Mustafa Kösebay, Stefan Kirn u.a. (Hrsg.): Smartes Stadtmobiliar für mehr Teilhabe im Alter
Rezensiert von Carolin Herrmann, 18.02.2022

Mustafa Kösebay, Stefan Kirn, Susanne Wallrafen, Jörg Leukel, Fabian Gierl (Hrsg.): Stadt der Zukunft - Smartes Stadtmobiliar für mehr Teilhabe im Alter. medhochzwei Verlag GmbH (Heidelberg) 2021. 200 Seiten. ISBN 978-3-86216-855-2. D: 69,99 EUR, A: 72,00 EUR.
Thema
Die Publikation handelt von Möglichkeiten und Chancen von smartem Stadtmobiliar im Quartier für alte Menschen mit Einschränkungen.
Autor*innen
Die Herausgeber*innengruppe setzt sich zusammen aus Mustafa Kösebay, Stefan Kirn, Susanne Wallrafen, Jörg Leukel und Fabian Gierl. Das Geleitwort kommt von Helmut Wallrafen, Geschäftsführer der Sozial-Holding der Stadt Mönchengladbach GmbH. Die Autoren*innen der verschiedenen Beiträge des Readers haben im Wesentlichen einen ingenieurs- und wirtschaftswissenschaftlichen Hintergrund.
Aufbau
Das Buch ist in sechs Abschnitte unterteilt.
- Im 1. Teil wird das Projekt UrbanLife+: Digitale Technologien für lebenswerte Stadtquartiere im demographischen Wandel vorgestellt.
- Im 2. und 3. Teil geht es um die Rahmenbedingungen und die Soll-Situation in Stadtteilen.
- Der 4. Teil hat die Ist-Situation zum Gegenstand, zunächst in Deutschland und dann speziell in Mönchengladbach. Kernstück dieses Teils ist die Befragung 65+ in Mönchengladbach.
- Im 5. Teil sind die Lösungen zusammengefasst, die im Rahmen des Projekts unter dem Stichwort „Safety durch smarte städtebauliche Lösungen“ erarbeitet wurden.
- Im 6. Teil wird ein Ausblick gegeben.
Inhalt
Das Projekt UrbanLife+ (https://www.urbanlifeplus.de/projekt/) wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung 2015 – 2020 gefördert. Partner im Projekt sind diverse Hochschulen, die Beratungsagentur Drees&Sommer SE, die Sozial-Holding Mönchengladbach sowie weitere städtische Gesellschaften. Mit der Förderung ging es einerseits um Mensch-Maschine-Techniken, die die Teilhabe alter Menschen im öffentlichen Raum unterstützen, und andererseits um die Erprobung von smarten interaktionsfähigen Stadtmobiliarobjekten.
Die bekannten Rahmenbedingungen wie Demographie, Digitalisierung, Mobilität, Urbanisierung und Wohnpreisentwicklung werden kurz skizziert. Im Zusammenhang mit dem „öffentlichen Raum“ wird die Herausforderung benannt, dass Zugang und Nützlichkeit auch für Menschen mit Einschränkungen gegeben sein muss. Dazu kann die Digitalisierung in der Stadtplanung mit diversen Tools beitragen, so die Hypothese.
Zur Soll-Situation geht Susanne Wallrafen, einzige Soziologin/Pädagogin in der Herausgeber*innengruppe, davon aus, dass wir alle anders altern und dass Planer*innen deshalb genau hinschauen müssen, wo die altersbedingten Einschränkungen liegen. Geht es z.B. um abnehmende Bein- und Armkraft oder abnehmendes Hörvermögen? Zur sozialen Teilhabe bezieht sie sich auf Untersuchungen, nach denen alte Menschen seltener und kürzer außerhalb der eigenen Wohnung unterwegs sind als jüngere. Davon leitet sie ab, dass das unmittelbare Wohnumfeld, also das Quartier bzw. das Dorf, mit zunehmendem Alter immer wichtiger für den Menschen wird. Unterstützungsbedarfe und -möglichkeiten zur Förderung von außerhäuslichen Aktivitäten werden unter folgenden Blickwinkeln erläutert: Hilfsmittel, Städtebau und Infrastruktur, unterstützende Technologien sowie personale Unterstützung. Den Abschluss von Teil 3 bildet der Artikel von Stefan Kirn und Mitarbeitern*innen der Universität Hohenheim, in dem der Frage nachgegangen wird, „wie sind städtebauliche Objekte zu smartifizieren, sodass sie die Safety älterer Menschen bei außerhäuslichen Aktivitäten erhöhen?“ Dabei heben die Wissenschaftler*innen folgende Funktionen hervor: Adaptivität, Annäherungserkennung und Informationsaustausch. Bzgl. des Datenschutzes benennen sie, wann Endgeräte keine personenbezogenen Daten verarbeiten und wann ein Nutzerprofil und sogar Daten zur individuellen Mobilitätseinschränkung notwendig sind.
Der 4. Teil beginnt damit ein differenziertes Bild alter Menschen, die unter mobilitätsrelevanten Erkrankungen leiden, zu zeichnen und die Nutzung bzw. Nicht-Nutzung digitaler Technologien gegenüberzustellen. Dabei räumen Jörg Leukel und Susanne Wallrafen ein, dass gerade bei unterstützungsbedürftigen Menschen die digitalen Fähigkeiten (noch) unterdurchschnittlich vertreten sind. Um den Praxistest einzuleiten, wird die Situation alter Menschen in Mönchengladbach erläutert und in die Befragung 65+ im Jahr 2017 in ausgewählten Stadtteilen eingeführt. Die Befragungsergebnisse zeigen Unterschiede im Hinblick auf Barrieren (z.B. fehlende öffentliche WCs, fehlende Ausruhmöglichkeiten, schlechte Wegbeleuchtungen): Gemäß der Rückmeldung zu der Bedeutung der Barrieren wurden die Befragten in 5 Gruppen eingeteilt, um sog. Hinderungsgrade zu definieren. Diese werden mit Daten zur Gerätenutzung korreliert: Bzgl. Smartphone-Nutzung zeigt sich beispielsweise, dass 89,4 % der Menschen, die Barrieren in hohem Maße hinderlich finden, dieses Gerät nie nutzen. Eine der Schlussfolgerungen lautet deshalb, dass App-basierte Lösungen nicht unbedingt hilfreich sind.
Im nächsten Teil geht es um die konkrete Transformation herkömmlichen Stadtmobiliars in smarte Sitzgelegenheiten, in smarte Wegbeleuchtungen, die sich hinsichtlich Farbe und Intensität anpassen können, in smarte Informationsgeber oder in smarte Bushaltestellen. Außerdem geht es um ein adaptives Routing als App. Die Prototypen wurden in Mönchengladbach in zwei Szenarien erprobt. Zur Positionierung des smarten Stadtobjekte (SSO) wurden Simulationsstudien durchgeführt. Als Fazit halten die Autoren*innen fest, dass es für smarte Stadtobjekte vier Herausforderungen gibt: Anpassungsfähigkeit der SSO an die individuellen Bedürfnisse, Mehrbenutzerfähigkeit der SSO, eine Benutzeroberfläche der Endgeräte, die ohne Einweisung funktioniert, und „Joy of use“.
Das Buch schließt mit einem 6. Teil ab, in dem Mustafa Kösebay und Stefan Kirn einen Ausblick geben: Sie führen aus, dass das Zusammenspiel von Menschen und Technik, einen „intelligenten Raum“ schaffe, der sich den Bedürfnissen aller Menschen anpasse. Barrieren können reduziert werden und das Gefühl der Sicherheit im öffentlichen Raum gesteigert werden. Sie zeigen die Verbindung zu smart cities und smart houses auf und betonen die Chancen für generationenübergreifendes Zusammenleben, die „Verschneidung“ von Arbeit, Wohnen und Freizeit sowie digitalen Geschäftsmodellen. Sie sehen dabei sowohl Kommunen als auch Unternehmen in der Verantwortung.
Theoretischer Hintergrund: Durch die fundierte Einführung in das Thema „Teilhabe im öffentlichen Raum“ und die Erläuterungen zu smarten städtebaulichen Objekten wird das Zusammenwirken von Menschen und Technik gerade auch im Alter und für außerhäusliche Aktivitäten transparent.
Fallbeispiele: Die Prototypen an städtebauliche Objekte (SSO) wurden in zwei Szenarien erprobt: Erledigungen des täglichen Bedarfs und Besuch einer Großveranstaltung. Es werden zum Beispiel die SSO entlang eines Wegs durch das Quartier zu einem Ziel (Museum mit Cafe und Laden) beschrieben: Hinweisschild, Parkbank, Beleuchtung und Bushaltestelle.
Empfehlungen für Quartiersinitiativen finden sich indirekt, indem die beiden Fallbeispiele und etliche smarte Objekte beschrieben werden, die eine erste Orientierung für Initiativen vor Ort bieten können.
Vorschläge für Kommunalverwaltungen: Mustafa Kösebay und Stefan Kirn fordern die „infrastrukturelle Andienung des öffentlichen Raums“ durch Glasfaser/WLAN/G5 oder die Bereitstellung von städtebaulichen Mobiliaren und Einrichtungen. Sie sehen hier die Notwendigkeit, einer neuen Strukturierung der öffentlichen Verwaltung.
Diskussion
Das Buch ist gut lesbar sowohl für Menschen aus sozialen wie auch aus technischen Berufen. Die Verbindung des politischen Anspruchs auf „mehr“ Teilhabe im Alter mit technischen Lösungen in der Quartiersentwicklung ist für dieses Feld der sozialen Arbeit neuartig und deshalb eine Bereicherung für alle Interessierten. Die beschriebenen Lösungen sind faszinierend, wenngleich nicht immer überzeugend. Was macht beispielsweise ein alter Mensch, der sich einen Sitzplatz auf einer smarten Parkbank zum Ausruhen auf seinem Weg durchs Quartier reserviert hat, wenn eine Gruppe von Jugendlichen oder Obdachlosen, die Bank bereits nutzt? Auch stellt sich die Frage, wie sich die Kosten, zur Installation von smarten Parkbänken an ausgewählten Orten zu einer hinreichenden Anzahl von herkömmlichen Parkbänken im gesamten Stadtgebiet verhalten würden? Die vorgestellten digitalen Lösungen zur Überwindung/​Abmilderung von Barrieren im Quartier vernachlässigen die Frage, ob die Endgeräte für das smarte Stadtmobiliar von den alten Menschen, aber auch von Familie und Freunden akzeptiert würden.
Fazit
Ziel des Forschungsprojekts „UrbanLife+“ ist es, alten Menschen mit Einschränkungen außerhäusliche Aktivitäten im Quartier durch smartes Stadtmobiliar zu erleichtern sowie entsprechendes Wissen zu generieren. Die Beispiele für smartes Stadtmobiliar (Parkbank, Hinweisschilder, Bushaltestelle und Beleuchtung) zeigen die Chancen der Digitalisierung in der Stadtentwicklung auf und liefern praktische Erfahrungen aus Mönchengladbach.
Rezension von
Carolin Herrmann
Schnittpunkt/Alter (Strategische Projektberatung)
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Zitiervorschlag
Carolin Herrmann. Rezension vom 18.02.2022 zu:
Mustafa Kösebay, Stefan Kirn, Susanne Wallrafen, Jörg Leukel, Fabian Gierl (Hrsg.): Stadt der Zukunft - Smartes Stadtmobiliar für mehr Teilhabe im Alter. medhochzwei Verlag GmbH
(Heidelberg) 2021.
ISBN 978-3-86216-855-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/29026.php, Datum des Zugriffs 05.10.2023.
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