Pädagogik‐Talk 09
Rezensiert von apl. Prof. Dr. Anne Amend-Söchting, 30.05.2022

Pädagogik‐Talk 09: Wertschätzung und Grenzen in der Erziehung.
AV1 Pädagogik-Filme
(Kaufungen) 2021.
26,00 EUR.
DVD; DVD-Nummer: 46507092.
Thema
Dass Kinder Grenzen benötigen und mindestens eine Bezugsperson, die diese mentalisierend und empathisch setzen kann, wird in vielen Publikationen thematisiert. In der aktuellen pädagogischen Landschaft ist es unerschütterlicher und unhintergehbarer State of the art, dass Heranwachsenden Grenzen gesetzt werden müssen, ohne blinden Gehorsam zu erwarten und ohne Macht zu exerzieren. Nicht autoritär soll vorgegangen werden, sondern vielmehr wertschätzend, autoritativ und demokratisch, was nicht selten mit dem determinativen Akt kollidiert, der dem Setzen von Grenzen eignet. In der pädagogischen Praxis ist dem Thema „Wertschätzung und Grenzen in der Erziehung“ a priori ein mitunter diffizil zu praktizierendes Paradoxon inhärent, weil Aufforderungen und Ansagen bei aller Wertschätzung das bleiben, was sie sind: Imperative, die befolgt werden sollen. Nur ein kontinuierliches dialogisches Austarieren der Handlungsalternativen und ein Bewusstsein für diese Dynamik vermag Entgleisungen in die eine, autoritäre, oder andere, permissive, Richtung zu verhindern.
Kurt Gerwig zitiert zum Auftakt der Gesprächsrunde eine der berühmtesten Sentenzen zur Erziehung, die fälschlicherweise Johann Wolfgang von Goethe zugeschrieben wird: „Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel“. In dieser Vertikalität transportieren Wurzeln das Bild des Geerdeten und Sicheren, weisen hin auf Bindung und Grenzen. Im Gegensatz dazu und gleichermaßen in einer Einheit damit implizieren Flügel das Abenteuer der Exploration und des Aufschwungs, das Wertschätzung voraussetzt. Es gilt, so viele Grenzen wie nötig zu setzen und den Kindern dabei so viel Freiheit wie möglich zu lassen.
Moderator und Gesprächsteilnehmende
Kurt Gerwig „ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten deutschen Filmemacher im pädagogischen Bereich. Seit über 28 Jahren und mit großer Begeisterung setzt er Themen aus bzw. für KiTas und Schulen in Bild und Ton um“ (https://www.paedagogikfilme.de/author/av1_kurt/).
Heidemarie Brosche ist pensionierte Hauptschullehrerin und Autorin vieler Kinder-, Jugend- und Sachbücher. Sie hält Lesungen, Vorträge und Workshops zu pädagogischen Themen und zu ihren Büchern. Sie ist Mutter von drei Kindern (Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Heidemarie_Brosche).
Eylem Emir „arbeitet als Erzieherin in der Ganztagsbetreuung einer Augsburger Grund- und Hauptschule mit extrem hohem Migrantenanteil. Sie engagiert sich zudem ehrenamtlich als Stadtteilmutter des Deutschen Kinderschutzbundes und hat selbst vier Kinder zwischen 21 und sechs Jahren“ (https://chrismon.evangelisch.de/personen/eylem-emir-51065).
Marcel Kahl ist einer von zwei Zwillingsvätern. Unter „regenbogenpapi“ bloggt er auf Instagram. Vielfalt in der Erziehung ist ihm ein großes Anliegen. So sammelte er Geld für rund 100 Kinderbücher über Regenbogen- und Patchworkfamilien, die er Kitas und Schulen in seiner Gemeinde zur Verfügung stellte (vgl. https://www.queer.de/bild-des-tages.php?einzel=3281).
Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler ist emeritierte Professorin für Pädagogik und Familienbildung. Bis 2015 war sie als Leiterin des Instituts für Kindheit, Jugend und Familie an der Technischen Hochschule Köln tätig. Heute arbeitet sie freiberuflich als Familien- und Erziehungsberaterin. Eine ihrer zahlreichen Publikationen ist die Monografie „Die fünf Säulen der Erziehung“. Sie ist Mutter von vier Kindern und inzwischen bereits Urgroßmutter (vgl. u.a. https://www.heinrich-pestalozzi.de/wissen/autoren/tschoepe-scheffler-sigrid).
Entstehungshintergrund
Nach Gesprächen, die unter anderem um die Themen Haltung, Werte, Vorbilder oder extremistische Eltern in Kitas und Schulen kreisen (vgl. https://www.paedagogikfilme.de/), bietet die vorliegende DVD den nunmehr neunten „Pädagogik-Talk“, zu dem sich inzwischen auch sogenannte „Pädagogik-Walks“ gesellen. Alle sind als DVDs und Downloads erhältlich, Trailer dazu sind auf Youtube zu finden, zu „Wertschätzung und Grenzen“ unter https://www.youtube.com/watch?v=y7hCFdDLuas.
Aufbau und Inhalt
Das insgesamt knapp einstündige Gespräch erscheint zwar als kontinuierlich geführtes Interview, ist aber minutengenau in sinnvolle Abschnitte unterteilt worden, die auf der Innenseite des DVD-Covers notiert und oft als Fragen formuliert sind. Dies erleichtert es, Subthemen zu finden.
Zu Beginn beantwortet Sigrid Tschöpe-Scheffler die Frage nach der Definition von Wertschätzung und Grenzen. Es gehe zuallererst um die Grundhaltung, dass die eigenen Grenzen genauso wenig überschritten werden sollten wie die Grenzen anderer. Die „Haltung dahinter“ sei immer wichtig. Tschöpe-Scheffler erläutert die „fünf Säulen der Erziehung“ (1. Achtung, 2. Liebe, 3. Kooperation, 4. Struktur, 5. Förderung) und fügt ihnen zwei hinzu (6. Spiritualität, 7. Gemeinschaft).
Heidemarie Brosche führt zum Begriff „Wertschätzung“ aus, dass es um nicht mehr und nicht weniger gehe, als den Wert eines Menschen zu schätzen. Leicht passiere etwas nicht Wertschätzendes. Für Kinder und Jugendliche sei Wertschätzung besonders bedeutend, weil sich ihr Selbstwert noch konstituieren müsse und dieser sich über das, was von außen komme, herausbilde. Mit dem Wert eines jungen Menschen müsse man immer behutsam umgehen.
Wertschätzung sei schwierig, so Sigrid Tschöpe-Scheffler, weil viele Menschen die „Königsdisziplin der Pädagogik“, die Wahrnehmung nämlich, nicht beherrschten. Wenn man dieser folge, verfüge man über einen offenen Blick, würde in Kindern und Jugendlichen ein Geheimnis sehen, auf das man sich gern einließe. Auf diese Weise gewönne die Wertschätzung das Primat gegenüber der Abwertung. Oft stehe der Wertschätzung eine mangelnde Selbstkenntnis entgegen. „Erziehe Dich selbst, bevor Du Kinder erziehst“, dieses Zitat von Janus Korczak illustriere, dass man sich zunächst selbst als Mensch kennenlernen müsse. Erst danach sei man in der Lage, die eigene Situation im Kontext mit Kindern zu sehen.
Im Weiteren berichtet Eylem Emir davon, wie sich ihr Erziehungsstil von einem autoritären in einen demokratischen wandelte. Sie selbst sei in einer Gesellschaft aufgewachsen, die sehr kollektivistisch und von der Frage nach der Anerkennung durch andere durchwirkt sei. Eine solche „Schamkultur“ beruhe auf der Erwartung, dass sich jede*r anpasse. Bei der Erziehung ihrer ersten beiden Kinder habe sie diese Prämissen nicht infrage gestellt, denn der Fokus ihrer Beobachtung habe auf der Gesellschaft gelegen. So habe sie die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht wahrgenommen, wobei diese im Übrigen sehr „anständig“ gewesen seien und ihre Bedürfnisse nicht geäußert hätten.
Der Zwillingsvater Marcel Kahl bezeichnet seine beiden sechsjährigen Jungen als sehr unterschiedlich. Obwohl beide von klein auf gleichbehandelt, wertschätzend und mit Respekt begleitet worden seien, zeigten sie unterschiedliches Verhalten. Für seinen Mann und ihn sei es essenziell, zwei starke Kinder zu erziehen, die sich „durchboxen“ könnten, denn nach wie vor sei mit Vorurteilen gegenüber einer Regenbogenfamilie zu rechnen. Die beiden Söhne müssten aber ebenso die Bedürfnisse der Erwachsenen anerkennen und ihnen wertschätzend begegnen.
Grenzen seien in der Säule „Struktur“ zu verorten. Kinder benötigten Vorgaben, Ordnung und Grenzen – dies expliziert Sigrid Tschöpe-Scheffler. Das, was einem wichtig sei, müsse mit Ernsthaftigkeit in Mimik, Gestik und Sprache wiedergegeben werden. Daraus folge auch die Wertschätzung der Kinder gegenüber den Erwachsenen. Außerdem sei der Akt der Grenzziehung selbst ein wertschätzender, denn er vollziehe sich im Abseits der Gleichgültigkeit und signalisiere einem Kind Orientierung. Es merke, dass es wahr- und ernstgenommen werde.
Viele Eltern erlebten das Dilemma, konstatiert Heidemarie Brosche, einerseits gut erziehen, andererseits aber den Kindern auch gute Freund*innen sein zu wollen. Sie befürchteten, dass ihr Nachwuchs sie nach dem Aussprechen von Verboten und dem Setzen von Grenzen nicht mehr liebe. Klarheit jedoch gebe Kindern Halt und müsse auch dann aufrechterhalten werden, wenn sie anfingen zu schreien. Nur auf diese Weise entwickelten sie ein Gefühl für Verlässlichkeit. Klare Führung habe nichts mit Machtausübung zu tun. Was konkret richtig oder falsch sei, lasse sich nicht ohne Weiteres sagen, alle diesbezüglichen Entscheidungen müssten sich für die Familie richtig anfühlen. Sigrid Tschöpe-Scheffler ergänzt, dass auch Konflikte zwischen den Eltern einmal existieren dürften, nur der eine Elternteil dürfe dem anderen nicht in den Rücken fallen.
Gefragt nach dem Richtungswechsel in ihrem Erziehungsstil, erklärt Eylem Emir, dass sie Fortbildungen, „Starke Eltern – Starke Kinder“, besucht habe, nachdem sie bemerkt hatte, dass bei ihrer Tochter „etwas nicht stimmt“. Mit den Kursen habe sie sich zuerst schwergetan, nicht zuletzt deshalb, weil der autoritative bzw. demokratische Erziehungsstil nicht so einfach zu befolgen sei wie der autoritäre. Sie habe aber schnell gemerkt, was sie mit dem neuen Procedere erreichen könne.
Seine beiden Söhne seien wild und laut, sein Mann und er müssten oft schimpfen, sie seien permanent dabei, den Jungen etwas zu sagen, worauf diese Widerworte geben würden. Er beobachte sehr viel, so Marcel Kahl, und nehme seine eigenen Bedürfnisse ebenfalls ernst.
„Ein liebevolles Nein ist eine Kunst“ – vor dem Hintergrund dieses Diktums von Jesper Juul skizziert Sigrid Tschöpe-Scheffler eine Übung, Nein zu sagen, die sie ihren Studierenden auftrug: in die Stadt zu gehen, Kleidungsstücke anzuprobieren, zum Kauf jedoch Nein zu sagen. Es sei ratsam, zu wissen, wie man mit einem Nein umgehe, sodass man es nicht „kurz vor dem Explodieren“ sage, sondern dies ruhig, authentisch und liebevoll vor einer Eskalation tun könne. Es sei ein Lernprozess, die eigenen Grenzen auszuloten. Erziehungsratgeber seien dabei wenig hilfreich, weil Erziehung mit „Versuch und Irrtum“ einhergehe.
Jede*r müsse für sich selbst herausfinden, was das Beste für sie*ihn selbst und für das Kind sei – eruieren, wie man sich selbst und anderen gegenüber liebevoll, achtsam und respektvoll verhalten könne. Nach diesem Fazit bittet der Moderator die Gesprächsteilnehmenden, vorzulesen, wie sie bereits vor der Aufzeichnung den Satz „Wertschätzung und Grenzen in der Erziehung bedeuten für mich…“ beendet haben. Der Pädagogiktalk endet mit den vier folgenden Statements:
„Wertschätzung und Grenzen in der Erziehung bedeuten für mich…“
- „… Respekt gegenüber Groß und Klein.“ (Marcel Kahl)
- „… das Kind in seiner Würde ernst zu nehmen, es liebevoll zu führen und in Konfliktsituationen klar, aber nicht abwertend zu agieren.“ (Heidemarie Brosche)
- „… das Kind, die Situation und mich selbst zu beobachten, beachten und achten, um in einen entwicklungsfördernden Dialog miteinander zu kommen.“ (Sigrid Tschöpe-Scheffler)
- „… die höchste Sicherheit, das stabile Fundament einer gesunden Entwicklung zur freien und individuellen Entfaltung und damit das wertvollste Erbe, das man vererben kann.“ (Eylem Emir)
Diskussion
Als wichtigstes Ergebnis des neunten Pädagogik-Talks ist festzuhalten, dass alle Interviewpartner*innen Wertschätzung und Grenzen als dynamische Einheit ansehen. Mit der Prämisse einer wertschätzenden Haltung, so lässt sich resümieren, sollen die erziehenden Erwachsenen die ihnen anvertrauten Kinder beobachten, ihre Bedürfnisse wahrnehmen und sich der Verantwortung inne sein, dass Kinder lernen müssen, wie sie mit Einschränkungen ihres Willens umzugehen haben. Eine offene Virtualität der Wunscherfüllung nach dem Motto „anything goes“ wäre wenig entwicklungsfördernd, würde sie doch Menschen heranwachsen lassen, die in sensiblen Entwicklungsphasen unter Überforderung litten und die als Outcome des Ganzen kaum wertschätzend mit ihrem jeweiligen Gegenüber umgehen könnten. Grenzen hingegen, die wertschätzend gesetzt werden, formieren, um Eylem Emir zu zitieren, „das stabile Fundament einer gesunden Entwicklung zur freien und individuellen Entfaltung“.
Wenn sich eine offene kommunikative Haltung zwischen Bezugspersonen und zu Erziehenden manifestiert, wenn sich eine Dialogizität herausgebildet hat, die den Kindern einerseits ein Gerüst offeriert, das man ihrem Entwicklungsstand sukzessive anpasst, und das andererseits auf partizipativem Aushandeln und Diskutieren der Alternativen fußt, dann ist der Boden für die Entwicklung eines gesunden Selbstwerts und somit ebenso der intra- und interindividuellen Wertschätzung bereitet. Eine solche kluge mikrosystemische Diskursfähigkeit resultiert aus einer autoritativen und demokratischen Haltung, die sich in der Kommunikation in Authentizität und Kongruenz fortsetzt. Hinter allem steht eine Grundhaltung, in der, so wie Sigrid Tschöpe-Scheffler einleitend bemerkt, man sich der eigenen Grenzen in dem Wissen gewahr ist, dass auch die Grenzen der anderen respektiert werden müssen.
Dass die Oberthemen „Wertschätzung und Grenzen“ an einer Reihe von pädagogischen Querschnittsthemen partizipieren, ist im Gespräch deutlich geworden. Schön wäre es gewesen, wenn man Begriffe wie Haltung, Nähe und Distanz, Kongruenz und Authentizität zumindest genannt und ansatzweise pointiert hätte. Immerhin hat Eylem Emir den autoritären Erziehungsstil mit dem autoritativen respektive demokratischen kontrastiert.
Zu dem Desiderat des stärkeren Theoretisierens gesellt sich eine weitere Kleinigkeit: zwischen den Gesprächsteilnehmenden kommt kaum ein Austausch zustande. Kurt Gerwig lädt seine Gäste reihum zu Stellungnahmen ein, sodass der Film tendenziell einen Interviewcharakter aufweist. Allerdings, das ist dem entgegenzuhalten, fällt dieser kaum auf, weil alle Anwesenden ihre eigenen spannenden Narrative vorbringen und sich nicht scheuen, auch auf private Gegebenheiten Bezug zu nehmen.
Fazit
Die DVD „Wertschätzung und Grenzen“ bietet ein hervorragendes niederschwelliges Angebot für Eltern und eventuell pädagogische Fachkräfte in Ausbildung und/oder Studium, die einen ersten Einblick in ein höchst komplexes Thema erlangen möchten.
Zwar kann ein Film keineswegs die Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Fachliteratur ersetzen, wohl aber einen Weg dazu bahnen. Vielleicht eignet sich dieser gute Pädagogik-Talk in besonderem Maße dafür und ist tatsächlich der bislang beste, so wie auf der Website www.paedagogikfilme.de/ zu lesen ist.
Rezension von
apl. Prof. Dr. Anne Amend-Söchting
Literaturwissenschaftlerin (Venia legendi für Romanische Literaturwissenschaft, Französisch und Italienisch) sowie Dozentin an einer Fachschule für Sozialpädagogik.
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