißt, zu allererst: Vertrauen in ihre Adressaten darein also, dass diese, gut genug erzogen, es in ihrem weiteren Leben schon richten werden, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt“ (S. 281).
Diskussion
Dieses Buch ist sehr hilfreich für die Verortung der eigenen Profession im zunehmend unübersichtlichen Feld psychosozialer Unterstützungs- und Beratungsangebote. Denn es bietet eine klare Orientierung angesichts nicht immer leicht sichtbarer Grenzen und Unterschiede, gerade zwischen pädagogischen, beraterischen und psychotherapeutischen Handlungsfeldern. Es stellt Begriffe und Konzepte zur Verfügung, die für die Reflexion des eigenen professionellen Handelns hilfreich und horizonterweiternd sind, nicht zuletzt mit Blick auf multiprofessionelle Unterstützungsangebote. Die Auseinandersetzung mit den von Kraft ausgewählten, systemtheoretisch begründeten Konzepten ist sehr anregend, verlangt jedoch von den Leser*innen, sich auf eine Denkschule einzulassen, die im Pädagogik-Studium oft nicht oder nur in geringem Ausmaß vorgestellt wird. Gerade hier dürfte für alle Interessierten jedoch ein besonderer intellektueller Reiz begründet liegen.
Fazit
Das Buch ist allen zu empfehlen, die aufschlussreiche Einblicke in eine systemtheoretisch inspirierte Pädagogik gewinnen wollen. Insofern wird es nicht nur für Studierende der einschlägigen Disziplinen und in Ausbildung befindliche Psychotherapeut*innen eine lohnende Lektüre sein, sondern auch für alle, die bereits in pädagogischen Berufen (z.B. Sozialpädagogik, Schule), auf dem weiten Feld der Beratung oder in der Psychotherapie seit Längerem tätig sind.
Rezension von
Dr. Lorenz Grolig
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