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INES Institut Neue Schweiz: Handbuch Neue Schweiz

Rezensiert von Dr. Susanne Bachmann, 23.03.2022

Cover INES Institut Neue Schweiz: Handbuch Neue Schweiz ISBN 978-3-0358-0403-4

INES Institut Neue Schweiz: Handbuch Neue Schweiz. Diaphanes (Zürich) 2021. 384 Seiten. ISBN 978-3-0358-0403-4. D: 30,00 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 35,00 sFr.

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Thema

Ein Viertel der Menschen, die in der Schweiz leben, hat keine Schweizer Staatsbürgerschaft. Viele davon sind in der Schweiz aufgewachsen und leben seit Jahrzehnten dort. Zahlreiche Menschen machen immer wieder die Erfahrung, wegen ihres Aussehens, ihrer Sprache oder ihres Namens als «fremd» und nicht zugehörig behandelt zu werden. Dominante Konzepte und Narrative, wer zur Schweiz gehört, werden der Lebenswirklichkeit vieler Menschen nicht gerecht, für die Migrationserfahrungen, Transnationalität und Mehrfachzugehörigkeiten längst normal sind.

Das Institut Neue Schweiz (INES) will angesichts dessen Diskussions- und Reflexionsprozesse lancieren und Begriffe und Visionen entwickeln, die der «mehrdeutigen, vielschichtigen, widersprüchlichen Realität gelebter Vielfalt in der Schweiz» gerechter werden. Ein Beitrag dazu ist das «Handbuch Neue Schweiz».

HerausgeberIn

Das Institut Neue Schweiz (INES), das 2016 gegründet wurde, bezeichnet sich als «Think & Act Tank mit Migrationsvordergrund» und treibt Debatten rund um Teilhabe, Zugehörigkeit, Vielfalt und Demokratisierung voran. Dabei erweitert das Netzwerk den Blick auf die Migrationsgesellschaft, indem es nicht nur Fragen rund um Einwanderung und Rassismus angeht, sondern diese mit den grossen Themen der Gegenwart verbindet: die Zukunft der Demokratie, die Bedeutung der Erwerbsarbeit oder die Rolle von Geschlechterverhältnissen, aber auch Digitalisierung, Ökonomie und Bildung.

Die Arbeiten und Anlässe von INES bewegen sich an der «Schnittstelle von Forschung, Wissenschaft, Kulturschaffen, politische Bildung und Aktivismus» (S. 78) und sind geprägt von Forderungen nach einem neuen Verständnis von Bürger*innenschaft, nach Teilhabegerechtigkeit und nach einer «Schweiz, die für ihr globales Handeln Verantwortung übernimmt», wie es auf der Website von INES heisst. Ziel ist es, «sich aus dem Denken in ‘Wir’ und ‘Ihr’ zu lösen» und die demografische Realität der Schweiz in Politik, Geschichte, Bildung, Kultur und Medien stärker sichtbar zu machen, wo bislang Menschen mit Migrationsgeschichte und Rassismuserfahrungen stark unterrepräsentiert sind. Dieses Anliegen durchzieht auch das «Handbuch Neue Schweiz».

Inhalt

Eine «Standortbestimmung» ist das «Handbuch Neue Schweiz» laut Klappentext, also ein Versuch, aktuelle Debatten zur Schweiz abzubilden und dabei zugleich die existierende Vielstimmigkeit und Perspektivenvielfalt sichtbar zu machen und in Verbindung miteinander zu bringen. Die sechsköpfige Redaktion ist angetreten, mit dem Band sichtbar zu machen, dass die Schweizer Gesellschaft «längst eine postmigrantische und postkoloniale ist, dies aber viel zu wenig anerkennt» (S. 10). Denn inzwischen hat sich auch in der Schweiz mit den Worten des Historikers Massimo Perinelli, die «postmigrantische Multitude – die Gesellschaft der Vielen (…) unwiderruflich etabliert» (S. 110).

Der Sammelband stellt progressive, emanzipatorische Ansätze und Initiativen vor und verbindet dabei historischen Rückblick mit Gegenwartsanalyse und Erarbeitung von Zukunftsvisionen. Dabei vertritt der Band eine «pragmatisch-realistische Haltung»: «Migration und die damit verbundene Pluralisierung sind weder gut noch schlecht» (S. 15). Es ist schlicht eine Tatsache, dass die Schweiz durch Migration und Globalisierung geprägt ist. Mehrfachzugehörigkeiten und transnationale Lebenswelten sind gelebter Alltag (S. 14).

Das «Handbuch Neue Schweiz» schildert Einwanderung als eine Geschichte von Kämpfen um Rechte nach Teilhabe, die wiederum «die Normalität von Diversität und eine neue Qualität von Gesellschaft, die von Vielheiten geprägt» (S. 110) ist, hervorbrachte – bei einer gleichzeitigen Kontinuität kolonialer Muster, rassistischer Strukturen und rechter Gewalt. Es geht somit um «strukturelle Probleme, eine systematische Ungleichheit in der Gesellschaft» zwischen der Dominanzgesellschaft und denen, die zu «Anderen» gemacht werden (S. 84), oder, wie es die Dozentin für Soziokultur Rahel El-Maawi nennt, um einen «Beitrag zu einer intersektionalen Gerechtigkeitspolitik» (S. 84).

Die Redaktion geht dabei formal wie gestalterisch neue Wege und versammelt ganz verschiedene Stimmen von Forscherinnen, Künstlern und Aktivistinnen. Das Ergebnis ist eine 382 Seiten dicke Collage aus Analysen, Briefen, Gesprächen, Gedichten, Bildern und Geschichten. Was diese Fülle an biographischen, literarischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Perspektiven in deutscher, französischer und englischer Sprache zusammenhält, ist letztlich die Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben (wollen).

So stellt etwa Kijan Espahangizi in einem Beitrag das Konzept «Deep Diversity» vor (S. 231–237) – zugleich ein Manifest für ein neues Verständnis von Vielfalt in der gegenwärtigen Gesellschaft und damit von Demokratie. Der Historiker plädiert für eine Verschiebung von Themen wie kultureller Vielfalt und Identität hin zu Fragen von Zugängen zu Ressourcen und sozialen Rechten: «Wie kann die Schweizer Gesellschaft im Zeitalter von Migration und Globalisierung ihrem Anspruch auf demokratische Teilhabe, Freiheit und soziale Gerechtigkeit gerecht werden? Wer gehört dazu und wer nicht? In welchem Verhältnis sollen republikanischer Gleichheitsanspruch und faktische Differenz in unserem Gesellschaftsbild stehen?» (S. 234).

Andere Autor*innen werfen einen Blick zurück in die Geschichte, um historische Initiativen und Erfahrungen sichtbarer und für gegenwärtige Debatten fruchtbar zu machen. So zeichnet etwa die Sozialwissenschaftlerin Bafta Sarbo Kontinuitäten Schwarzer antikolonialer Kämpfe und der Organisierung Schwarzer Menschen in Europa im 20. und 21. Jahrhundert bis heute nach und beschreibt dabei zentrale Momente, Diskussionsthemen und politische Forderungen (S. 192–198).

Kijan Espahangizi beleuchtet in einem weiteren Beitrag die Geschichte der Mitenand-Bewegung, die erste breit abgestützte aktivistische Bewegung in der Schweiz, die sich für eine integrationspolitische Öffnung und Demokratisierung der «Ausländerpolitik», für eine offenere Migrationspolitik und gegen Rassismus und Diskriminierung einsetzte (S. 51–63). Der Historiker lenkt damit den Blick auf zivilgesellschaftliche Akteurinnen, die eine zentrale Rolle bei den Kämpfen gegen Ausgrenzung und dem Engagement für die Rechte von Ausländer*innen spielen.

Andere Beiträge verbinden das Politische stärker mit dem Persönlichen. So macht etwa die Historikerin Paola De Martin in einem Offenen Brief an Bundesrätin Sommaruga auf die Situation von Kindern der sogenannten Saisonniers und damit auf ihre Familienbiographie aufmerksam. Mit dem Status als Saisonnier verbunden war das Verbot, die Kinder in die Schweiz zu holen. Dies führte dazu, dass Zehntausende entweder von ihren Eltern getrennt im Herkunftsland aufwuchsen oder aber illegalisiert und versteckt in der Schweiz. Im Offenen Brief und in einer Reflexion der bundesrätlichen Antwort verweist De Martin auf die gesellschaftliche und politische Struktur hinter der individuellen traumatischen Erfahrung und zeichnet den Stand der Aufarbeitung nach, die erst in den Anfängen steckt (S. 27–38).

DerSozialanthropologe und «künstlerische Forscher» Rohit Jain denkt anhand seiner Freundschaft mit dem Künstler Said Adrus über die Verknüpfung von transnationalen, postkolonialen Biographien mit Politik und antirassistischem Aktivismus nach und macht die emanzipatorischen, ermächtigenden Aspekte von Kunst und Kulturarbeit anschaulich (S. 64–69).

In Gesprächsform werden mögliche Strategien und widerständige Praktiken ausgelotet. So debattieren in einem zweiteiligen «Werkstattgespräch» die soziokulturelle Animateurin Rahel El Maawi, der Sozialanthropologen Rohit Jain, der Jurist Tarek Naguib und die Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach über «Allianzen, Identitätspolitik und Intersektionalität» (S. 79–90 und S. 303–313). Die Beteiligten beschreiben ihre persönlichen Erfahrungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln und erörtern dabei Wege, wie sich antirassistische Bündnisse, solidarische Öffentlichkeiten und letztlich eine gesellschaftliche Transformation organisieren lassen.

Die Anwältin Fanny de Weck und der Jurist Tarek Naguib diskutieren ebenfalls im Gespräch Möglichkeiten, die rechtliche Mittel bieten können, um politische Verhältnisse zu ändern und Widerstand gegen Diskriminierung zu mobilisieren (S. 251–266).

Andere Beiträge dokumentieren Interventionen, wie die Reden des Schwarzfeministischen Kollektivs von den Black-Lives-Matter-Demonstrationen im Sommer 2020 (S. 200–203) oder die des afro-queerfeministischen Netzwerks Bla*Sh zum feministischen Streik 2019 (S. 203).

Neben Analysen, Texten und Geschichten runden visuelle, satirische und poetische Beiträge sowie ein Glossar wichtiger Konzepte und Begriffe das facettenreiche Handbuch ab.

Diskussion

Das umfangreiche «Handbuch Neue Schweiz» will eine «Einladung zu zivilgesellschaftlicher Teilhabe und Debatte» sein und «Rüstzeug und Ansätze liefern, damit wir uns trauen, im Alltag mehr in emanzipatorische, postmigrantische Beziehungen zu investieren» (Einleitung, S. 11). Es will ein «Gesprächsangebot für eine gemeinsame Zukunft» darstellen (S. 15). Das gelingt überraschend gut. Wirkt das Buch auf den ersten Blick schwer greifbar und in seiner ungewohnten Gestaltung vielleicht unübersichtlich und überfordernd, bietet es auf den zweiten Blick hoch spannende und anregende Analysen, Berichte und Visionen zur Gegenwart der Schweiz und Europas, die sich überzeugend zu einem dialogischen Ganzen fügen.

Die Frage danach, wer wie repräsentiert ist und wer keinen Zugang erhält, zielt dabei mitten ins Thema des Sammelbandes. Es kommen darin im Sinne einer «Vervielfältigung der Stimmen» Sichtweisen zu Wort, die in der Dominanzgesellschaft nicht oft gehört werden. Offen bleibt, ob es dabei gelingt, dabei aus den «avantgardistischen, hybriden Räumen» an den Rändern der Gesellschaft (S. 83) herauszutreten, in denen diese Fragen schon lange debattiert und bearbeitet werden, aber eben auch Gefahr drohen, stecken zu bleiben und ignoriert zu werden.

Der Gefahr einer Vereinheitlichung entgeht die Redaktion, indem verschiedene Konstellationen von Ausschlüssen und Zugängen unterschiedlicher gesellschaftlichen Gruppen und Positionierungen sichtbar gemacht werden. Schliesslich geht es der Redaktion nicht darum, eine neue dominierende einheitliche Erzählung zu etablieren, sondern vielmehr darum, einen «Imaginations- und Gesprächsraum» (S. 19) zu eröffnen, in dem existierende Widersprüchlichkeiten, Mehrdeutigkeiten und Vielstimmigkeiten erhalten bleiben, um so «neue politische Identitäten, utopische Visionen und antirassistische Praxen zu entwickeln» (S. 83). Die Redaktion trägt dafür einiges zusammen: Kolumnen, Kommentare, Briefe, Gespräche, Gedichte, Essays, Berichte, Spoken-Word-Texte, Zeichnungen, Fotografien, Collagen, Instagram-Posts, Konzepte, Definitionen, Reden, politische Stellungnahmen, Vorträge.

Bedauerlich ist, dass die Bildbeiträge nicht erläutert werden, sondern weitgehend für sich stehen gelassen wurden. Es wäre spannend gewesen, mehr zu den Hintergründen zu erfahren, etwa zur Arbeit Denise Bertschi, die Fotografien aus Helvécia zeigt, einer Dorfgemeinschaft der Nachkommen von Sklaven und Sklavinnen bei einer ehemaligen Schweizer Kaffeeplantage in Brasilien (S. 149–158). Vermutlich hätte mehr Kontext jedoch den Rahmen des ohnehin umfangreichen Bandes gesprengt.

Der Band ist tatsächlich ein Handbuch im besten Sinne: Er bietet zwar keine einfachen Lösungen oder Handlungsanleitungen, lässt sich aber immer zur Hand zu nehmen, um in aktuellen Debatten Inspiration und Klarheit zu finden. Die Beiträge bilden eine Fundgrube an Anregungen, die Mut und Lust machen, nachzudenken und ins Handeln zu kommen, zu intervenieren und neue Denk- und Handlungsspielräume zu erstreiten.

Fazit

Das «Handbuch Neue Schweiz» verbindet das Thema Migration mit den grossen Fragen der Gegenwart und zur Zukunft unserer Gesellschaft. Das macht den Band unbedingt lesenswert auch über die Schweiz hinaus. Ein Must-Read für alle, die sich für Fragen rund um Demokratie, Teilhabe, Antidiskriminierung, Postkolonialismus und Antirassismus interessieren.

Rezension von
Dr. Susanne Bachmann
Wissenschaftliche Mitarbeiterin Hochschulzentrum Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit
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Es gibt 2 Rezensionen von Susanne Bachmann.

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Zitiervorschlag
Susanne Bachmann. Rezension vom 23.03.2022 zu: INES Institut Neue Schweiz: Handbuch Neue Schweiz. Diaphanes (Zürich) 2021. ISBN 978-3-0358-0403-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29020.php, Datum des Zugriffs 05.06.2023.


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