Maximilian Schell: Wegbereitung der Versöhnung
Rezensiert von Prof. Dr. Josef Freise, 22.03.2022

Maximilian Schell: Wegbereitung der Versöhnung. Öffentliche Theologie im Kontext gesellschaftlicher Versöhnungsprozesse.
Evangelische Verlagsanstalt
(Leipzig) 2021.
320 Seiten.
ISBN 978-3-374-06944-6.
D: 48,00 EUR,
A: 49,40 EUR.
Reihe: Öffentliche Theologie (ÖTh) - 41.
Thema
Maximilian Schell legt auf 317 Seiten seine theologische Dissertation mit sozialwissenschaftlichen interdisziplinären Bezügen zum Thema „Wegbereitung der Versöhnung. Öffentliche Theologie im Kontext gesellschaftlicher Versöhnungsprozesse“ vor. Am Beispiel von Ruanda diskutiert er, inwieweit gesellschaftliche Prozesse der Versöhnung zusammen gehen mit einem kirchlichen und theologischen Versöhnungsansatz.
Der Autor stellt in einem umfassenden Theorierahmen Versöhnung als Paradigma der Humanwissenschaften vor und schließt Grundüberlegungen zu einem theologisch-ethischen Versöhnungsbegriff an. Die Unterscheidung zwischen einem sozialwissenschaftlichen Versöhnungsbegriff und einem geistlich-theologischen Versöhnungsbegriff durchzieht das ganze Buch. Der Autor fragt, ob der geistlich – theologische Versöhnungsansatz für eine gesellschaftliche Versöhnungsarbeit produktiv werden kann.
Nach einer ausführlichen 200 Seiten langen theoretischen Bearbeitung dieser Fragestellung konkretisiert Maximilian Schell seine Überlegungen anhand des Fallbeispiels Ruanda.
Nach dem ruandischen Genozid an den Tutsi im Jahr 1994 mit über einer halben Million ermordeter Menschen hatte die ruandische Regierung unter dem Präsidenten Paul Kagame die Leitlinie „Einheit und Versöhnung“ („Unity and Reconciliation“) in vielen staatlichen Gesetzen und Maßnahmen implementiert. Schell fragt, wie sich christliche und staatliche Versöhnungsprozesse zueinander verhalten. In Ruanda sind über 90 % der Menschen Christinnen und Christen und die Kirche spielt hier eine wichtige Rolle. Sie hat sich beim Genozid schuldig gemacht, indem Kirchen zu grausamen Orten der Tötung wurden. Im staatlich geprägten Versöhnungsprozess ist sie jetzt ein zivilgesellschaftlicher Akteur, der die gesellschaftlichen Versöhnungsprozesse mit voranbringt.
Maximilian Schell schließt mit der offenen Frage, inwieweit die Erfahrungen des Zusammengehens von gesellschaftlicher Versöhnungsarbeit und kirchlicher Versöhnungsarbeit in Ruanda auch in Deutschland von Bedeutung sein könnten.
Aufbau und Inhalt
Bei der Unterscheidung eines humanwissenschaftlichen und eines geistlich-theologischen Versöhnungsbegriffs wählt der Autor die Begrifflichkeit einer horizontalen und einer vertikalen Versöhnung oder auch die auf Dietrich Bonhoeffer zurückgehende Begrifflichkeit einer vorletzten und einer letzten Versöhnung. Die horizontale, vorletzte, also humanwissenschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung von Versöhnung sieht Schell in Anknüpfung an Martin Leiner als „Wiederherstellung von normalen, und falls möglich, guten Beziehungen nach gewalttätigen Auseinandersetzungen“ (71). Versöhnung darf Menschen nicht aufoktroyiert werden. Sie kann immer nur ein Angebot sein. Ein Mensch kann sich auch nicht selber zwingen, sich mit anderen zu versöhnen. Er muss zuerst diese Möglichkeit der Versöhnung in sich spüren.
Der theologische Versöhnungsbegriff ist christlich an die Person Jesu geknüpft. Im Anschluss an Paulus ist Versöhnung ein Geschenk Gottes an die Menschen („Lasst euch versöhnen mit Gott“, 2 Kor 5, 20). Das Leben, Sterben und die Auferstehung Jesu werden als Zeichen der Versöhnung Gottes mit den Menschen gedeutet. Gott, der in Jesus lebendig ist, hat sich im Leben und Sterben Jesu mit den Leidenden solidarisiert und den Tätern vergeben („Denn sie wissen nicht, was sie tun“). „Die Versöhnung ist für alle Menschen bereits verwirklicht und muss erschlossen und erkannt werden“ (66).
Neben dieser grundlegenden Unterscheidung zwischen einem sozialwissenschaftlichen und einem theologischen Versöhnungsbegriff unterscheidet Schell weiterhin eine intrapsychische, eine interpersonelle Versöhnung und einen Intergruppen-Level von Versöhnung. Zu differenzieren sind auch unterschiedliche Tiefengrade der Versöhnung, die von friedlicher Koexistenz über die gegenseitige Anerkennung gemeinsamer Werte bis hin zur tiefsten Dimension der Versöhnung, der Vergebung, gehen können (72). Bei gesellschaftlichen Versöhnungsprozessen werden top down-Ansätze und bottom up-Ansätze unterschieden.
Bei unterschiedlichen humanwissenschaftlichen Konzepten der Versöhnung geht es um soziale Wiederherstellung gegen Exklusion und gegen gewaltsame Assimilation; Vielfalt soll anerkannt werden. In Transitional Justice-Ansätzen wird der Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen vorangebracht. Die Rehabilitation der Täter kann durch Strafprozesse und materielle Wiedergutmachung erfolgen (80). Aufklärung durch Wahrheitskommissionen, Wiedergutmachung für die Opfer oder die Entlassung belasteter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Staatsdienst sind weitere Maßnahmen einer Versöhnungsarbeit (198).
Der vertikale theologische Versöhnungsbegriff sieht Gottes Treue zum Menschen als unbegrenzt. Gottes Vergebung ist bedingungslos. Weder Täterinnen und Täter, noch Opfer verlieren jemals ihre Würde (120). Die Vergebung für die Täterin und den Täter ist keineswegs ein Freifahrtschein für unrechtes Handeln. Die Vergebung ist konsequenzenreich. Maximilian Schell zitiert Thorsten Moos mit dem Hinweis, dass Vergebung keineswegs das Reden von Unrecht beendet. „Im Gegenteil: Sie ermöglicht der Person einen neuen Anfang und damit auch eine klare Anerkenntnis und die Verurteilung der Taten selbst“ (Moos in Schell 123). In gewisser Weise ist die Vergebung der Schlüssel für die Möglichkeit der Anerkennung begangenen Unrechts. Ohne die Chance, nach schlimmsten Taten wieder aufrecht gehen zu können, bliebe sonst wohl nur die Verdrängung der Unrechtstaten. Opfer hören die Zusage Gottes anders. Für sie kann der Anruf Gottes eine Befreiung aus zerstörerischen Lebens- und Kommunikationszusammenhängen bedeuten. Sie können Traumatisierung überwinden. Ihre produktiven Kräfte werden freigesetzt. Sie müssen nicht weiter Opfer sein und im Hass eingesperrt verharren.
Die Annahme des Versöhnungsangebots Gottes ist immer freiwillig. Versöhnung kann nie gemacht oder gar gesetzlich verlangt werden. Es kann nur der Weg zur Versöhnung bereitet werden – deshalb lautet der Titel der Dissertation „Wegbereitung der Versöhnung“. Im christlichen Kontext können Gebet, Meditation und gemeinsamer Gottesdienst als Formen der Wegbereitung verstanden werden. Die Ablehnung von Versöhnung durch das Opfer kann auch als Wegbereitung gesehen werden. Die Möglichkeit des Opfers, Versöhnung abzulehnen, ist Ausdruck seiner Würde und Autonomie. Indem dem Opfer dies zugestanden wird, können Kraft und Autonomie für eine erste Begegnung mit dem Täter gestärkt werden (133). Und selbst wenn Versöhnung zu Lebzeiten nicht mehr erfolgt, kann Versöhnung im Inneren des Menschen später geschehen. Der Prozess der Versöhnung ist nicht planbar (135).
Mit Verweis auf den Social Identity Approach von Henry Tajfel geht der Verfasser davon aus, dass auch Kollektiven eine eigene wirksame Identität zugesprochen werden kann. Theologisch wird auf Dietrich Bonhoeffer Bezug genommen, der davon sprach, dass auch eine Kollektivperson Schuld auf sich laden kann. Einzelne aus dem Kollektiv können Verantwortung übernehmen und nach Bonhoeffer stellvertretend für das Kollektiv Schuld bekennen und um Vergebung bieten. Hier ließe sich als Beispiel Willy Brandts Kniefall in Warschau 1970 vor dem Grabmal des unbekannten Soldaten anführen. Stellvertretende Schuldübernahme kann nur freiwillig geschehen. Der Autor zitiert dazu Gunter Prüller-Jagenteufel in dessen Bonhoeffer-Rezeption: „Stellvertretung steht und fällt mit der Freiwilligkeit: Indem ein einzelner oder eine Gruppe repräsentativ die Verantwortung für kollektive Schuld übernehmen und Buße tun, dokumentieren sie dabei sowohl nach außen als auch nach innen die Anerkennung des Faktums der Schuld und die Bereitschaft zur Umkehr“ (193).
Nach der umfassenden Darlegung des Theorie-Tableaus thematisiert Maximilian Schell die Versöhnungspolitik Ruandas nach dem Genozid im Jahr 1994 und erläutert zuerst geschichtliche Hintergründe. Vor der Kolonialzeit gab es Clanstrukturen mit drei Bevölkerungsgruppen, den Hutu, Tutsi und Twa. Die europäischen Kolonialherren nutzten für ihre Politik die Rassenlehre. Sie werteten die kleine Schicht der privilegierten Tutsis auf, indem sie mit der Rassenlehre nachzuweisen glaubten, dass die Tutsis den Hutus überlegen seien, was sich angeblich auch an ihrer Physionomie mit langen Nasen und hochgewachsenen Körpern zeige. Die Europäer wollten nur mit diesen Tutsis verwaltungsmäßig zusammenarbeiten, während die Hutus in der Landwirtschaft „hinter den Kühen herlaufen“ sollten (vgl. die Rezension zum Buch von Angela Krumpen: Nur Versöhnung kann uns retten: https://www.socialnet.de/rezensionen/24719.php).
Nach dem 1. Weltkrieg wurde die ethnische Zugehörigkeit in den Pass eingetragen.
Nach dem 2. Weltkrieg und nach der Entkolonialisierung nahmen die (ehemaligen) Kolonialherren einen Koalitionswechsel vor und bevorzugten die Mehrheit der Hutus. Die sozialen Spannungen nahmen zu, viele Tutsi flohen in die Nachbarländer. Als in den 1990er Jahren die prekäre Situation mit einer Massenverelendung einher ging und der Hutu-Präsident Habyarimana den Tutsi im Exil kein Rückkehrrecht einräumte, bildete sich die Ruandan Patriotic Front (RPF) gegen die Hutu-Regierung. Angesichts dieses Widerstands fiel die Entscheidung zur Durchführung des Genozids an den Tutsi, die als purer Wille zum Machterhalt der Elite anzusehen sei (224).
Nach dem Ende des Genozids übernahm die RPF als monolithisch herrschende Partei die Führung in Ruanda. Deren Regierungspolitik zielt auf eine friedliche Koexistenz aller ethnischen Gruppen und auf ein „never again“. Die ethnischen Konstruktionen werden als Wurzel des Konflikts und des Genozids gesehen und sollen mit dem Modell einer einfachen Rekategorisierung überwunden werden (229). Wir sind alle Ruanderinnen und Ruander, wurde die Devise. Mit einer umfassenden gesellschaftlichen Versöhnungspolitik wurden in den Dörfern und Städten durch Laienrichter in Anwesenheit der jeweiligen Dorf- und Stadtgemeinschaft Gerichtsverfahren durchgeführt (231). Die Relativierung des Genozids steht unter Strafe (236). Der Autor referiert die Kritik an der Versöhnungspolitik des Staates Ruanda und seines Präsidenten Paul Kagame. Die Gerichte vor Ort in den Dörfern hätten viele Schwachpunkte gehabt, wie beispielsweise die fehlende Ausbildung der Laienrichter und die fehlende Neutralität der Justiz. Staatlicherseits würde die Diskussion über die Gewalttaten der RPF, in der der Präsident Kagame leitend aktiv war, unterbunden. Schell sieht die Gefahr, dass eine Versöhnungspolitik zu Ideologie werden kann, wenn sie letztlich nur dem Machterhalt der Regierung dient. Aber er relativiert diese Kritik und sieht eine vorsichtige Öffnung in Bezug auf Wissenschaft und Kirchen, wo die kritischen Punkte zunehmend diskutiert werden können (241).
Schell erläutert die Rolle der Kirche als Ort der Versöhnung am Beispiel der Presbyterianergemeinde Remera-Rukoma. Dort haben sich Gruppen gebildet von ehemals verfeindeten Menschen, die sich gegenseitig vergeben haben. Es wurde eine Gedenkstätte eingerichtet, die die Erinnerung wach hält. Ein Opfer berichtete, wie Vergebung möglich wurde, weil der Täter seine Schuld eingestand, um Vergebung bat und den Hinterbliebenen den Ort zeigte, wo der Mord passiert war (289). Schell hebt hervor, wie hier die vertikale Dimension der Vergebung die horizontale Versöhnung im Gemeinwesen ermöglichte: „Ohne die Dimension des Glaubens, ohne das versöhnende Wort Gottes an seine Geschöpfe wäre es für niemanden der Beteiligten möglich gewesen, sich auf dem Weg der Vergebung und des neuen gemeinsamen Lebens einzulassen“ (287 f).
Diskussion
Der Autor hat eine komplexe, anspruchsvolle und hochdifferenzierte theologische Dissertation im interdisziplinären Austausch mit den Sozialwissenschaften vorgelegt. Er erläutert, wie das christliche Verständnis von Versöhnung einem gesellschaftlichen Auftrag der Versöhnung zuarbeiten kann und wie dies in Ruanda allem Anschein nach zu einem positiven Neubeginn des Miteinanders von Tätern und Opfern im Gemeinwesen geführt hat. Die Frage, inwieweit dieses afrikanische Versöhnungsmodell auch auf zunehmende Spaltungen z.B. in Deutschland übertragbar sei, bleibt offen.
Hier könnte auf Initiativen wie die Ausbildung von Friedensbotinnen und Friedensboten seitens der Christlich-Muslimischen Friedensinitiative Deutschland verwiesen werden: Wenn Anschläge auf Moscheen verübt werden, gehen christliche Friedensbotinnen und Friedensboten zur betroffenen muslimischen Gemeinde und entschuldigen sich für die Muslimfeindlichkeit in der Mehrheitsgesellschaft. Wenn terroristische Anschläge muslimischer Extremisten geschehen, entschuldigen sich Muslime für ihre extremistischen Mitbrüder, die die Religion missbrauchen.
Ein Austausch mit israelisch-palästinensischen Versöhnungsinitiativen erscheint wertvoll: Der inzwischen verstorbene israelische Sozalpsychologe Dan Bar-On hat mit dem palästinensischen Erziehungwissenschaftler Sami Adwan gesellschaftliche Begegnungen mit Versöhnungscharakter („Compassionate Listening“) gestartet; die theologische Dimension der Vergebung wäre hier ein neuer zusätzlicher Aspekt.
Maximilian Schell betont die Bedeutung des christlichen Transzendenzbezugs, der wesentlich die gesellschaftlichen Versöhnungsprozesse in Ruanda belebt hat. In weitergehenden Forschungen wäre zu prüfen, inwieweit auch andere Religionen ähnliche Potenziale besitzen wie beispielsweise der Islam, der Allah als den All-Erbarmer sieht. Der Münsteraner Islamtheologe Mouhanad Khorchide verweist darauf, dass der Islam vergleichbar dem christlichen Gottesverständnis von der grenzenlosen Liebe und Barmherzigkeit Gottes ausgeht.
Schell ist in der protestantischen Theologie beheimatet. Die katholische Theologie und Praxis könnte auf die Beichte verweisen, auch wenn diese u.a. in Deutschland an Bedeutung verloren hat. Stellvertretend für die Gemeinschaft der Kirche spricht ein Priester (und in Zukunft hoffentlich auch eine Priesterin) einer schuldig gewordenen Person die Vergebung Gottes zu.
Herausfordernd wird die Frage, ob und wie in einem nichtreligiösen Kontext die Tiefendimension der Vergebung und einer umfassenden Versöhnung mit sich selber und mit dem Täter bzw. der Täterin zu sehen ist. Hier könnte die Logotherapie von Viktor E. Frankl weiterhelfen, der in seiner Dissertation „Der unbewusste Gott“ jenseits religiöser Bezüge von der Bedeutung der Selbsttranszendenz spricht. Frankl geht davon aus, dass Menschen auch ohne religiösen Bezug das Leben als Geschenk sehen können, Traumatisierung durch Selbsttranszendenz überwinden und ihr Leben als Hingabe an die Liebe deuten und verwirklichen können.
Fazit
Der Autor hat eine wegweisende Dissertation vorgelegt. Er ist sie sehr selbstreflexiv angegangen, indem er seine Rolle als weißer Mann in der Beurteilung und Bewertung von Vorgängen im afrikanischen Land Ruanda überdenkt. Konsequent nutzt er zudem eine gendergerechte Sprache, um Ausgrenzung auch sprachlich zu überwinden. Was ihm verständlicherweise in einer Dissertation nicht gelingen konnte, ist das Schreiben einer Arbeit für ein breites Publikum. Wer inbesondere die theologisch-wissenschaftlichen Fachtermini nicht kennt, wird sich mit dem Lesen des Buches schwer tun. Zu wünschen ist dieser wichtigen Dissertation, dass ihre Inhalte interessierten Menschen durch weitere auch populärwissenschaftliche Artikel in einer leichter verständlichen Sprache zugänglich gemacht werden.
Rezension von
Prof. Dr. Josef Freise
pensionierter Professor im Fachbereich Sozialwesen der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln
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