Christian Reutlinger, Benedikt Sturzenhecker (Hrsg.): Den Sozialraumansatz weiterdenken
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Schröder, 07.03.2022
Christian Reutlinger, Benedikt Sturzenhecker (Hrsg.): Den Sozialraumansatz weiterdenken. Impulse von Ulrich Deinet für Theorie und Praxis der Sozialpädagogik im Diskurs. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 340 Seiten. ISBN 978-3-7799-6420-9. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR.
Thema
Der Band soll (k)ein Jubiläumsband zum 65. Geburtstag von Ulrich Deinet sein. Gemeint ist, dass sich die Beiträge im Sammelband einerseits inhaltlich auf den Sozialraumansatz und die Aneignungstheorie Deinets beziehen und andererseits in einer kritischen Würdigung der Methoden und theoretischen Bezüge diese auch weiterentwickeln und auf andere Handlungsfelder als das der Kinder- und Jugendarbeit übertragen. Entsprechend verfolgt der Band das Ziel, mit Beiträgen von Weggefährten Deinets, Impulse für den weiteren Diskurs zur sozialraumbezogenen Aneignungstheorie und zum aneignungstheoretischen Sozialraumansatz zu liefern.
Aufbau und Inhalt
Die ‚Deinetsche Denklinie‘ wird in der Einleitung des Bandes von Christian Reutlinger und Benedikt Sturzenhecker kurz eingeführt und der inhaltliche Aufbau des Buches wird vorgestellt. Den Auftakt machen theoretisch-konzeptionelle Perspektiven auf Aneignung und Sozialraum (Teil I), die dann durch methodische orientierte Beiträge (Teil II) und entlang verschiedener Handlungsfelder (Teil III) mit Blick auf die Praxis diskutiert und weiter gedacht werden. Abschließend kommen Protagonist*innen zu Wort, die auf die historische Entwicklung und Bedeutung des Deinet’schen Aneignungs- und Sozialraumansatzes (Teil IV) mit teils (wissenschafts-)biografischen Bezügen zurückblicken.
In Teil 1 wird von Christian Reutlinger, Michael May, Benedikt Sturzenhecker, Michael Winkler, Fabian Kessl und Martina Richter der sozialräumliche und aneignungstheoretische Ansatz erläutert, die Welt aus den Augen von Kindern zu betrachten. Der Begriff der ‚Aneignung‘ wird mit den Arbeiten von Alexei Nikolajewitsch Leontjew und Klaus Holzkamp verbunden und allgemein definiert als tätige Auseinandersetzung von Menschen mit Ihrer Umwelt. Der Begriff geht also über eine Ein- und Unterordnung in eine existierende Weltordnung hinaus, indem er auch die tätige Mitgestaltung (sich die Welt zu eigen machen) mitdenkt. Für Fachkräfte (insbesondere) in der offenen Kinder- und Jugendarbeit leiten sich daraus reflexive Fragen und Denkanstöße ab, wie Räume als materialisierte Form vergangener Aneignungsprozesse wieder für Aneignungsmöglichkeiten aufgeschlossen werden können. Und wie vermieden werden kann, dass sozialpädagogisches Handeln von Fachkräften unbewusst räumliche Settings kreiert, die es nur ganz bestimmten Gruppen erlauben, sich diese anzueignen. Auf die pädagogische Praxis übertragen bedeutet dies, mit Kindern und Jugendlichen Räume im Lebensumfeld zur Aneignung im Sinne einer sozialpädagogischen Praxisforschung zu erschließen, damit Kinder und Jugendliche sich als handlungsmächtig erleben und sich zudem in kommunale Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse einbringen können.
In Teil 2 werden die Ansätze methodisch weiterentwickelt, indem sie beispielsweise mittels ‚sozialpädagogischer Nutzerforschung‘ aufdecken, „wie gesellschaftliche und sozialstaatliche Rahmungen, strukturelle Bedingungen oder inwiefern Ideologien die (Nicht-)Nutzung von Orten strukturieren“ (S. 126, Anne von Rießen). Als empirische Grundlage für solche Reflexionen von Angeboten der Sozialen Arbeit aus Perspektive der Nutzer*innen werden die ‚gängigsten‘ Methoden, wie z.B. die Nadelmethode, einer kritischen Würdigung in der praktischen Anwendbarkeit unterzogen (Christina Muscutt) oder mit Bezug auf die Gruppe ältere Menschen weiterentwickelt (Reinhold Knopp). Auch die Anschlussfähigkeit des Sozialraumansatzes wird vor dem Hintergrund der jeweiligen Berufsbilder diskutiert (Florian Baier).
In Teil 3 werden Impulse von Ulrich Deinets sozialräumlichen und aneignungstheoretischen Ansätzen für Handlungsfelder, die Sportwissenschaft (Ahmet Derecik), der Kooperationsraum zwischen Schule und Jugendarbeit (Maria Icking) und die Bildungslandschaften (Heike Gumz) aufgemacht. Zudem wird die Frage, wo Jugend stattfindet, durch den Ort Shopping Mall (Ellen Bareis) und die Perspektive auf ländliche Räume (Joachim Faulde) im Sinne Deinets erweitert. Auch die Frage danach, wie alt man sein darf, um (noch) Jugendarbeit machen zu ‚dürfen‘ (S. 234), wird mit Bezug auf Deinets Perspektiven auf das Handlungsfeld der offenen Kinder- und Jugendarbeit als Aufgabe der Organisations- und Personalentwicklungsaufgabe diskutiert und neu bewertet (Katja Müller). In diesen Beiträgen zeigt sich erneut, wie die (methodisch angeleitete) empirische Suche zwischen Fachkräften und Adressat*innen nach Orten für Aneignungs- und Bildungsprozesse im pädagogischen Handeln, notwendigerweise zu einer Neuausrichtung der pädagogischen Praxis in diesen Feldern führt.
In Teil 4 werden wissenschaftsbiografische Bezüge zur Genese sozialräumlicher Jugendarbeit (Richard Münchmeier), zum Aufbau des Online-Journals sozialraum.de (Christian Spatschek), zur Reflexion von Architektur am Beispiel der ‚Wohnmaschine‘ von Le Corbusier (Karl-Heinz Braun unter Mitarbeit von Matthias Elze), zur Entwicklung eines sozialräumlichen Blicks in und auf Wien (Richard Krisch) sowie zur kommunalen Jugendförderung (Christoph Gilles) und zu Forschungsprojekten Ulrich Deinets mit Bezug auf Nordrheinwestfalen (Jürgen Schattmann und Reinhold Knopp) aufgemacht. In den Beiträgen werden gerade die professionsbezogenen Aspekte deutlich gemacht, die für den sozialräumlichen und aneignungstheoretischen Ansatz Ulrich Deinets zentral sind, weil sie gelingende Subjektwerdung nicht nur im Kontext, sondern auch bei der Aneignung sozialräumlicher Strukturen in den Blick nehmen.
Diskussion
Den Autor*innen ist es sehr gut gelungen, das Konzept zwischen Würdigung der praktischen und wissenschaftlichen Arbeit Ulrich Deinets und der Weiterentwicklung in Theorie und der praktischen Anwendung des Aneignungs- und Sozialraumansatzes umzusetzen. Meist verknüpfen die Autor*innen in kurzen Anekdoten die biografischen Wegekreuzungen mit Ulrich Deinet mit der (Weiter-)Entwicklung eigener Ansätze.
Bei der Lektüre des gesamten Bandes werden zwar Redundanzen sichtbar, da die einzelnen Beiträge immer wieder ähnliche Bezüge zu Aneignungs- und Sozialraumtheorie aufmachen, allerdings werden gerade dabei Nuancen in der unterschiedlichen Deutung der Ansätze erkennbar (die Autor*innen eigenen sich die Ideen Ulrich Deinets auf ihre Art an). Zudem kann so auch jeder einzelne Beitrag für sich gelesen werden. Auf diese Weise bietet der Band eine Einladung, sich an einem reichhaltigen Buffet von diskursiven Zugängen und praktischen Überlegen bedienen zu können, die dazu einladen, mit eigenen Überlegungen anzuschließen und praktische Projekte darauf aufbauend zu konzeptionieren. Insgesamt zeigt sich jedoch, dass der rund um Ulrich Deinet eröffnete Diskursraum seine Potenziale noch lange nicht ausgeschöpft hat. Insofern ließt sich der Band auch als Auftakt, diskursiv an die Überlegungen anschließen, selbst kreativ zu werden und den Sozialraumansatz weiterzudenken.
Fazit
Der Band ist gleichermaßen für Praktiker*innen wie auch für Wissenschaftler*innen eine Bereicherung. Er bündelt die Kernaussagen des Lebenswerks Ulrich Deinets und würdigt ihn in einer Weise, die zugleich einen spannenden Beitrag zur Weiterentwicklung des Konzepts, der Methode und auch bezüglich des Transfers auf weitere Handlungsfelder liefert. Mit dem Band wird sehr deutlich, dass der Sozialraum- und Aneignungsansatz den wissenschaftlichen und auch praktischen Diskurs noch lange Zeit bereichern kann.
Rezension von
Prof. Dr. Christian Schröder
Professor für Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, Fakultät für Sozialwissenschaften
Website
Mailformular
Es gibt 23 Rezensionen von Christian Schröder.
Zitiervorschlag
Christian Schröder. Rezension vom 07.03.2022 zu:
Christian Reutlinger, Benedikt Sturzenhecker (Hrsg.): Den Sozialraumansatz weiterdenken. Impulse von Ulrich Deinet für Theorie und Praxis der Sozialpädagogik im Diskurs. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2021.
ISBN 978-3-7799-6420-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29024.php, Datum des Zugriffs 06.11.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.